Wenn alles abläuft wie geplant, wird Polen Mitte der kommenden Woche eine neue Regierung unter dem früheren Premierminister und Präsidenten des Europäischen Rats, Donald Tusk, haben. Es wird eine Koalitionsregierung aus gemäßigten Konservativen, Liberalen und Linken sein mit einer bequemen Parlamentsmehrheit von 17 Sejm-Mandaten über die absolute Mehrheit hinaus und fast einer Zweidrittelmehrheit im Senat.

Das ist eigentlich nichts Besonderes – solche Regierungswechsel gibt es immer mal wieder in Demokratien. Das Problem hier ist nur: Polen ist keine lupenreine Demokratie mehr und die Tatsache, dass jetzt die Opposition die Regierungsgeschäfte übernimmt, ändert daran nichts.

Ein Land wird ja nicht deshalb zur Demokratie, weil eine pro-europäische und liberale Regierung die Macht von einer nationalistischen und anti-europäischen übernimmt. Nicht einmal Wahlen machen einen Unterschied: Die finden in Diktaturen wie Venezuela, Belarus, Russland oder Zimbabwe auch statt.

Was Demokratien von Diktaturen unterscheidet, sind Institutionen, die dafür sorgen, dass der Staat nicht willkürlich auf seine Bürger einschlagen kann und Regierung und Parlament in die Schranken weisen können, wenn sie ihre Befugnisse überschreiten. Das geht in Polen nicht mehr. Jetzt beginnt an der Weichsel ein weltweit ziemlich einmaliges Experiment – das vielen anderen Ländern eine Lehre sein könnte: eine demokratisch gewählte Koalition demokratischer Parteien versucht, das Land mit undemokratischen Mitteln wieder demokratisch zu machen.

Lkw-Proteste an der Grenze: Die Beziehung zwischen Ukraine und Polen ist in Gefahr

04.12.2023

Polen hat eine neue Regierung für zwei Wochen: Es ist für die Minister lukrativ

29.11.2023

•gestern

07.12.2023

07.12.2023

Bisher gab es jede Menge Fälle, in denen ein Land mit demokratischen Methoden die Demokratie abgeschafft hat – man denke da nur an die Weimarer Republik, an Ungarn nach 2010, die Türkei unter Erdogan oder die vielen afrikanischen Länder, in denen die Wähler „starke Männer“, die geputscht haben, im Amt bestätigt haben.

Natürlich kann man die Demokratie auch mit undemokratischen Methoden abschaffen – Augusto Pinochet, Francisco Franco, General Wojciech Jaruzelski wussten darüber bestens Bescheid. Und dass man ein Land mit demokratischen Mitteln demokratisieren kann, ist eine Binsenweisheit – wie anders soll es denn gehen? Oder kann man die Demokratie auch mit undemokratischen Mitteln einführen?

Diese Frage ist neu. 1945 kam die Demokratie mit den britischen, französischen und US-amerikanischen Befreiern nach Europa und selbst da, wo die zurückkehrenden Exilregierungen keine demokratische Legitimation oder undemokratische Absichten hatten, konnten sie sich nicht durchsetzen.

Nach 1989 gaben die Kommunisten in Mittelosteuropa die Macht freiwillig und friedlich ab (Russland und Rumänien ausgenommen) und verwandelten sich buchstäblich über Nacht in überzeugte Demokraten. Ihnen war schnell klar geworden, dass nichts sie besser vor der Rache der Sieger schützte als demokratische Institutionen, die die Macht der Sieger einschränkten.

