Im Jahr 2011, es war im nassen, kalten Herbst, hatte sie die Kamera weggestellt. Endgültig und gelassen: Menschen, Jahre, Leben. Helga Paris sagte, sie habe „alles gesehen, alles fotografiert und registriert“. Sie will, sie kann nichts wiederholen. „Die Erregung ist weg“, erklärte sie, „in mir ist es still und friedlich, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.“

Acht Jahre später, wieder im Herbst, begegnete die Grande Dame der Fotografie im längst verschwundenen Land DDR sich selbst. Sachte, zögerlich fast ging die nach wie vor zart und anmutig wirkende damals 81-Jährige auf ihre eigenen Bilder zu, die für ihre große Werkschau an den Saalwänden der Akademie der Künste am Pariser Platz, zu deren Mitglied sie im Jahr 1996 berufen worden war, aufgereiht waren. Alle nach Themen und Serien gruppiert. Sämtliche 275 Aufnahmen hatte sie konsequent in Schwarz-Weiß gemacht, mit Kontrasten, mit Schatten und poetischen Nebelfeldern, in die die Konturen der Städte und des Lebens einzusickern scheinen.

Diese Bilder, längst erschienen in der Zeitschrift Magazin und anderen Periodika, erzählten Geschichten – fröhliche, traurige, herbe, harte, witzige Begegnungen, die beim Betrachten wieder aufleuchten. Ein Schwarz-Weiß in allen Farben dieser Welt, Zeugnisse eines Alltags in Städten und Dörfern, den Helga Paris geduldig beobachtete – und bannte.

Welches Glück, für die Gesellschaft und für die fotografische Kunst, dass es diese Aufnahmen gibt. Gerade kam die Nachricht, dass Helga Paris, eine der letzte großen Fotokünstlerinnen der ehemaligen DDR, am 5. Februar in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg in den Armen ihrer Tochter Jenny, die sie über viele Wochen gepflegt hat, friedlich eingeschlafen ist. Im Mai wäre sie 86 Jahre alt geworden. Helga Paris war eine so genaue wie sensible Chronistin ihrer Zeit. Und alle Negative ihrer unvergleichlichen Aufnahmen hat sie noch als Zeitzeugenschaft dem Archiv der Akademie der Künste übergeben.

gestern

04.02.2024

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04.02.2024

Helga Paris, Tochter eines Schriftsetzers, kam 1938 im pommerschen Gollnow (Goleniów) zur Welt, und sie wuchs auf in Zossen bei Berlin. Nach der Oberschule studierte sie Modegestaltung an der Ost-Berliner Fachschule für Bekleidung, arbeitete bei Treff-Modelle, später als Fotolaborantin. Ende der 1960er-Jahre begann sie zu fotografieren. Sie war verheiratet mit dem bekannten Maler Ronald Paris, die Ehe zerbrach, als die beiden Kinder noch klein waren: Jenny und Robert. Beide sind Künstler geworden, die Tochter macht in Berlin, in einem Werkstattladen in der – wie passend – Pariser Straße, wundervollen modernen Schmuck, der Sohn lebt als Fotograf in Indien.

Es bleibt so viel von Helga Paris. So auch das zwölfteilige Tableau ihrer Selbstbefragung von 1981 bis zum Mauerfall: Sie fotografierte sich prüfend selber während der Götterdämmerung des Realen Sozialismus. Ihre strengen, ernsten „Selfies“ von damals vermittelten ein Seismogramm der Stimmungslagen, der Erschöpfung, der Zweifel und Hoffnungen des immer wieder Zusammenraffens der Kräfte. Weiter, weiter. Irgendwie. War das in diesem fast zerbrechlichen Gesicht zu lesen, dass sie eine alleinerziehende Mutter war? Künstlerin im Mauerland, im Mangelland, die den Alltags-Marathon, auch wegen der normalsten Dinge, laufen musste. Und es klaglos tat?

„Trotzdem habe ich mich in meiner Arbeit frei gefühlt“, sagte sie, als die Stadt Berlin ihr 2004 den Hannah-Höch-Preis verlieh und die Berlinische Galerie einen großen Teil ihres Foto-Werkes ausbreitete. „Ich habe fotografiert, was ich sah, mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit.“ Es waren kleine Leute und Prominente aus der Welt der Kunst, des Theaters, der Literatur wie Sarah Kirsch und Christa Wolf. Es bleiben die geradezu zärtlichen Porträts der Nachbarn von einst, im Winsviertel von Prenzlauer Berg, wo sie seit den 1970ern in einer mit Kunstbänden, Fotografien und Kästen mit Negativen vollgestopften Altbauwohnung lebte. Es bleiben auch die einzigartigen Aufnahmen der spielenden und vor der Kamera posierenden Kinder aus dem Kiez. Und die Porträts der Arbeiterinnen aus dem Textilkombinat Treff- Modelle in Prenzlauer Berg, die in keiner Schau über die Arbeitswelt der DDR fehlen dürfen.

