Der Zeuge mit dem weißen Haarkranz ist ein kleiner Mann. Hans-Peter S. ist 83 Jahre alt und mit dem Angeklagten, wie er sagt, nicht verwandt und nicht verschwägert. Er kenne den 80-Jährigen auch nicht, erklärt er an diesem Donnerstag, nachdem er sich ihn angeschaut hat. Und doch soll die beiden betagten Männer etwas verbinden: die Stasi und der gewaltsame Tod von Czeslaw Kukuczka vor fast genau 50 Jahren.

Der 38-jährige Pole Kukuczka wurde am 29. März 1974 am DDR-Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße von einer Kugel tödlich getroffen, als er den dritten Kontrollposten passiert hatte und glaubte, sich den Weg in den Westen erfolgreich freigepresst zu haben. Er hatte zuvor damit gedroht, eine Bombe zu zünden, sollte man ihn nicht ziehen lassen.

Der angeklagte Manfred N., damals Oberleutnant im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), soll den Vater dreier Kinder am Grenzübergang aus dem Hinterhalt heraus niedergestreckt haben – vor den Augen von drei Schülerinnern aus Hessen, die im Prozess bereits als Zeuginnen ausgesagt haben. Kukuczka starb noch am selben Tag im Haftkrankenhaus der Stasi.

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Fünf Jahrzehnte sind eine sehr lange Zeit. Und es verwundert nicht, dass sich Zeugen in dem Prozess am Berliner Landgericht, in dem sich N. wegen Mordes verantworten muss, kaum oder nur noch schemenhaft erinnern können. Einige, die als Zeugen, wenn nicht sogar als mutmaßliche Mittäter infrage kommen könnten, sind längst verstorben. Andere versucht die Staatsanwaltschaft noch immer ausfindig zu machen.

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Hans-Peter S. scheint noch sehr rüstig zu sein. 2010 ist der Hausarzt in den Ruhestand gegangen. Seit kurzem läuft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren: Er und auch der Angeklagte gehören zu den zwölf Stasi-Leuten, die laut Akten der Stasi-Unterlagenbehörde nach Kukuczkas Tod mit Orden ausgezeichnet wurden.

Der Mediziner könnte somit die Aussage verweigern. Doch er schüttelt bei dem Angebot den Kopf und schaut bereitwillig in seine Liste. Er habe so viele Arbeitsstätten gehabt, begründet der Zeuge den Blick auf das vor ihm liegende Papier.

Rund 20 Jahre lang war Hans-Peter S. im Zentralen Medizinischen Dienst des MfS tätig, 1974 arbeitete er als Betriebsarzt in der MfS-Dienststelle in der Schnellerstraße in Treptow. Dort hatte die Hauptabteilung VI ihren Sitz, die sich mit dem grenzüberschreitenden Reiseverkehr befasste.

Der Zeuge erinnert sich, dass er eines Tages während seiner Sprechstunde einen Anruf aus dem Sekretariat des Chefs erhalten habe. Unverzüglich sollte er sich mit dem Sanka, einem Krankenwagen, zum Bahnhof Friedrichstraße begeben. Der Auftrag lautete, eine männliche verletzte Person zum Haftkrankenhaus des MfS nach Hohenschönhausen zu begleiten. Er könne sich deswegen so gut daran erinnern, weil er noch nie einen Patienten dorthin gebracht habe, sagt Hans-Peter S.

Am Bahnhof Friedrichstraße wurde der Verletzte in den Sanka geladen. S. kann nicht mehr sagen, wann er von der Schussverletzung gehört habe. Schon beim Telefonat mit dem Chef oder am Bahnhof oder vielleicht doch erst nach dem Einsatz. „Ist einfach zu lange her“, sagt er entschuldigend.

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Er weiß aber noch, dass die Person ansprechbar war. „Er hat zwar nichts gesagt, aber reagiert“, erzählt der Zeuge. Bestimmt habe er den Blutdruck und Puls kontrolliert. Er gehe zumindest davon aus, weil er das immer machte. Und vermutlich habe er dem Patienten auch Sauerstoff gegeben. „Es sah für mich aber nicht so dramatisch aus.“ Bei der Übergabe im Haftkrankenhaus sei der Verletzte stabil gewesen.

Ob er sich noch an die Verleihung der Medaille der Waffenbrüderschaft in Silber für diesen Einsatz erinnern könne, will Bernd Miczajka, der Vorsitzende Richter, wissen. Immerhin sei das der erste Orden in der Laufbahn des Zeugen gewesen.

Als Hans-Peter S. antwortet, er habe in all der Zeit verschiedene Orden bekommen, und er sehe keinen Zusammenhang zwischen der Auszeichnung und dieser Fahrt, liest ihm der Richter die Begründung für die Ordensverleihung vor: Genosse Hauptmann S. habe alle erforderlichen medizinischen Maßnahmen „nach einer erfolgreichen Abwehr einer schweren Grenzprovokation am 29.3.1974 eingeleitet und dafür Sorge getragen, dass ohne weiteres Aufsehen der normale grenzüberschreitende Verkehr“ habe fortgesetzt werden können.

„Das hört sich nach mehr an“, bemerkt Miczajka. Er habe nichts anderes gemacht, als diesen Einsatz zu fahren, sagt der Zeuge. Auch an Blut kann sich der Mediziner nicht erinnern.

Dabei hatte Czeslaw Kukuczka durch die Schussverletzung eine stark blutende Wunde erlitten und letztlich 3,3 Liter Blut verloren. Das sagt der Rechtsmediziner Lars Oesterhelweg an diesem dritten Verhandlungstag aus. Der 52-Jährige hat die Protokolle der Obduktion von damals analysiert. Otto Prokop, der bekannteste Rechtsmediziner der DDR, hatte zusammen mit seinem Oberarzt die Leiche Kukuczkas untersucht.

Bei der Einlieferung des Toten in der Gerichtsmedizin war den Ärzten erklärt worden, der Betroffene sei „mit einer Bauchschussverletzung in ein Krankenhaus eingeliefert“ worden und dort verstorben, so geht es aus dem Protokoll hervor. Doch die Obduktion ergab, dass das Projektil Kukuczka im Rücken getroffen hatte. „Dadurch wurden Lunge, Zwerchfell, Milz, Magen und Leber verletzt. Es war ein Durchschuss“, sagt Oesterhelweg.

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Könnte der Schuss den Mann auch von vorn getroffen haben, will der Vorsitzende Richter wissen. Oesterhelweg schüttelt den Kopf. Er könne sich keine andere Schussrichtung vorstellen, als die, die vor einem halben Jahrhundert im Obduktionsgutachten festgehalten wurde.

Hätte Kukuczka überleben können, wenn er in die nahe gelegene Charité gebracht worden wäre?, lautet die nächste Frage. Das könne er nicht sagen, antwortet der Rechtsmediziner. Die Prognose für den Mann sei wegen des schnellen Blutverlusts allerdings sehr ungünstig gewesen. Kukuczka war verblutet.

Die nächsten Zeugen werden am 2. Mai gehört.

QOSHE - Arzt im Stasimord-Prozess: „Es sah für mich nicht so dramatisch aus“ - Katrin Bischoff
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Arzt im Stasimord-Prozess: „Es sah für mich nicht so dramatisch aus“

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© Berliner Zeitung


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