Der 10. März 1974 ist ein Sonntag. Die Berliner Zeitung, die zu der Zeit auch an diesem Tag erscheint, titelt mit der nicht gerade Interesse heischenden Schlagzeile „Alle denken mit bei rationellem Einsatz wertvollen Materials“.

Links vom Aufmacher ist ein zweispaltiges Schwarz-Weiß-Bild abgedruckt, das für die Hauptstadt bis heute eigentlich eine Sensation darstellt. Es zeigt die Berliner Eiskunstläuferin Christine Errath, die für die DDR in München Weltmeisterin wurde. Mit gerade einmal 17 Jahren. Es ist ein Erfolg, den ihr bis heute keine andere Berlinerin in der Sportart nachmachen konnte.

50 Jahre nach diesem Ereignis läuft eine zierliche Frau mit blondem Bubikopf und flottem Tempo am Ufer der Dahme in Wildau entlang. Die Hände in den Taschen ihrer roten Jacke vergraben, um dem kalten Wind zu entgehen, plaudert sie wie eine gute Bekannte. Christine Stüber-Errath hat gleich zu Beginn des Treffens vor zwei Tagen lachend das Du angeboten. Ein Wirbelwind, der sie schon seit Kindesbeinen gewesen sein muss, ist sie immer noch. Auch mit 67 Jahren.

Christine Stüber-Errath, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, ist vor 18 Jahren in die Stadt im Berliner Speckgürtel gezogen. „Der Liebe wegen“, wie sie sagt. Obwohl sie zuvor nie gedacht hätte, jemals ihre Geburtsstadt Berlin verlassen zu können.

Nun lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem Kieferorthopäden Paul Stüber, in einem Häuschen mit gepflegten Garten, ist vielen im Ort bekannt – wegen ihrer Vergangenheit als Eiskönigin der DDR und weil sie sich im Bürgerbündnis Wildau kommunalpolitisch engagiert. Bürgerschaftliches Engagement sei für sie „die Grundlage unserer Demokratie“, wie sie sagt.

Der 8. März ist für die einstige Spitzensportlerin nicht nur Frauentag, für sie ist dieser Tag im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Denn genau vor einem halben Jahrhundert hat sie ihren WM-Titel im damals noch anderen deutschen Staat errungen – gegen ihre stärkste Konkurrentin, die US-Amerikanerin Dorothy Hamill.

06.03.2024

•gestern

06.03.2024

•gestern

•vor 5 Std.

Dieser Tag, so sagt sie, habe auch ihr Lebensmotto geprägt, das sich seitdem wie ein roter Faden durch ihre Biografie zieht und das sie immer wieder allen Frauen ans Herz legt: „Es ist nicht schlimm, hinzufallen. Du musst nur wieder aufstehen können.“

Bei der Weltmeisterschaft 1974 hatte sie vor der Kür geführt, doch dann beim dreifachen Toeloop gepatzt. Es war der erste und zugleich schwerste Sprung, und Christine Errath eine der ersten Frauen, die ihn bei der WM in ihrer Kür zeigen wollte.

„Ich war und bin ehrgeizig. Und dieser Sturz war schon ärgerlich, denn erst drei Wochen zuvor war ich mit dem gestandenen Sprung Europameisterin geworden“, erinnert sich Stüber-Errath. Doch beim Eiskunstlauf sei keine Zeit, über einen Sturz nachzudenken, wenn man noch etwas erreichen wolle. So legte sie damals eine ansonsten makellose Kür hin, wurde am Ende doch noch Weltmeisterin.

Eine Dreiviertelstunde nach dem Spaziergang am Ufer der Dahme sitzt Christine Stüber-Errath in einem kleinen Zimmer ihres Hauses, in dem ihre Medaillen von einst liegen. Fanartikel sind zu sehen, gestrickte Puppen, die Schlittschuhe tragen. Und Bilder ihrer Familie und Fotos, die von der Größe der einstigen Spitzensportlerin zeugen: Christine Errath wie schwebend auf dem Eis, auf dem Siegertreppchen, mit Medaille um den Hals. Mehrfach wurde sie DDR-Meisterin, dreimal Europameisterin, einmal Weltmeisterin, und bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck holte sie Bronze.

