Unter Zivilcourage, wörtlich Bürgermut, verstehen wir glücklicherweise in einer Demokratie Aufgewachsenen schlechthin „Alltagsmut“. Und eigentlich ist das ja wirklich eine alltägliche und keineswegs nur außergewöhnliche Haltung und mutiges Handeln in Situationen, die unserem Gerechtigkeitssinn widersprechen.

Aber Hand aufs Herz: Handeln wir wirklich stets danach? Mischen wir uns ein, wenn Unrecht geschieht? Oder ducken wir uns nur allzu oft weg, weil wir termingetrieben eiligst weiterwollen? Weil es bequemer ist, zu schweigen, sich lieber rauszuhalten. Und weil man Scherereien befürchtet? Oder weil man in dieser derzeit ohnehin polarisierten gesellschaftlichen, politischen Gemengelage besser in seiner privaten Bubble – oder Nische – eintaucht?

Morgengabe ans Kupferstichkabinett: „Was uns fasziniert, sollen alle haben!“

07.01.2023

NS-Raubkunst: Darf man ein Kunstwerk von seiner Geschichte reinwaschen?

25.05.2023

Willy Kurth (1881–1963), ab 1924 verantwortlicher Wissenschaftler für die damals zeitgenössische Druckgrafik am Berliner Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen, hat sich nicht ängstlich, gar feige rausgehalten, als die Nazis an die Macht kamen und mit Fackelzügen zum Bildersturm gegen die Moderne – als „auszumerzende Verfallskunst“ – trommelten. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ im Juli 1937 in München stellte 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen an den Pranger; die Aktion zog bis April 1941 durch zwölf weitere Großstädte, und ein Drei-Millionen-Publikum wurde „hirngewaschen“ und aufgehetzt.

Zahllose meisterliche Werke der Moderne gingen für immer verloren, von den völkischen Banden aufgespürt, zerstört, verbrannt oder für Devisen verhökert. Das Kupferstichkabinett büßte im Zuge der ersten Aktion über 100 Blätter, vor allem von Beckmann und den Brücke-Expressionisten, für immer ein.

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06.02.2024

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Im Sommer 1937 kam es zu weiteren „Fischzügen“ der Nazis. 700 Blätter des Kupferstichkabinetts wurden beschlagnahmt. Der Museumsmann Kurth versuchte, noch Schlimmeres zu verhindern. Er selbst hatte (gegen den Willen seines den Nazis willfährigen Direktors Friedrich Winkler, der die Moderne ablehnte) noch Anfang 1937 Grafiken von Otto Mueller, Wassili Kandinsky, Otto Dix, George Grosz und auch Ernst Barlachs „Totentanz“ erworben. Kurth riskierte Kopf und Kragen, als er klammheimlich aus den Sammlungsbeständen solche vom Stigma bedrohten, meist farbgrafischen Meisterblätter und kostbaren Mappenwerke herausnahm.

Er schaffte sie trickreich beiseite, versteckte sie raffiniert in Schüben mit alten, unbedeutenden, vergessenen Grafiken, die eh nie hervorgeholt wurden. Wer von den NS-Inquisitoren hätte schon die zumeist von Kurths Vorgänger Curt Glaser angeschafften Holzschnitte Kirchners und seiner Gefährten Heckel, Schmidt-Rottluff, Pechstein, die auf Blatt 4 den Rosa-Luxemburg-Mord darstellende „Höllen“-Mappe Max Beckmanns, Käthe Kollwitz’ Kohlezeichnung „Pieta“, die auf Papier gesetzte veristische Gesellschaftskritik von Dix und Grosz, Blätter von Lehmbruck, Kokoschka, Matisse, Munch, Kubin, Picassos „Karges Mahl“ von 1904 unter Stapeln von uninteressanten Drucken vermutet?

Akribisch erforscht hat die riskante Rettungstat die Berliner Kunstwissenschaftlerin Anita Beloubek-Hammer in ihrem Buch „Die Aktion Entartete Kunst 1937 im Berliner Kupferstichkabinett. Kustos Willy Kurth rettet Meisterblätter der Moderne“ (Lukas Verlag Berlin). Die promovierte Kunsthistorikerin wirkte erst in der Alten Nationalgalerie, dann im Kupferstichkabinett. Ihre meisterliche Arbeit, der sie die acht Jahre seit ihrer Pensionierung 2015 voll und ganz widmete, gab die Grundlage für diese beredte Ausstellung des Kurators Andreas Schalhorn.

