Draußen: Am Pariser Platz tobt das Touri-Leben samt Selfie-Sucht. Junge Radler fahren auf den Hinterrädern artistisch, aber rigoros durch die kreischende Menge. Skater jagen auf E-Boards hinterher. Ältere Leute springen erschrocken zur Seite. Drüben vor dem Akademie-Gebäude nervt ein Typ mit seinem Hare-Krishna-Mantra aus der Bass-Box. Mädchen in Tüllröcken und mit Engelsflügeln tanzen dazu im Kreis. Verrückte dieser Welt scheinen sich hier zu treffen.

Drinnen: Im einstigen Wohnhaus und Atelier Max Liebermanns (Besuchern wies er seinerzeit den Weg mit den Worten: „Wenn’se nach Berlin reinkommen, gleich links.“) herrscht Stille in nachthimmelblauer Dunkelheit. Die tiefblau gestrichenen Wände zieren Bilderreihen mit Zeichnungen, Collagen, mathematischen Zeichen und philosophischen Textfragmenten, überschrieben mit „Contemplation“: Es sind lauter akribisch feine, rätselhafte Notationen, typisch Jorinde Voigt. Kunstkenner nennen die Arbeiten der seit Kindertagen auch Violoncello und Klavier Spielenden (ihr Lieblingskomponist ist Beethoven) „Partituren ihres Lebens“ oder auch „Interpretationen ihrer Umwelt“.

Die dunkle Tiefe der einstigen Residenz und der Werkstatt von Berlins berühmtestem Maler der frühen Moderne wird von den feingliedrigen goldschimmernden Skulptur-Gehängen aus Messingketten erhellt. Die Komposition dieser „Mobiles“ basiere, so gibt Jorinde Voigt Erklärungshilfe, auf der Fibonacci-Folge. Die Proportionen dieses mathematischen Systems finden sich in der Natur als spiralförmige Strukturen, etwa in der Anordnung der Samen von Blumen, bei Tannenzapfen und der Blumenkohlsorte Romanesco. So will sie es: „Kunst verzahnt Natur und Universum, Impuls mit Akribie, Chaos mit Ordnung, Wissenschaft mit Poesie, Rhythmus und den Lärm der Welt mit Stille.“

Man hat das Gefühl des tiefen Eintauchens in einen Raum, dessen Grenzen sich aufzulösen scheinen. Immersion heißt das im theoretischen Sprachgebrauch des heutigen Kunstbetriebs. Die Umwelt wird Teil des Selbst und umgekehrt. Jorinde Voigt nennt ihre Ausstellung in Liebermanns einstigem Haus – zum Kriegsende 1945 völlig zerbombt und nach der Wiedervereinigung 1990 als Sitz der Stiftung Brandenburger Tor wieder aufgebaut – „Constant Vision“.

•vor 45 Min.

•gestern

04.04.2024

04.04.2024

•gestern

Der Titel ist unschwer deutbar als ihr Traum von Kunst. Seit die 1977 geborene Künstlerin aus Frankfurt am Main nach ihrem Studium der Philosophie in Göttingen, dann der Soziologie und Literaturwissenschaft an der FU Berlin, danach der Kunst an der UdK bei Christiane Möbus und später als Meisterschülerin von Katharina Sieverding 2004 endgültig Berlinerin wurde, gab es frappierende Ausstellungen. Zu sehen, zu erleben war da schon immer, wie elementar ihre analytisch-konzeptuelle Herangehensweise ist. Jorinde Voigt erarbeitete sich eine grundlegende Handlungsweise, auf der jedes ihrer Werke basiert.

Auf bildnerisch-philosophische Weise macht sie auf großen Papierbögen und immer öfter auch auf großen Leinwänden farbintensiv, mit Vogelfedern und Blattgold naturwissenschaftliche wie kulturelle und gesellschaftliche Phänomene deutlich. Niederschriften ihrer Weltbeobachtungen, die im freien Raum zu schweben scheinen als virtuose energetische Exkursionen und Tänze der Linien über atmosphärischen Farbflächen. Es ist die Symbiose von Graphitspuren mit dem Rhythmus der Pinselschläge, die Zähmung von Anarchie – so konzeptionell wie sinnlich. Nichts wirkt statisch, sondern alles bewegt, ohne Anfang und Ende – eben als „Constant Vision“.