Es steckt so viel Achtung, ja, Liebe in den Aufnahmen der zutraulichen, Schüchternheit, aber auch Selbstgewissheit ausstrahlenden Bildnissen der Arbeiterinnen, der älteren wie der jungen, in ihren geblümten Kittelschürzen. Und in den Porträts der Müllkutscher, der Kohlemänner, des Bäckers und Metzgers aus ihrer Straße. Und sie fotografierte die Leute in den Eckkneipen, damals die Kiez-Wohnzimmer, wo jeder Geburtstag, jedes Neugeborene, jedes Arbeitsjubiläum zusammen gefeiert wurde. All diese Leute hat Helga Paris kunstwürdig gemacht. Nicht zu vergessen die niedlichen, verträumten Ost-Berliner Punks, zu denen auch ihre beiden Kinder, immer wieder ihre liebsten Modelle, als Teenager gehörten. Und der Schulfreund ihres Sohnes Robert, der heute berühmte Kultfotograf und Berghain-Türsteher Sven Marquardt. Bei ihr hatten die beiden Jungs die Grundlagen des Fotografierens erlernt.

Nach fotografischen Vorbildern befragt, erwiderte sie in einem Gespräch in ihrem Refugium, hätten die Filme der italienischen Neorealisten, des Russen Sergej Eisenstein und das französische Nachkriegskino (sie sah die Filme vor dem Mauerbau von 1961 in West-Berlin) großen Eindruck auf sie gemacht. Hinzu kam das Theater – DT, Berliner Ensemble, Gorki. Anders als namhafte und bewunderte ostdeutsche Fotografenkollegen – Arno Fischer, Sibylle Bergemann oder die Leipziger Grand Dame der Fotografie, Evelyn Richter –, orientierte Helga Paris sich nicht an Klassikern des Metiers wie Cartier-Bresson, Robert Frank oder Brassaï. Inspiriert haben sie eher existenzielle Gemälde, von Max Beckmann und Edward Munch. „Ebenso beeindruckt haben mich die Amateurfotos aus Familienalben, diese banalen, unspektakulären Alltagsszenen“, so komplettierte sie ihre Wahlverwandtschaften.

Da bleiben die Serien: vom geliebten Alexanderplatz mit all seiner Ruppigkeit, den abgeranzten Ecken. Fotos vom Leipziger Hauptbahnhof um 1980. Die Mitropa-Gaststätte im vernutzten Jugendstil-Ambiente war sozusagen zweite Heimat der Studenten, NVA-Soldaten und Dienstreisenden aller Couleur. Und ausgerechnet den bestaussehenden und lustigsten Kellner, bei dem wir Journalistik-Studenten in der Messestadt einst in den Achtzigerjahren vor der Heimfahrt oder bei Zugverspätungen den Kaffee bestellten, den hat Helga Paris, diese Meisterin der poetischen Tristesse, so zärtlich wie originell porträtiert. Für die Ewigkeit.

Später reiste sie weiter weg als bloß nach Leipzig oder Halle, wo sie liebevoll Leute vor den morbiden Fassaden der verfallenden Altbausubstanz porträtierte, geradezu zur Ikone wurde eine korpulente Frau um die sechzig, die vor der morbiden Häuser-Kulisse die riesige, spitze schwarze Feder eines exotischen Vogels vor sich trägt, als sei sie eine Zauberin. Diese ambivalenten Halle-Aufnahmen bekamen prompt Ausstellungsverbot, also zeigte Helga Paris die am Lack des hehren sozialistischen Aufbaus kratzende Serie zunächst nur privat bei Freunden. In den späten 80er-Jahren änderte sich der Blick auf solche Motive. Die Wahrheit und der Zweifel an den verheuchelten Verlautbarungen der Machthaber vom Sieg des Sozialismus ließen sich einfach nicht mehr verstecken und beschönigen.

Damals kam sie auch mal raus aus der DDR, in den Osten raus, nach Siebenbürgen, wo sie Roma-Familien fotografierte. Und später war ihre Kamera bei Treffen von Kriegsveteranen, in Moskau und ausnahmsweise sogar auch einmal in New York dabei, als einstige Soldaten und Offiziere der Alliierten Armeen sich trafen, die Deutschland von Hitler befreit haben.

Helga Paris’ Kamerablick vermochte die psychologischen Verkrustungen zu durchdringen, alle die Verwerfungen und Verschüttungen. Der Blick sagt: „Von da komm’ ich her. Hier kenn’ ich mich aus.“ Er holt den Einzelnen heraus aus der Masse und gibt ihm Persönlichkeit. Bei ihr zeigen die Porträtierten, wie ihnen zumute ist. Die Bilder sprechen von Erfahrungen und von Gefühlen. Und irgendwie hat alles mit ihrer eigenen Biografie zu tun, mit ihrem Leben in der großen, bis November 1989 geteilten Stadt. Denn den Alltagshintergrund teilte sie mit den von ihr porträtierten Frauen, Männern, Kindern. Paris stand für eine Fotokunst, die nicht nach dem Ausnahmemoment, nach Effekt und schönem Schein jagte.