Eingangs stehen wir vor einer Federzeichnung, dem Porträt Willy Kurths, 1917: Runde Nickelbrille, hohe Stirn mit sich lichtendendem Haar. Kein Heldentyp Herakles, sondern ein schmaler Feingeist. Diesem Mann ist es zu danken, dass Berlins Kupferstichkabinett, seinerzeit eine der bedeutendsten Sammlungen grafischer und vor allem auch moderner grafischer Kunst Europas, sich heute wieder von diesem Range sehen kann. Willy Kurth, nach dem Zweiten Weltkrieg Generaldirektor der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, also im sowjetisch besetzten Sektor, hat lange, wohl aus politischer Skepsis und Sorge, geschwiegen über sein riskantes Versteckspiel.

Die deutsche Teilung in zwei Staaten, die in West und Ost zerrissene Berliner Museumslandschaft, was auch das Kupferstichkabinett und sein Sammlungsdepot eklatant betraf, machte das Finden der gut versteckten Moderne-Blätter nach Kurths Tod zwei Jahre nach dem Mauerbau kompliziert und nachgerade zur Schnitzeljagd. Das Puzzle aber wurde gerade durch Beloubek-Hammers leidenschaftliche Tiefenforschung, sowohl in den Aufzeichnungen Kurths, in Archiven und den bis dahin noch nicht durchforschten Sammlungsbeständen, wieder zusammengefügt.

„Die schönste Erfahrung, die wir machen können, ist die geheimnisvolle“, schrieb einst Albert Einstein. Und noch einen Satz des Wissenschaftlers hat die Berliner Kunsthistorikerin sich zu eigen gemacht: „Das Wichtigste ist, dass man nicht aufhört, Fragen zu stellen.“

„Die gerettete Moderne“, Kupferstichkabinett, Matthäikirchplatz, bis 21. April, Di–Fr 10–18/Sa+So 11–18 Uhr. Das Buch zur Ausstellung von Anita Beloubek-Hammer erschien im Lukas Verlag Berlin und wurde ermöglicht von der Ferdinand-Moeller-Stiftung, Berlin.

QOSHE - „Die gerettete Moderne“ im Berliner Kupferstichkabinett: Zivilcourage unterm Hakenkreuz - Ingeborg Ruthe
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„Die gerettete Moderne“ im Berliner Kupferstichkabinett: Zivilcourage unterm Hakenkreuz

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08.02.2024

Unter Zivilcourage, wörtlich Bürgermut, verstehen wir glücklicherweise in einer Demokratie Aufgewachsenen schlechthin „Alltagsmut“. Und eigentlich ist das ja wirklich eine alltägliche und keineswegs nur außergewöhnliche Haltung und mutiges Handeln in Situationen, die unserem Gerechtigkeitssinn widersprechen.

Aber Hand aufs Herz: Handeln wir wirklich stets danach? Mischen wir uns ein, wenn Unrecht geschieht? Oder ducken wir uns nur allzu oft weg, weil wir termingetrieben eiligst weiterwollen? Weil es bequemer ist, zu schweigen, sich lieber rauszuhalten. Und weil man Scherereien befürchtet? Oder weil man in dieser derzeit ohnehin polarisierten gesellschaftlichen, politischen Gemengelage besser in seiner privaten Bubble – oder Nische – eintaucht?

Morgengabe ans Kupferstichkabinett: „Was uns fasziniert, sollen alle haben!“

07.01.2023

NS-Raubkunst: Darf man ein Kunstwerk von seiner Geschichte reinwaschen?

25.05.2023

Willy Kurth (1881–1963), ab 1924 verantwortlicher Wissenschaftler für die damals zeitgenössische Druckgrafik am Berliner Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen, hat sich nicht ängstlich, gar feige rausgehalten, als die Nazis an die Macht kamen und mit Fackelzügen zum Bildersturm gegen die Moderne – als „auszumerzende Verfallskunst“ – trommelten. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ im Juli 1937 in München stellte 650........

© Berliner Zeitung


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