Gravierende Veränderungen im Leben der Menschheit, Revolutionen, Umbrüche, Paradigmenwechsel, wissenschaftlich-technische Errungenschaften werden fast immer Männern zugeschrieben: Helden, Revolutionären, Pionieren, Führern, Erfindern, Dichtern, Denkern. Auch kriegerische Auseinandersetzungen waren immer Männersache – vom Trojanischen Krieg in der Antike über die beiden Weltkriege bis zum Krieg in Syrien, in der Ukraine, dem Hamas-Terror und seine gesellschaftsspaltenden Folgen in Gaza: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Krieg wird von Männern gemacht und erzählt. Frauen dagegen bleiben oft unerwähnt. Auch in Geschichtsbüchern.

Und doch sind es immer die Frauen, die auf emotionale Art und Weise wie auf der praktischen Ebene die Bruchstücke zerstörter Lebenswege und Familien, des Alltags, der Beziehungen, der Fürsorge, der Pflege wieder zusammenfügen, funktionstüchtig machen – um das Alltägliche, das Einfache, das so schwer zu machen ist, die Mühen der Ebene also, wie Brecht es sagte, weiterzuführen.

Sarah Entwistle, geboren 1979 in London und studierte Architektin, hat für sich das gegenwärtige zivilisatorische Chaos geordnet, so wie es auch ihre Urgroßmutter Vivienne, die Fotografin war, getan hätte. Deren Briefe an den Sohn Clive Entwistle, einen Architekten – Sarah Entwistles Großvater –, hat Sarah wieder und wieder gelesen und den darin von der Vorfahrin geschilderten Drang zur „transformierenden Veränderung“ in sich aufgesogen – und sie drückt dieses Transformierende aus in metallenen Skulpturen und textilen Installationen unterm milden Oberlicht der Ausstellungshalle der Kreuzberger Galerie Barbara Thumm.

29.01.2024

29.01.2024

29.01.2024

gestern

gestern

Auf dem Hallenboden, an den Wänden liegen und hängen schlauchähnliche löchrige, zerschlitzte oder an verbeulte Rohre erinnernde Gebilde aus dunkel bemaltem Metall oder Keramik. Altären gleichen die rostbraunen und grünschwärzlichen Textiltücher mit geometrischen und gerasterten Mustern. Darunter liegen und stehen auf kleinen Sockeln glänzende Rohrformen, die mal an ziemlich absurde Wasserpfeifen, mal an surreale Leuchter oder Geweihe denken lassen. Es ist schön bizarrer Schrott aus technischen oder häuslichen Installationsvorrichtungen, die ihre alltägliche, pragmatische Funktion verloren haben, verbogen, abgesägt, kurios zusammengeschweißt.

Entwistle hat all diesen Metallschrott auf Müllkippen zusammengesucht, Stahlteile und Keramikröhren in Abrisshäusern, Bronzeguss-Armaturen in Gießereien gefunden und verschafft dem anscheinend wertlos Gewordenen ein neues Leben als Kunst. Sie transformiert es in die Erneuerung, sorgt für eine neue Bedeutung und damit Rehabilitation. Damit stellt sich Sarah Entwistle in eine Reihe mit vielen Künstlerinnen und Künstlern der späten Moderne weltweit, die sich mit Fantasie und ästhetischem Anspruch der fatalen, auf Entropie zielenden Ressourcenverschwendung der unbelehrbaren Wegwerfgesellschaft entgegenstellen.

Hans Vent aus Pankow, Maler der Berliner Schule: Figuren, die sich im Raum behaupten

26.01.2024

Madeleine Roger-Lacan: Das Mädchen, der Tod und die schwarze Katze

21.01.2024

Erneuerung, denkwürdige Umwertung ist unübersehbar Leitlinie in der Kunst der Londoner Wahlberlinerin. Und jedem Teil dieser riesigen, fragmentarisch erzählenden Rauminstallation ist es anzusehen: Entwistle ist fasziniert von der Formbarkeit und Umdeutung von Materialien. Und es hat zu tun mit Architektur und Biografie. Denn sie arbeitet sich seit Jahren intensiv durchs Archiv ihres verstorbenen Großvaters, dem Architekten Clive Entwistle (1916–1976), den sie nie kennengelernt hat. Das Archiv besteht aus unrealisierten Entwürfen und persönlichen Dokumenten; es vermittelt das Bild eines Mannes mit komplexen Ideen und einer esoterischen Ader.

Und über diesen Großvater kommt Sarah Entwistle zum eigentlichen, feministischen Kern ihrer Kunst: zur Urgroßmutter Vivienne, zur Großmutter, zu Tanten und deren Lebensweisheit, dem Talent zum Improvisieren in jeder Lebenslage, in Zeiten von Krisen, Konflikten und auch im Krieg in Europa. Als auch da schon Kunst ein wenig half, das Beste zu hoffen und aus Altem etwas Besseres, wieder Ganzes, Heiles, Neues zu machen.

Galerie Barbara Thumm, Markgrafenstraße 68. Im Kabinett der Galerie ist die Doppelschau „Family of Prime“ des UdK-Professors Thomas Zipp und seines afghanischen Malerkollegen Kabul zu sehen. Bis 24. Februar, Di–Sa 11–18 Uhr.

QOSHE - Wie die Künstlerin Sarah Entwistle mit ihrer Urgroßmutter in den Dialog tritt - Ingeborg Ruthe
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Wie die Künstlerin Sarah Entwistle mit ihrer Urgroßmutter in den Dialog tritt

7 0
31.01.2024

Gravierende Veränderungen im Leben der Menschheit, Revolutionen, Umbrüche, Paradigmenwechsel, wissenschaftlich-technische Errungenschaften werden fast immer Männern zugeschrieben: Helden, Revolutionären, Pionieren, Führern, Erfindern, Dichtern, Denkern. Auch kriegerische Auseinandersetzungen waren immer Männersache – vom Trojanischen Krieg in der Antike über die beiden Weltkriege bis zum Krieg in Syrien, in der Ukraine, dem Hamas-Terror und seine gesellschaftsspaltenden Folgen in Gaza: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Krieg wird von Männern gemacht und erzählt. Frauen dagegen bleiben oft unerwähnt. Auch in Geschichtsbüchern.

Und doch sind es immer die Frauen, die auf emotionale Art und Weise wie auf der praktischen Ebene die Bruchstücke zerstörter Lebenswege und Familien, des Alltags, der Beziehungen, der Fürsorge, der Pflege wieder zusammenfügen, funktionstüchtig machen – um das Alltägliche, das Einfache, das so schwer zu machen ist, die Mühen der Ebene also, wie Brecht es sagte, weiterzuführen.

Sarah Entwistle, geboren 1979 in London und studierte........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play