Kann sein, dass sich diese Einsicht auch bei der polnischen PiS-Partei durchsetzt – aber im Moment sieht es nicht danach aus. Seit die Partei absehen konnte, dass sie die Wahlen verlieren würde, hat sie sich regelrecht verschanzt und ihren Nachfolgern ein Minenfeld hinterlassen, das nun dabei ist, in Wellen zu explodieren. Und die neue Regierung steht noch vor ihrem Amtsantritt vor dem Dilemma, ob sie das staatliche Monster, das PiS acht Jahre lang erschaffen hat, fesseln und sich selbst zur Machtlosigkeit verurteilen soll oder ob sie das Monster füttern und auf die PiS-Partei hetzen soll. Das ist das Dilemma, vor dem der künftige Ministerpräsident Tusk stehen wird, wenn er die Amtsgeschäfte übernimmt: Er kann ein machtloser Herrscher werden oder das Land mit undemokratischen Mitteln wieder demokratisch machen.

Holt euch Popcorn: Polen hat jetzt zwei Regierungen

24.11.2023

Der politische Streit in Polen ist lange noch nicht zu Ende

12.11.2023

Als Jaroslaw Kaczynski und seinen Getreuen klar wurde, dass sie die Wahlen klar verlieren würden, gründeten sie per Gesetz eine Untersuchungskommission zur Bloßstellung „russischer Einflüsse“ in Polen. Eine Gruppe vom Parlament gewählter externer Experten sollte russische Einflussagenten bloßstellen und ihnen das Ausüben öffentlicher Ämter verbieten können.

Es ist bis heute nicht einmal klar, ob es sich bei dem Gremium um ein Verwaltungsorgan oder ein Gericht handelt, aber seine Entscheidungen sollten unanfechtbar und endgültig sein, seine Mitglieder dagegen niemandem gegenüber Verantwortung tragen. Diese moderne Form der Inquisition tagte ein paarmal vor der Wahl und veröffentlichte dann unmittelbar, bevor die neue Parlamentsmehrheit seine Mitglieder abberief, einen Bericht, in dem es Tusk und einigen anderen prominenten Oppositionspolitikern bescheinigte, russische Einflussagenten zu sein.

Das stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Tatsache, dass sich die von Justizminister Zbigniew Ziobro mit Parteisoldaten besetzte und ferngelenkte Staatsanwaltschaft acht Jahre lang vergeblich bemüht hatte, Tusk irgendeine Straftat nachzuweisen.

Ziobros Staatsanwälte hatten getan, was sie konnten, die Ermittlungen reichten von Betrug und Korruption über Hochverrat und Vetternwirtschaft, aber am Ende war keine einzige Anklageschrift dabei herausgekommen. Der Inquisitions- Bericht sollte, so kurios er war, offenbar als Vorwand für Präsident Duda dienen, die Vereidigung Tusks als Ministerpräsident abzulehnen. Damit hätte Polen mit einer neuen Regierung auch gleich eine neue Verfassungskrise bekommen.

Russland oder Gaza: Das Problem mit Meinungsumfragen

03.12.2023

Annalena Baerbock, mit Realitätsverweigerung tun wir weder Israel noch der Ukraine einen Gefallen

25.11.2023

Allerdings hätte die neue Regierung den Spieß auch umdrehen, das Gremium neu besetzen und dann ausgewählten PiS-Größen das Bekleiden öffentlicher Ämter für zehn Jahre verbieten können. Das lehnte Tusk ab. Und so gab es eine Art Waffenstillstand mit Präsident Duda: der erklärte, er werde Tusk trotz des Kommissionsberichts vereidigen und Tusk verzichtete darauf, PiS in die Grube zu stoßen, die ihm die Partei gegraben hatte.

Zur Zeit gibt es zwar schon eine neue Parlamentsmehrheit, aber noch keine neue Regierung. Duda hat den bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki mit der Regierungsbildung beauftragt, wohl wissend, dass dieser das aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse gar nicht kann. Doch es geht darum, Zeit zu gewinnen, damit sich die PiS-Führung noch tiefer eingraben und alle diejenigen, die Dreck am Stecken haben, noch eine Zeitlang die Aktenvernichter zum Glühen bringen können. Ist die neue Regierung erst einmal im Amt, ist es vorbei mit dem Waffenstillstand.