Christine Stüber-Errath wurde in Hohenschönhausen geboren. Ihre Mutter war Verkäuferin, der Vater Betonbauer. Schon als Kind war sie nach eigenen Angaben hyperaktiv, wäre am liebsten zum Ballett gegangen. Doch eine Kindertanzgruppe gab es nicht in der Nähe.

Eine Freundin nahm die pummelige Fünfjährige eines Tages zur Rollschuhbahn mit. Dort gab es später einen Talentetest fürs Schlittschuhlaufen. Das kleine Mädchen wollte unbedingt Eisprinzessin werden. Die Übungsleiterin nahm sie. „Die kleine Errath ist zwar pummelig, aber ulkig“, soll sie gesagt haben.

Ein Goldgriff: Die junge Eiskunstläuferin nahm an der Kinder- und Jugendspartakiade teil, gewann mehrmals. Mit neun Jahren wurde sie von dem bekanntesten DDR-Sportreporter, Heinz-Florian Oertel, interviewt. Dort sagte das ehrgeizige Mädchen, sie wolle einmal Europameisterin werden. Sieben Jahre später, 1973, wurde sie es erstmals – in Köln.

Dann kam der Frauentag 1974, den sie sich vergoldete. „Erst auf dem Siegertreppchen habe ich realisiert, jetzt bist du die Beste der Welt“, sagt sie heute. Der feierlichste Moment sei für sie die Nationalhymne der DDR gewesen. „Ich habe nicht an den Staat gedacht. Es war mein Moment, es hat was ganz Persönliches.“ In Gedanken sei sie bei ihrer Familie im Osten Berlins gewesen.

Der nächste große Moment sei das Sieger-Interview gewesen, das Oertel mit ihr und Jan Hoffmann, der bei den Männern den WM-Titel für die DDR geholt hatte, geführt habe. Christine Stüber-Errath stockt, als habe sie etwas vergessen.

Dann läuft sie eilig hinaus, kommt mit einem Hefter zurück. „Ich bekomme noch immer Gänsehaut“, sagt sie, als sie von den Telegrammen der begeisterten Fans aus der Heimat erzählt, die in München bei ihrer Rückkehr ins Hotel bereits an der Rezeption lagen. „Ich habe sie alle aufgehoben.“

Sie zieht zwei Telegramme aus dem Hefter. Das erste ist von ihrer Familie. „Herzlichen glueckwunsch. wir sind gluecklich. deine eltern.“, steht darauf. „Aber das hier, und dazu stehe ich, ist auch sehr schön“, sagt Stüber-Errath und zeigt das zweite Papier.

Das Telegramm beginnt mit „liebe sportfreundin christine errath“. Ihr werden die „allerherzlichsten glueckwuensche“ übermittelt. Sie sei ein „anschauliches beispiel für das streben der jungen generation der deutschen demokratischen republik nach hohen leistungen“. Unterzeichnet ist es mit „erich honecker erster sekretaer des zk der sed“.

Nach den Olympischen Spielen von 1976 beendete sie ihre Karriere verletzungsbedingt. Sie brach mit den Funktionären, wurde deswegen von der Reise mit dem Schiff „Völkerfreundschaft“ nach Kuba, zu der alle Medaillengewinner von Innsbruck eingeladen waren, ausgeschlossen.

Doch da war ihr Lebensmotto, das ihr half, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie studierte Germanistik, wurde Moderatorin und Autorin.

Ihre letzte Kür auf dem Eis lief Christine Stüber-Errath elf Tage vor ihrem 60. Geburtstag bei einer Weihnachtsgala im Erika-Heß-Stadion, nach dem Song von Veronika Fischer: „Wenn ich eine Schneeflocke wär“. An ihrer Seite war ein elfjähriges Mädchen, dem sie, wie sie sagt, den Staffelstab übergeben habe.

Noch einmal trat sie ins Rampenlicht, mit dem Film „Die Anfängerin“, der von dem Leben des einstigen Eis-Stars erzählt, 2018 in die Kinos kam und sogar in den USA gezeigt wurde. Darin spielt sie neben Schauspielgrößen wie Annekathrin Bürger und Ulrike Krumbiegel eine Hauptrolle.