Und neuerdings, das macht die Künstlerin, die an der Kunsthochschule Hamburg lehrt, jetzt in den Liebermann-Räumen deutlich, wendet sie sich ganz ab vom äußeren Geschehen. Sie offenbart ihre inneren Bilder und Vorstellungswelten als konzeptionelle „Denk-Modelle“, formt skulpturale Objekte, mal biomorph, wie der Natur entnommen, mal technoid, als seien es Schiffsschrauben. Sie möchte bei uns Betrachtern „eine ganz besondere Art und Weise der Wahrnehmung auslösen“. Doch ohne dass wir für diese Gebilde konkrete Bezeichnungen oder auch nur Vorbilder in der Kunstgeschichte finden könnten.

Seien es die zarten Ketten, die schwerelos schwebenden Ringe der Messing-Mobiles oder ihre ineinander fliegenden Zeichner-Striche auf den weißen Papierbögen – alles reiht sich enigmatisch und doch zugleich sinnfällig zu Geschichten voller Poesie und auch Erotik. Jorinde Voigt erzählt, eben nur ohne Anfang und Ende. Wir Betrachter sollen uns die Geschichten zu den Bildern und Gebilden selber ausdenken. Assoziationen werden lediglich angeregt: da ein Stichwort, dort eine vage Form, hier eine Andeutung, dort ein Erkennen.

Die Künstlerin fordert uns zu einer unaufgeregten, fast meditativen Interaktion heraus: „sehen-denken-fühlen“. Jorinde Voigt inszeniert sozusagen einen Raum für unsere Gedanken und Emotionen, die, wenn wir uns nur darauf einlassen, schwerelos herumfliegen können.

„Constant Vision“, Atelier Liebermann, Stiftung Brandenburger Tor, Pariser Platz 7, bis 9. Juni, Do–So 11–18 Uhr

QOSHE - Jorinde Voigt: Die wohl rätselhafteste Künstlerin Berlins im Liebermann-Atelier - Ingeborg Ruthe
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Jorinde Voigt: Die wohl rätselhafteste Künstlerin Berlins im Liebermann-Atelier

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06.04.2024

Draußen: Am Pariser Platz tobt das Touri-Leben samt Selfie-Sucht. Junge Radler fahren auf den Hinterrädern artistisch, aber rigoros durch die kreischende Menge. Skater jagen auf E-Boards hinterher. Ältere Leute springen erschrocken zur Seite. Drüben vor dem Akademie-Gebäude nervt ein Typ mit seinem Hare-Krishna-Mantra aus der Bass-Box. Mädchen in Tüllröcken und mit Engelsflügeln tanzen dazu im Kreis. Verrückte dieser Welt scheinen sich hier zu treffen.

Drinnen: Im einstigen Wohnhaus und Atelier Max Liebermanns (Besuchern wies er seinerzeit den Weg mit den Worten: „Wenn’se nach Berlin reinkommen, gleich links.“) herrscht Stille in nachthimmelblauer Dunkelheit. Die tiefblau gestrichenen Wände zieren Bilderreihen mit Zeichnungen, Collagen, mathematischen Zeichen und philosophischen Textfragmenten, überschrieben mit „Contemplation“: Es sind lauter akribisch feine, rätselhafte Notationen, typisch Jorinde Voigt. Kunstkenner nennen die Arbeiten der seit Kindertagen auch Violoncello und Klavier Spielenden (ihr Lieblingskomponist ist Beethoven) „Partituren ihres Lebens“ oder auch „Interpretationen ihrer Umwelt“.

Die dunkle Tiefe der einstigen Residenz und der Werkstatt von Berlins berühmtestem Maler der frühen Moderne wird von den feingliedrigen........

© Berliner Zeitung


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