Für Richterernennungen und Beförderungen in die Höchstgerichte ist in Polen der Landesjustizrat zuständig. Laut Verfassung wird er zur Hälfte vom Parlament und zur Hälfte von Richtervereinigungen gewählt. 2017 verabschiedete die PiS-Parlamentsmehrheit ein Gesetz, nach dem der Rat nur noch vom Parlament gewählt wurde – ein klarer Bruch der Verfassung, den das inzwischen von PiS kontrollierte Verfassungstribunal aber guthieß.

Sowohl der Europäische Gerichtshof als auch der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof sahen das anders: Solche Richter könnten nicht automatisch als unabhängig gelten, ihre Unabhängigkeit müsse überprüft werden. In einem richtungsweisenden Urteil stellte der Oberste Gerichtshof daraufhin Kriterien auf, nach denen das im Einzelfall beurteilt werden muss.

Die Regierung focht das nicht an, sie jagte ein weiteres Gesetz durchs Parlament, mit dem Richtern verboten wurde, diesen Kriterienkatalog anzuwenden. Obwohl vom Obersten Justizrat nach 2017 ernannte Richter also gar keine richtigen Richter sind und ihre Urteile das Recht von Klägern und Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren verletzen, füllten der Oberste Justizrat und Präsident Duda den Justizapparat mit inzwischen über 2000 solcher Richter. Ihre Urteile können angefochten werden, bei internationaler gerichtlicher Zusammenarbeit gelten sie nicht als legitime Richter. Manche ihrer Kollegen verweigerten ihnen die Zusammenarbeit und wurden dann mit Disziplinarverfahren überzogen.

Nancy Faeser, gegen illegale Migration zu kämpfen, heißt, die Reisefreiheit abzuschaffen

18.11.2023

Als politischer Kampfbegriff missbraucht, auch in Bezug auf Israels Agieren in Gaza: Genozid

12.11.2023

Will die Regierung Tusk an das Geld der EU, muss sie den Obersten Justizrat auf den Stand von vor 2017 zurücksetzen und eine Lösung für tausende Richter finden, die in den letzten sieben Jahren dank ihrer Loyalität zur PiS steile Karrieresprünge gemacht haben. Das Problem dabei: Das geht nur per Gesetz, aber jedes Gesetz können Präsident Duda und das Verfassungstribunal blockieren. Den Trick mit der „Kommission gegen russische Umtriebe“ kann die neue Regierung auch nicht wiederholen: Wenn der neue Sejm alle seine Vertreter im Landesjustizrat zurückzieht, kann der keine Entscheidungen mehr fällen – aber dann werden tausende von Lehrstellen im Justizapparat, die die PiS-Reformen hinterlassen haben, nicht besetzt. Denn dafür braucht man, man ahnt es bereits: Präsident Duda.

Die neue Regierung kann nicht darauf rechnen, dass die Günstlinge und Parteikader der PiS einfach aufgeben und nach Hause gehen. Das ist der Unterschied zu 1989: Damals gingen die kommunistischen Parteikader nach Hause, gründeten Firmen und machten Geld. In der PiS können das nur wenige; der Versuch Kaczynskis seiner Partei zu regelmäßigen Einnahmen durch den Bau zweier Wolkenkratzer auf dem Gelände der Parteizentrale zu verhelfen, endete in einem Korruptionsskandal.

Um ihre Kader über Wasser zu halten, braucht die Partei Steuergeld wie ein Ertrinkender Sauerstoff. Deshalb kämpfen Kaczynskis Kader derzeit um jeden Quadratzentimeter Macht. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro, der Hauptverantwortliche für die Justizmisere, brachte kurz vor seinem Abgang noch ein Gesetz durchs Parlament, mit dem er sich als Minister und Generalstaatsanwalt selbst entmachtete und seine Kompetenzen nach unten an von ihm eingesetzte Beamte delegierte, für deren Absetzung sein Nachfolger dann, man ahnt es, wieder die Zustimmung von Präsident Duda braucht. Das entsprechende Gesetz könnte die neue Parlamentsmehrheit natürlich ändern, aber dafür braucht man – das ist leicht zu erraten – die Zustimmung Dudas.