Ist es heute ruhiger geworden in ihrem Leben? Christine Stüber-Errath lacht und schüttelt energisch den Kopf. Sie hat ein Buch geschrieben. Es erschien kurz vor ihrem 60. Geburtstag, heißt, wegen der Lebensjahre „Meine erste 6,0“ und spielt auch auf die höchste Punktzahl im Eiskunstlauf an, die sie nie erreicht hat.

Mit der Show zum Buch, in der sie über ihr Leben erzählt und einen Film mit Episoden ihrer einstigen Karriere zeigt, ist sie immer wieder unterwegs. Am 8. März wird sie damit in Wildau auftreten. Die Veranstaltung ist ausgebucht, eine zweite soll demnächst folgen.

Es sei ihr wichtig, dass diese Veranstaltung am Frauentag stattfinde, sagt sie. Damit wolle sie anderen Frauen Mut machen, ihren Weg zu gehen, sich auch bei Misserfolgen oder Umbrüchen nicht unterkriegen zu lassen. Sie sagt auch: „Ich bin traurig darüber und kann es nicht verstehen, dass es selbst heute immer wieder vorkommt, dass Menschen, die in der DDR Großes geleistet habe, zu wenig Wertschätzung erfahren.“

Katarina Witt nimmt Abschied von Jutta Müller: „Bringen Sie den Engeln das Schlittschuhlaufen bei“

13.12.2023

Ost gegen Ost: FDJ-Chef Aurich attackiert seinen Ex-Chef Krenz wegen DDR-Erinnerung

27.02.2024

QOSHE - Eis-Star Christine Stüber-Errath: Warum ihr der Frauentag Gold wert ist - Katrin Bischoff
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Eis-Star Christine Stüber-Errath: Warum ihr der Frauentag Gold wert ist

15 25
08.03.2024

Der 10. März 1974 ist ein Sonntag. Die Berliner Zeitung, die zu der Zeit auch an diesem Tag erscheint, titelt mit der nicht gerade Interesse heischenden Schlagzeile „Alle denken mit bei rationellem Einsatz wertvollen Materials“.

Links vom Aufmacher ist ein zweispaltiges Schwarz-Weiß-Bild abgedruckt, das für die Hauptstadt bis heute eigentlich eine Sensation darstellt. Es zeigt die Berliner Eiskunstläuferin Christine Errath, die für die DDR in München Weltmeisterin wurde. Mit gerade einmal 17 Jahren. Es ist ein Erfolg, den ihr bis heute keine andere Berlinerin in der Sportart nachmachen konnte.

50 Jahre nach diesem Ereignis läuft eine zierliche Frau mit blondem Bubikopf und flottem Tempo am Ufer der Dahme in Wildau entlang. Die Hände in den Taschen ihrer roten Jacke vergraben, um dem kalten Wind zu entgehen, plaudert sie wie eine gute Bekannte. Christine Stüber-Errath hat gleich zu Beginn des Treffens vor zwei Tagen lachend das Du angeboten. Ein Wirbelwind, der sie schon seit Kindesbeinen gewesen sein muss, ist sie immer noch. Auch mit 67 Jahren.

Christine Stüber-Errath, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, ist vor 18 Jahren in die Stadt im Berliner Speckgürtel gezogen. „Der Liebe wegen“, wie sie sagt. Obwohl sie zuvor nie gedacht hätte, jemals ihre Geburtsstadt Berlin verlassen zu können.

Nun lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem Kieferorthopäden Paul Stüber, in einem Häuschen mit gepflegten Garten, ist vielen im Ort bekannt – wegen ihrer Vergangenheit als Eiskönigin der DDR und weil sie sich im Bürgerbündnis Wildau kommunalpolitisch engagiert. Bürgerschaftliches Engagement sei für sie „die Grundlage unserer Demokratie“, wie sie sagt.

Der 8. März ist für die einstige Spitzensportlerin nicht nur Frauentag, für sie ist dieser Tag im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Denn genau vor einem halben Jahrhundert hat sie ihren WM-Titel im damals noch anderen deutschen Staat errungen – gegen ihre stärkste Konkurrentin, die US-Amerikanerin Dorothy........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play