Das Herz von Brüssel habe sich in ein Schlachtfeld verwandelt, sagt der Sky-Reporter am Donnerstagabend und zeigt in seinem Bericht Feuer, Rauchschwaden, Wasserwerfer, zornige Bauern, Polizisten in Kampfmontur. „Umweltregulierungen und billige Importe aus Ländern wie der Ukraine“ würden ihren Lebensunterhalt bedrohen, klagten die demonstrierenden Bauern.

Sie sind aus ganz Europa gekommen. Nach Deutschland und Frankreich hat der europaweite Bauernprotest das Machtzentrum der EU erreicht. Während in den geschützten Innenräumen die Staats- und Regierungschefs beschließen, der Ukraine 50 Milliarden Euro an Nothilfe zu überweisen, brennen vor dem Gebäude Autoreifen, eine Statue wird vom Sockel gestürzt. Als die Politiker wieder abreisen, ziehen die Bauern ab. Und machen anderswo weiter: Am Freitag blockieren belgische und niederländische Bauern den Frachthafen von Zeebrugge, einem wichtigen Umschlaghafen für die Autoindustrie. Die Neuwagen von Tesla, Mercedes und BMW stecken fest, die Stauflächen werden knapp, berichtet Reuters. Der Guardian schreibt, die Bauern müssten gegen einen Verfall der Preise kämpfen, etwa neun Prozent weniger als noch vor einem Jahr bekämen sie für ihre Waren. Die Importe aus anderen Ländern – Chile oder Neuseeland – seien ein „Schreckgespenst“. Besonders in Mittel- und Osteuropa haben „eine Flut billiger Agrarprodukte aus der Ukraine die Preise gedrückt und den Unmut über unlauteren Wettbewerb verstärkt“. Die EU hatte nach dem Einmarsch Russlands auf Quoten und Zölle verzichtet, um der Ukraine zu helfen. In Polen hatte es bereits vor Monaten Grenzblockaden gegeben. Erst als die EU zusicherte, dass ukrainische Waren nicht in Polen verkauft werden, rückten die wütenden Bauern ab und gaben die Grenze frei.

Worum geht es den Bauern im Kern? Läuft da eine Revolution ab, der sich auch die „einfachen Leute“ anschließen könnten, wie der EU-Parlamentarier Martin Sonneborn vermutet? Sind es Rechtsradikale, die die Bauern gekapert haben, wie man in Berlin nach wenigen Stunden behauptet hatte; oder Viktor Orbán, wie Bloomberg raunt? Ist es gar die Agrarlobby, die ihre Pfründe bewahren will und den Regierungen signalisiert, dass die Landwirtschaftsindustrie ihre Privilegien in Form von Steuerbegünstigungen oder Subventionen nicht kampflos aufgeben wird? Es ist jedenfalls eine seltsame Koinzidenz, dass in den Brüsseler Palästen neue Milliardenzahlungen an die Ukraine auf den Weg gebracht werden, während draußen Bauern aus ganz Europa klarmachen, dass es so nicht weitergehen könne.

Martin Sonneborn: Warum ist der Zorn der Bauern für die EU kein Thema?

•vor 1 Std.

Samina Sultan, Ökonomin für europäische Wirtschaftspolitik und Außenhandel am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), sagt der Berliner Zeitung: „Die Proteste der Bauern in Polen haben sicher auch mit der Ukraine zu tun, die Proteste in Deutschland und Frankreich eher nicht.“ Und doch macht sie klar, dass die eben beschlossenen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine kein Spaziergang werden. „Die Aufnahme eines so großen und bevölkerungsreichen Landes wie der Ukraine wird nicht ohne grundlegende Reformen in der EU gehen“, sagt Sultan. Reformen – das sind in der EU in der Regel Verteilungskämpfe um begrenzte Mittel. Sultan ist gemeinsam mit Berthold Busch Co-Autorin einer aktuellen Studie des IW. In der Studie wird untersucht, wie teuer der EU-Beitritt der Ukraine wird. Für einen siebenjährigen Finanzrahmen (MFR) haben die Autoren einen Mehrbedarf im Falle einer Vollmitgliedschaft von rund 130 bis 190 Milliarden Euro errechnet. Die eben in Brüssel verabschiedeten 50 Milliarden Euro sind hier nicht eingerechnet. Sie müssen gezahlt werden, um die Ukraine vor dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren. Noch nicht abzusehen sind außerdem die Folgen, die die Zerstörungen durch die Russen nach sich ziehen werden – verminte Ackerflächen, Umweltschäden, zerstörte Maschinen und Gebäude.