Statt auf Überrumpelung setzte sie immer auf Kommunikation. Erst redete sie mit den Leuten, die sie für ein Foto gewinnen wollte. Waren sie einverstanden, verloren sie das Misstrauen. Dann konnte die Kamera forschen in den Gesichtern und Ambientes. Und nein: Bei Helga Paris musste niemand „optimistisch in die Zukunft“ strahlen.

Helga Paris: „Von da komm’ ich her. Hier kenn’ ich mich aus“

17.09.2020

Valie Export im C/O Berlin: 12 Sekunden Brüste betatschen, mehr gibt’s nicht!

28.01.2024

Wie kommt man Menschen so nahe wie möglich, ohne ihnen auf den Pelz zu rücken? Diese Quadratur des Kreises hat sie für sich und ihre Kleinbildkamera mit Empathie gelöst. „Ich habe Vertrauen aufgebaut“, erzählte sie damals an ihrem Wohnzimmertisch in Prenzlauer Berg, „ich hab den Leuten gesagt: Ihr müsst nichts machen, was Ihr nicht wollt.“ Auf diese geduldige, stille, abwartende, auch ermutigende Weise erkundet sie Gesichter, Haltungen, spontane Gesten oder Posen, ohne zu belästigen. Es ist eine behutsame, immer die nötigen Zentimeter Distanz wahrende und mit Geduld gepaarte Hartnäckigkeit, die ihre Bilder vom Menschen hervorgebracht hat. Es ist eine starke und zugleich sensible Porträtkunst, die keiner stilbildenden Fotoschule entsprungen ist, keinem technischen Trend folgte. Eine Fotokunst, die aus Menschenliebe entstand.

QOSHE - Ikone der DDR-Fotografie Helga Paris ist tot: Sie war die Meisterin der poetischen Tristesse - Ingeborg Ruthe
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Ikone der DDR-Fotografie Helga Paris ist tot: Sie war die Meisterin der poetischen Tristesse

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06.02.2024

Im Jahr 2011, es war im nassen, kalten Herbst, hatte sie die Kamera weggestellt. Endgültig und gelassen: Menschen, Jahre, Leben. Helga Paris sagte, sie habe „alles gesehen, alles fotografiert und registriert“. Sie will, sie kann nichts wiederholen. „Die Erregung ist weg“, erklärte sie, „in mir ist es still und friedlich, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.“

Acht Jahre später, wieder im Herbst, begegnete die Grande Dame der Fotografie im längst verschwundenen Land DDR sich selbst. Sachte, zögerlich fast ging die nach wie vor zart und anmutig wirkende damals 81-Jährige auf ihre eigenen Bilder zu, die für ihre große Werkschau an den Saalwänden der Akademie der Künste am Pariser Platz, zu deren Mitglied sie im Jahr 1996 berufen worden war, aufgereiht waren. Alle nach Themen und Serien gruppiert. Sämtliche 275 Aufnahmen hatte sie konsequent in Schwarz-Weiß gemacht, mit Kontrasten, mit Schatten und poetischen Nebelfeldern, in die die Konturen der Städte und des Lebens einzusickern scheinen.

Diese Bilder, längst erschienen in der Zeitschrift Magazin und anderen Periodika, erzählten Geschichten – fröhliche, traurige, herbe, harte, witzige Begegnungen, die beim Betrachten wieder aufleuchten. Ein Schwarz-Weiß in allen Farben dieser Welt, Zeugnisse eines Alltags in Städten und Dörfern, den Helga Paris geduldig beobachtete – und bannte.

Welches Glück, für die Gesellschaft und für die fotografische Kunst, dass es diese Aufnahmen gibt. Gerade kam die Nachricht, dass Helga Paris, eine der letzte großen Fotokünstlerinnen der ehemaligen DDR, am 5. Februar in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg in den Armen ihrer Tochter Jenny, die sie über viele Wochen gepflegt hat, friedlich eingeschlafen ist. Im Mai wäre sie 86 Jahre alt geworden. Helga Paris war eine so genaue wie sensible Chronistin ihrer Zeit. Und alle Negative ihrer unvergleichlichen Aufnahmen hat sie noch als Zeitzeugenschaft dem Archiv der Akademie der Künste übergeben.

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04.02.2024

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04.02.2024

Helga Paris, Tochter eines Schriftsetzers, kam 1938 im pommerschen Gollnow (Goleniów) zur Welt, und sie wuchs auf in Zossen bei Berlin. Nach der Oberschule studierte sie Modegestaltung an der Ost-Berliner Fachschule für Bekleidung, arbeitete bei Treff-Modelle, später als Fotolaborantin. Ende der 1960er-Jahre begann sie zu fotografieren. Sie war verheiratet mit dem bekannten Maler Ronald Paris, die Ehe........

© Berliner Zeitung


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