Die ist auch notwendig, um das Gesetz über das Verfassungstribunal zu ändern. Die neue Regierung hat nun vor, den drei illegal vom Sejm ernannten Verfassungsrichtern und deren Nachfolgern einfach die Ernennung zu entziehen. Dafür braucht man Duda nicht, aber selbst wenn diese Richter dann mehr oder weniger gewaltsam aus dem Gebäude entfernt werden, gibt es dort noch immer eine Mehrheit von Juristen, die PiS ihre Karriere und ihr ziemlich erkleckliches Einkommen verdanken.

Tun mussten sie dafür acht Jahre lang nicht viel: Da jeder wusste, dass das Tribunal der Regierung aus der Hand fraß, versiegte der sonst übliche Strom der Verfassungsklagen wie der Amazonas im Klimawandel. Die Richter machten sich erst nach der Wahl wieder etwas energischer an die Arbeit und verabschiedeten eine Welle von Urteilen, die alle die Tatsache gemeinsam haben, dass sie den finanziellen Spielraum der neuen Regierung einengen wollen.

Was immer die neue Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch vorhat – es wird von der Nationalbank konterkariert werden. Deren Chef und die Mehrheit der Mitglieder des Nationalbankrats gingen in ihrer Liebe zur PiS sogar so weit, die polnische Währung bewusst zu schwächen, obwohl sie den Verfassungsauftrag haben, sie zu stärken.

Und sie heizten die Inflation an entgegen dem Auftrag, sie zu bekämpfen. Beides hatte Erfolg: Der Zloty-Kurs hüpfte wie ein Märzhase, die Inflation war zeitweise doppelt so hoch wie in der Eurozone und beides spülte mehr Geld in den Staatshaushalt, in der Regel vor wichtigen Wahlen: eine Zentralbank, die den Machterhalt einer Partei statt die Geldwertstabilität garantiert.

Adam Glapiński, der mit Stand-up-ähnlichen Auftritten vor der Presse regelmäßig Heiterkeit und Kopfschütteln hervorrief, ist der Einzige, der von der neuen Parlamentsmehrheit erfolgreich vor das Staatstribunal gestellt werden könnte. Die von PiS gerade neu ernannte Mehrheit im Nationalbankrat und im Vorstand der Bank würde eine Regierung Tusk so aber nicht los.

Im Obersten Gerichtshof, in dem bisher eine knappe Mehrheit legal ernannter Richter eine Minderheit von illegal gewählten Richtern in Schach hielt, hat Präsident Duda gerade so die Regeln verändert, dass die illegalen nun die legalen überstimmen können. Sie können sich jetzt mit einem höchstrichterlichen Urteil selbst freisprechen und ihre Wahl nachträglich für legal erklären.

Deborah Feldman: „Man darf in Deutschland nur auf bestimmte Art über Israel sprechen“

12.11.2023

Antisemitismus an Berliner Schulen: „Jüdische Schüler fühlen sich alleingelassen“

27.11.2023

Wer also gehofft hatte, mit dem Erdrutschsieg der demokratischen Parteien und dem Amtsantritt der Regierung Tusk werde die Demokratie in Polen wieder erblühen, der wacht bald mit einem ausgewachsenen Kater aus diesem Winternachtsalptraum auf.

Überall im Land haben Männer der PiS-Führung (Frauen haben da traditionell wenig zu sagen) in den letzten Wochen Steuergeld auf die Seite geschafft und in Museen, Zentren, Firmen und Stiftungen gesteckt, aus denen es die neue Regierung nicht mehr zurückholen kann, zum Beispiel weil gegen Satzungsänderungen ein von PiS-Parteigängern dominierter Stadtrat ein Vetorecht hat.