gestern

•heute

31.01.2024

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30.01.2024

Wenn die Ukraine Mitglied der EU ist, werden Agrarsubventionen von geschätzten 68 bis 93 Milliarden Euro über einen Zeitraum von sieben Jahren fällig. Die Subventionen für besonders arme Regionen, die aus der sogenannten „Kohäsionspolitik“ gezahlt werden, liegen bei 50 bis 87 Milliarden Euro. Sultan: „Man kann die höheren Kosten auf verschiedene Weise zu decken versuchen: durch höhere Einnahmen, Kürzungen oder Umschichtungen im Haushalt.“ Zum Vergleich: Deutschland erhält im Zuge des laufenden EU-Haushalts Agrarsubventionen in Höhe von 42,6 Milliarden Euro. Aus der Kohäsionspolitik fließen 18,4 Milliarden Euro nach Deutschland. Die IW-Forscher schlagen vor, „die Kohäsionspolitik nur noch auf die ärmsten Regionen in der EU zu beschränken“. Die Ukraine zähle „wegen des geringen BIP und wegen der Kriegsfolgen mit Sicherheit dazu“. Andere müssten dann verzichten. Samina Sultan: „Die Länder des reichen Nordens, damit auch Deutschland oder Frankreich, würden von der Kohäsionspolitik nicht mehr profitieren.“ Die reichen Länder „müssten die weggefallenen Finanzmittel dann in ihre nationalen Haushalte übernehmen“.

Es scheint, als seien die aktuellen Proteste Vorboten eines beinharten Verteilungskampfes in Europa. Sultan sagt, dass „grundsätzlich genug Geld da“ sei, „um den EU-Beitritt der Ukraine finanziell zu stemmen“. Die Ökonomin sagt: „Im Hinblick auf die Ernährungssicherheit und auch auf bezahlbare Lebensmittelpreise für die Verbraucher ist ein EU-Beitritt der Ukraine sehr in unserem Interesse.“ Der EU-Beitritt der Ukraine sei auch „eine Chance, um längst fällige Reformen durchzuführen“: „In der europäischen Agrarpolitik wurden bisher vor allem die großen Unternehmen gefördert. Man muss klug nachdenken, ob das alles so richtig war.“

Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, sagte am Donnerstag in Washington, die Regierungen würden es bereuen, wenn sie den Forderungen der Bauern nachgeben. Sie habe mit vielen Vertretern von Finanzministerien gesprochen. Diese würden nun sehen, dass staatliche Zahlungen nicht einfach zu beenden seien: „Es ist leicht, zu geben; es ist schwierig, es wieder zurückzunehmen.“

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Proteste der Bauern: Es geht um viel mehr

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03.02.2024

Das Herz von Brüssel habe sich in ein Schlachtfeld verwandelt, sagt der Sky-Reporter am Donnerstagabend und zeigt in seinem Bericht Feuer, Rauchschwaden, Wasserwerfer, zornige Bauern, Polizisten in Kampfmontur. „Umweltregulierungen und billige Importe aus Ländern wie der Ukraine“ würden ihren Lebensunterhalt bedrohen, klagten die demonstrierenden Bauern.

Sie sind aus ganz Europa gekommen. Nach Deutschland und Frankreich hat der europaweite Bauernprotest das Machtzentrum der EU erreicht. Während in den geschützten Innenräumen die Staats- und Regierungschefs beschließen, der Ukraine 50 Milliarden Euro an Nothilfe zu überweisen, brennen vor dem Gebäude Autoreifen, eine Statue wird vom Sockel gestürzt. Als die Politiker wieder abreisen, ziehen die Bauern ab. Und machen anderswo weiter: Am Freitag blockieren belgische und niederländische Bauern den Frachthafen von Zeebrugge, einem wichtigen Umschlaghafen für die Autoindustrie. Die Neuwagen von Tesla, Mercedes und BMW stecken fest, die Stauflächen werden knapp, berichtet Reuters. Der Guardian schreibt, die Bauern müssten gegen einen Verfall der Preise kämpfen, etwa neun Prozent weniger als noch vor einem Jahr bekämen sie für ihre Waren. Die Importe aus anderen Ländern – Chile oder Neuseeland – seien ein „Schreckgespenst“. Besonders in Mittel- und Osteuropa haben „eine Flut billiger Agrarprodukte aus der Ukraine die Preise gedrückt und den Unmut über unlauteren Wettbewerb verstärkt“. Die EU hatte nach dem Einmarsch Russlands auf Quoten und Zölle verzichtet, um der Ukraine zu helfen.........

© Berliner Zeitung


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