Der Berlin-Mythos von den Goldenen Zwanzigern schwoll bekanntlich nach 1990 zu einem Pathos-Ballon aus heißer Luft und anarchischer Utopie an. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung brach eine Art Klondike-Fieber aus. Das war, als in den Brachen der ramponierten sozialistischen Planwirtschaft im Osten und im Niemandsland der einstigen Frontlinie die Claims abgesteckt wurden. Als die Investoren und die Gentrifizierer kamen und es zugleich massenhaft Künstler und Galeristen an die Spree zog.

Obwohl der Vergleich hinkte, wurden vor 34 Jahren die „goldenen“ 1920er-Jahre euphorisch beschworen als eine Zeit, wo alles möglich schien. Gerade auch die ersten vier Berlin-Biennalen seit 1998 zehrten auf ihren Kunst-Parcours von den legendären Geschichten des kreativen Chaos, vom verrucht-verrückten „Tanz auf dem Vulkan“ der Weimarer Republik. Deren fatales Ende 1933 war kaum Thema.

Vor 100 Jahren, gerade in Berlin, kam nach den Jahren des hochemotionalen Expressionismus ein neuer Stil auf. Er bekam den Namen „Neue Sachlichkeit“, 1924 erfunden vom Museumsmann Gustav Friedrich Hartlaub, 1925 manifestiert in der großen Mannheimer Ausstellung. Diese neue Kunst wies alle Spielarten auf – vom gemalten, fotografierten Bild über Mode und Sport, Musik, Film und Literatur.

Und alles schien zu sagen: Die Wirklichkeit beginnt jetzt! Diese Wirklichkeit wurde kühl, klar, schlicht, schnörkellos, unromantisch, ja, funktionalistisch wiedergegeben. Auch sozialkritisch, sezierend, veristisch zugespitzt bis zur Groteske von Malern wie Otto Dix, so im Gemälde „Skatspieler“ und in George Grosz’ „Stützen der Gesellschaft“ – zwei Kronjuwelen der Neuen Nationalgalerie. Meisterwerke malten auch Jeanne Mammen und Alexander Kanoldt. Und Fotografen wie Albert Renger-Patzsch, August Sander, Karl Blossfeldt schufen nüchterne Ding-Analysen. Aber auch das beunruhigend Surreale, verstörend Magische drang in die Bildwelten etwa von Rudolf Schlichter und Franz Radziwill ein.

12.04.2024

gestern

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Charakteristisch fürs Neusachliche ist eine abgehärtete, objektive Betrachtung der politischen und gesellschaftlichen Situation. Und deren tabulose Wiedergabe mitten in der Weltwirtschaftskrise bei krasser Inflation (ein US-Dollar entsprach 4,2 Billionen Mark). Ein Balancieren überm Abgrund ist zu sehen: Das dekadente Leben der oberen Zehntausend, die Halbwelt, das Elend der Obdachlosen, Arbeitslosen, Armen in der erbarmungslosen Großstadt, dargestellt als alles verschlingender Moloch. Und das den morgigen Tag vergessen machende Nachtleben im Sündenbabel Berlin mit Revuen, Jazz und Charleston.

Gleichsam zur Ikone der Neuen Sachlichkeit machte der Maler Christian Schad 1928 das faszinierende Bildnis der „Sonja“ (Sammlung Neue Nationalgalerie). Gemalt ist es wie eine Referenz an Porträts der Renaissance. Die geheimnisvoll ernst blickende Frau mit dem Bubikopf ist androgyn, herb-schön, chic, trendy. Sie trägt das kleine Schwarze von Coco Chanel, das die Modedesignerin kurz zuvor in Paris entworfen hatte. Schads Modell war eine kosmopolitische Berlinerin, tagsüber Sekretärin, nachts coole Barbesucherin, bevorzugt im Romanischen Café, dem legendären Künstlertreff. Links hinter ihr sitzt der angesagte Schriftsteller Max Hermann-Neiße, daneben ein Pianist. Doch beide Männer malte Schad stark angeschnitten, lediglich als Dekor dieser zeitgemäßen „Neuen Frau“ aus der Berliner Boheme.

Oskar Nerlinger, ein linker Künstler aus dem Kreis von Herwarth Waldens avantgardistischer „Sturm“-Galerie und Mitglied der Gruppe „Die Zeitgemäßen“, malte mit dem funktionalistischen Bild „An die Arbeit“ den durch Mechanisierung hart optimierten Alltag der Industriearbeiter auf der Kehrseite des Kapitalismus. Und doch hoffte er auf eine bessere neue Welt durch technischen und gesellschaftlichen Fortschritt. Damals kam der Tonfilm in die Kinos. Lindbergh hatte 1927 mit Bravour den Atlantik überflogen, die Bild-Telegraphie Berlin–Wien funktionierte. Und der futuristische Funkturm im Berliner Westend war bei seiner Eröffnung 1926 der erste und höchste Sendeturm im Land, das Symbol für moderne Massenkommunikation.