Wer mit dem Antritt der Regierung Tusk Regierung und staatliche Verwaltung verlassen muss, der fällt in ein weiches Bett: Kurz vor seinem Abgang hat Premierminister Mateusz Morawiecki noch einen Bekannten zum Chef der Finanzaufsicht ernannt. Dort können so abgewählte Abgeordnete, abgehalfterte Vizeminister und andere hohe, der Partei verbundene Beamte zwischengelagert werden und auf bessere Zeiten warten. Oder im Präsidialpalast, der Nationalbank, dem Verfassungsgericht oder dem Obersten Gerichtshof.

Sahra Wagenknecht fordert Neuwahlen

02.12.2023

„Alles muss auf den Prüfstand“: Philipp Lengsfeld will mit eigener Liste ins Europaparlament

18.11.2023

Wie die neue Regierung damit umgeht, hat weit über Polen hinaus Bedeutung, denn sie muss dabei ein Dilemma lösen, das es so in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat, aber bald wieder geben könnte. Es war die polnische Regierung, die mit ihrem Veto EU-Sanktionen gegen Ungarn verhindert hat. Diesen Schutzschirm wird die neue Regierung wohl einklappen – und dann wird es für den ungarischen Satrapen, der von EU-Geldern viel stärker abhängt als das bei der PiS der Fall war, sehr, sehr eng. Und wer immer dann dort an die Macht kommt, steht dann vor dem polnischen Dilemma: Wie mache ich mein Land wieder demokratisch, ohne auf undemokratische Mittel zurückzugreifen? Wäre die letzte Präsidentschaftswahl in der Türkei anders ausgegangen, Kemal Kılıçdaroğlu hätte es auch gehabt.

Natürlich kann eine solche Regierung auf die PiS-Methode zurückgreifen und den gordischen Knoten mit dem Schwert zerschlagen. Sie kann unter einem Vorwand den Ausnahmezustand ausrufen und grundlegende Freiheiten einschränken, die gegnerische Partei zerschlagen und verbieten, Richter und Gerichte unter Druck setzen und führenden Vertretern der Besiegten ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können: dass sie heil aus der Sache herauskommen, wenn sie genug Belastungsmaterial gegen ihre früheren Kumpane liefern. Aber welcher demokratische Staatsmann will schon in die Geschichte eingehen als derjenigen, der beim Versuch, die Demokratie zu retten, sie vollkommen abschaffte?

Woran man sieht: Die Gefahr, die populistische, nationalistische und autoritäre Parteien für die Demokratie darstellen, verschwindet durch ihre Abwahl nicht. Der Staat, der durch ihre Machenschaften entsteht, kann hemmungslos durchregieren. Und für eigentlich demokratische Nachfolger ist die Versuchung dann groß, seine gesamte Wucht einfach gegen die bisherigen Machthaber zu richten – und ihnen damit immer ähnlicher zu werden.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - Polen: Wird Donald Tusk zum Autokraten, um den Staat zu reformieren? - Klaus Bachmann
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Polen: Wird Donald Tusk zum Autokraten, um den Staat zu reformieren?

7 33
09.12.2023

Wenn alles abläuft wie geplant, wird Polen Mitte der kommenden Woche eine neue Regierung unter dem früheren Premierminister und Präsidenten des Europäischen Rats, Donald Tusk, haben. Es wird eine Koalitionsregierung aus gemäßigten Konservativen, Liberalen und Linken sein mit einer bequemen Parlamentsmehrheit von 17 Sejm-Mandaten über die absolute Mehrheit hinaus und fast einer Zweidrittelmehrheit im Senat.

Das ist eigentlich nichts Besonderes – solche Regierungswechsel gibt es immer mal wieder in Demokratien. Das Problem hier ist nur: Polen ist keine lupenreine Demokratie mehr und die Tatsache, dass jetzt die Opposition die Regierungsgeschäfte übernimmt, ändert daran nichts.

