Ich weiß wirklich nicht, wo die Behauptung herkommt, die Wiener seien ein grantiges Volk. Allüberall ist doch so viel Liebe! Zum Beispiel in den E-Mails. Kein hanseatisch-kühles „Viele Grüße“ als Abschlussformel, kein New-Work-elitäres „Beste Grüße“, dessen Herablassung nur noch von „Schöne Grüße“ getoppt wird, auch kein PR-Praktikantiges „Ganz viele liebe Grüße“, oder, Worst-Case-Szenario, „MFG“, sondern: „Alles Liebe“.

Wow, frage ich mich jedes Mal, wo kommt das denn her? Erst dachte ich, es hätte mit meiner Branche zu tun (die in Deutschland als „Lügenpresse“ nicht gut wegkommt), dann mit der allgemeinen kommunikativen Affektzunahme, den Herz- und Kuss-Emojis und dergleichen, warum dann aber nicht in Deutschland?

Der Duden listet „Alles Liebe“ nicht mal als potenzielle Grußformel. Als ich auf Wohnungssuche erstmals Kontakt mit meinem potenziellen Wiener Vermieter hatte – in Berlin regiert in diesem Szenario bekanntlich nicht selten blanker Hass –, unterzeichnete der seine SMS ebenfalls mit „Alles Liebe“. Heute kenne ich die Namen all seiner Kinder und weiß, dass es auf Rhodos diesen Sommer sehr heiß war.

Restaurant Fish Klub in Berlin-Mitte: Leider keine frische Brise

26.10.2023

Berlin-Wien-Debatte: Wenn schon nicht Wien, dann wenigstens Charlottenburg

10.10.2023

•gestern

03.11.2023

04.11.2023

Und selbst die Dame im Fahrradladen wünschte mir nach meinem Unfall nicht nur eine gute und sichere Fahrt, sondern auch … Sie ahnen es bereits. Auch mir kommt dieser Halbsatz neuerdings immer mal wieder über die Lippen, sogar im persönlichen Kontakt mit Unbekannten. Geburtstagskarten für meine Eltern hingegen unterschreibe ich nach wie vor mit „hab euch lieb“.

Nun wird Wien ja immer wieder zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt, seine Bewohnerinnen und Bewohner aber zugleich zu den unfreundlichsten. Dem gegenüber steht die „harte, aber herzliche“ Berliner Schnauze, von der ich komischerweise meistens nur den ersten Teil mitkriege, was vielleicht daran liegt, dass die Bevölkerung sowieso nur noch aus Zugezogenen besteht. Stellen Sie sich mal eine Spandauer Bäckereifachverkäuferin vor, die Sie erst höchst geschäftsschädigend mit „dit sind keene Brötchen, dit sind Schrippen“ ankeift und Ihnen dann zum Abschied „Alles Liebe“ hinterherruft. (Wurde ich in Wien jemals auf den Unterschied zwischen „Tüte“ und „Sackerl“ hingewiesen? Nein.)

Lange habe ich darüber nachgedacht, wo dieser Überschwang an Gefühl seinen Ursprung hat. Ist es die Höflichkeit, die Österreichern ebenso wie Grantigkeit nachgesagt wird? Immerhin landeten sie bei einem entsprechenden Ranking auf Platz zwei, direkt hinter Japan. Nein, höflich ist doch eher das ebenfalls in Mails gar nicht so selten verwendete „Sehr geehrte Frau“, das dann aber keinesfalls ein „Alles Liebe“ krönt, sondern ein „Mit freundlichen Grüßen“, selten „Hochachtungsvoll“. Ist es eine perfide Strategie, seine Ziele zu erreichen, nach dem Motto „kill them with kindness“? Kann und will ich nicht glauben, zumal der Ausspruch meinem Empfinden nach überraschend oft, wie man so schön sagt, von Herzen kommt, anders als jenes „amazing“, das einem in den USA bei jeder Kaffeebestellung entgegengelogen wird.

Das dort gelegentlich als Abschlussformel gebrauchte „All the best“, so lernte ich kürzlich, ist in den meisten Fällen schon zu viel des Guten, und da sind wir von „love“ noch weit entfernt. Anstatt mir weiter den Kopf über dieses Thema zu zerbrechen, wäre es wohl besser, die Liebe einfach anzunehmen. Das Gegenteil davon kann ich mir ja dann wieder in Berlin abholen.

QOSHE - Von wegen grantig! In Wien ist „Alles Liebe“ - Eva Biringer
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Von wegen grantig! In Wien ist „Alles Liebe“

7 0
06.11.2023

Ich weiß wirklich nicht, wo die Behauptung herkommt, die Wiener seien ein grantiges Volk. Allüberall ist doch so viel Liebe! Zum Beispiel in den E-Mails. Kein hanseatisch-kühles „Viele Grüße“ als Abschlussformel, kein New-Work-elitäres „Beste Grüße“, dessen Herablassung nur noch von „Schöne Grüße“ getoppt wird, auch kein PR-Praktikantiges „Ganz viele liebe Grüße“, oder, Worst-Case-Szenario, „MFG“, sondern: „Alles Liebe“.

Wow, frage ich mich jedes Mal, wo kommt das denn her? Erst dachte ich, es hätte mit meiner Branche zu tun (die in Deutschland als „Lügenpresse“ nicht gut wegkommt), dann mit der allgemeinen kommunikativen Affektzunahme, den Herz- und Kuss-Emojis und dergleichen, warum dann aber nicht in Deutschland?

Der Duden listet „Alles Liebe“ nicht mal als potenzielle Grußformel. Als ich auf Wohnungssuche erstmals Kontakt mit meinem potenziellen Wiener Vermieter........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play