Und so drückt Nerlingers utopistisches Motiv „Funkturm und Hochbahn“, 1929 (Sammlung Neue Nationalgalerie), den Zukunftsglauben mitten in der schlimmsten Rezession in dramatischer Untersicht aus: Dynamik als Gestaltungsprinzip, die roten Linien des Stahlgerüsts verjüngen sich, das Hochhaus vis à vis überragend, über der Aussichtsplattform. Deren Krümmung spiegelt die Kurve einer fiktiven Hochbahntrasse. Der kommunistisch gesinnte Künstler wurde, das nur nebenbei, 1951 an der West-Berliner HdK als „Roter Professor“ aus dem Amt gejagt und ging in die DDR. Aber auch dort blieben seine Visionen unerfüllt. Dass auf dem Alexanderplatz bis 1969 der 368 Meter aufragende Fernsehturm (220 Meter höher als der Funkturm am Westend) in den Himmel wuchs, hat er noch registriert, aber er starb im gleichen Jahr.

Als „Spiegel der Gesellschaft“ in ruhelosen Zeiten der nationalen wie der Weltwirtschaftskrise, zwischen zwei verheerenden Weltkriegen, ging die Neue Sachlichkeit mit all ihren Facetten in die deutsche und im Besonderen in die Berliner Kunstgeschichte ein. Für Hitler und Konsorten war es – nach dem Expressionismus – der bestgehasste Stil, als „entartet“ verfemt, verboten, zerstört, verhökert für Devisen. Der Bannstrahl traf aber nicht nur die Bildkunst, sondern ebenso die Bühnenkunst, die Musik und die Gesellschaftsanalysen von Kisch, Döblin, Fallada oder Feuchtwanger.

Welche Kunst braucht eine Gesellschaft in der Krise? Diese Frage beschäftigte bereits die Künstler und Künstlerinnen der Neuen Sachlichkeit vor 100 Jahren. Antwort auf ihre Weise geben all die markanten Bilder dieses markanten Stils in den Sammlungen der Neuen Nationalgalerie, der Berlinischen Galerie, des Stadtmuseums, wo 2015/16 die Schau „Tanz auf dem Vulkan“ so viele dieser Geschichten erzählte.

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Kritik an Berlins „Goldenen“ Zwanzigern: Vor 100 Jahren zeigte die Neue Sachlichkeit den „Tanz auf dem Vulkan“

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14.04.2024

Der Berlin-Mythos von den Goldenen Zwanzigern schwoll bekanntlich nach 1990 zu einem Pathos-Ballon aus heißer Luft und anarchischer Utopie an. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung brach eine Art Klondike-Fieber aus. Das war, als in den Brachen der ramponierten sozialistischen Planwirtschaft im Osten und im Niemandsland der einstigen Frontlinie die Claims abgesteckt wurden. Als die Investoren und die Gentrifizierer kamen und es zugleich massenhaft Künstler und Galeristen an die Spree zog.

Obwohl der Vergleich hinkte, wurden vor 34 Jahren die „goldenen“ 1920er-Jahre euphorisch beschworen als eine Zeit, wo alles möglich schien. Gerade auch die ersten vier Berlin-Biennalen seit 1998 zehrten auf ihren Kunst-Parcours von den legendären Geschichten des kreativen Chaos, vom verrucht-verrückten „Tanz auf dem Vulkan“ der Weimarer Republik. Deren fatales Ende 1933 war kaum Thema.

Vor 100 Jahren, gerade in Berlin, kam nach den Jahren des hochemotionalen Expressionismus ein neuer Stil auf. Er bekam den Namen „Neue Sachlichkeit“, 1924 erfunden vom Museumsmann Gustav Friedrich Hartlaub, 1925 manifestiert in der großen Mannheimer Ausstellung. Diese neue Kunst wies alle Spielarten auf – vom gemalten, fotografierten Bild über Mode und Sport, Musik, Film und Literatur.

Und alles schien zu sagen: Die Wirklichkeit beginnt jetzt! Diese Wirklichkeit wurde kühl, klar, schlicht, schnörkellos, unromantisch, ja, funktionalistisch wiedergegeben. Auch sozialkritisch, sezierend, veristisch zugespitzt bis zur Groteske von Malern wie........

© Berliner Zeitung


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