Ein Land wird ja nicht deshalb zur Demokratie, weil eine pro-europäische und liberale Regierung die Macht von einer nationalistischen und anti-europäischen übernimmt. Nicht einmal Wahlen machen einen Unterschied: Die finden in Diktaturen wie Venezuela, Belarus, Russland oder Zimbabwe auch statt.

Was Demokratien von Diktaturen unterscheidet, sind Institutionen, die dafür sorgen, dass der Staat nicht willkürlich auf seine Bürger einschlagen kann und Regierung und Parlament in die Schranken weisen können, wenn sie ihre Befugnisse überschreiten. Das geht in Polen nicht mehr. Jetzt beginnt an der Weichsel ein weltweit ziemlich einmaliges Experiment – das vielen anderen Ländern eine Lehre sein könnte: eine demokratisch gewählte Koalition demokratischer Parteien versucht, das Land mit undemokratischen Mitteln wieder demokratisch zu machen.

Lkw-Proteste an der Grenze: Die Beziehung zwischen Ukraine und Polen ist in Gefahr

04.12.2023

Polen hat eine neue Regierung für zwei Wochen: Es ist für die Minister lukrativ

29.11.2023

•gestern

07.12.2023

07.12.2023

Bisher gab es jede Menge Fälle, in denen ein Land mit demokratischen Methoden die Demokratie abgeschafft hat – man denke da nur an die Weimarer Republik, an Ungarn nach 2010, die Türkei unter Erdogan oder die vielen afrikanischen Länder, in denen die Wähler „starke Männer“, die geputscht haben, im Amt bestätigt haben.

Natürlich kann man die Demokratie auch mit undemokratischen Methoden abschaffen – Augusto Pinochet, Francisco Franco, General Wojciech Jaruzelski wussten darüber bestens Bescheid. Und dass man ein Land mit demokratischen Mitteln demokratisieren kann, ist eine Binsenweisheit – wie anders soll es denn gehen? Oder kann man die Demokratie auch mit undemokratischen Mitteln einführen?

Diese Frage ist neu. 1945 kam die Demokratie mit den britischen, französischen und US-amerikanischen Befreiern nach Europa und selbst da, wo die zurückkehrenden Exilregierungen keine demokratische Legitimation oder undemokratische Absichten hatten, konnten sie sich nicht durchsetzen.

Nach 1989 gaben die Kommunisten in Mittelosteuropa die Macht freiwillig und friedlich ab (Russland und Rumänien ausgenommen) und verwandelten sich buchstäblich über Nacht in überzeugte Demokraten. Ihnen war schnell klar geworden, dass nichts sie besser vor der Rache der Sieger schützte als demokratische Institutionen, die die Macht der Sieger einschränkten.

Kann sein, dass sich diese Einsicht auch bei der polnischen PiS-Partei durchsetzt – aber im Moment sieht es nicht danach aus. Seit die Partei absehen konnte, dass sie die Wahlen verlieren würde, hat sie sich regelrecht verschanzt und ihren Nachfolgern ein Minenfeld hinterlassen, das nun dabei ist, in Wellen zu explodieren. Und die neue Regierung steht noch vor ihrem Amtsantritt vor dem Dilemma, ob sie das staatliche Monster, das PiS acht Jahre lang erschaffen hat, fesseln und sich selbst zur Machtlosigkeit verurteilen soll oder ob sie das Monster füttern und auf die PiS-Partei hetzen soll. Das ist das Dilemma, vor dem der künftige Ministerpräsident Tusk stehen wird, wenn er die Amtsgeschäfte übernimmt: Er kann ein machtloser Herrscher werden oder das Land mit undemokratischen Mitteln wieder demokratisch machen.

Holt euch Popcorn: Polen hat jetzt zwei Regierungen

24.11.2023

Der politische Streit in Polen ist........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play