Als wir Tim Raue treffen, liegt sein Restaurant unweit des Checkpoint Charlie noch im Winterschlaf. Treffpunkt mit dessen Chef ist ein Büro im Nebengebäude. Wir finden den loftartigen Raum mit Samtsofa, blasslilafarbenen Wänden und zwei silbernen Weihnachtsbäumen, die noch dort stehen, ziemlich stylish; der Hausherr hingegen nennt ihn „nordkoreanisch“. Was wohl heißen soll, dass hier die Diktatur des schlechten Geschmacks herrscht.

In der Ecke stehen Kisten einer unlängst lancierten, bereits ausverkauften Gewürzlinie, daneben Bücher von Tim Mälzer, mit dem der andere Tim aktuell im Fernsehen auftritt, in einer Serie mit dem Dicke-Eier-Titel „Ready to beef!“. Wer die nicht kennt, kennt aber möglicherweise „The Taste“ und „Der Restauranttester“, sicherlich „Kitchen Impossible“ und das Netflix-Format „Chef’s Table“. Vielleicht auch noch „Herr Raue reist!“, ein programmatischer Titel für einen, der rund 200 Tage im Jahr nicht in seiner Heimatstadt weilt.

Dass ihn jemand in Berlin gar nicht kennt, ist eigentlich ausgeschlossen (mit Öffis fahren? Unmöglich, wenn man als schüchterne Person nicht ständig angequatscht werden will, und ja, er bezeichnet sich als schüchtern). Tim Raue, 1974 in West-Berlin geboren, ist ein kulinarischer Hansdampf mit so vielen Projekten, dass einem ganz schwindlig werden kann: Restaurants auf Kreuzfahrtschiffen und Brasserien in Seniorenresidenzen, Deluxe-Futter für den Hund und Fleischersatz für dessen Herrchen, Sonnenbrillen- und Geschirrkollektionen. Nicht zu vergessen Kochbücher und eine literarische Autobiografie („Ich weiß, was Hunger ist: Von der Straßengang in die Sterneküche“), und schließlich ein 2010 eröffnetes Fine-Dining-Restaurant, das zwei Michelin-Sterne hält und seit Jahren auf der Jubelliste von „The World’s 50 Best Restaurants“ steht. Der Infotext hierzu: „Asian-tinted perfection in an unfashionable district of the German capital“.

Aktuell betreibt der Mann mit den salzweißen Sneakern und dem messerscharfen Bürstenhaarschnitt zudem ein Pop-up-Restaurant auf den Malediven. Praktischerweise muss er dort in den kommenden Tagen nach dem Rechten sehen. Hoffentlich geht es seinem Rücken dann schon besser – am Vortag hat sein Personal Trainer, „das Miststück“, ihn nämlich ordentlich zerlegt.

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Herr Raue, beneidenswert, dass Sie dem Berliner Winter entfliehen. Was gibt es auf den Malediven zu essen?

(Raue schließt beim Aufzählen der Gerichte lächelnd die Augen:) Yuzu-Cheesecake und salziges Kokosmousse mit Salat aus dem Garten des Resorts. Signature Dishes wie Wasabi-Kaisergranat und Seehecht mit Miso, Habanero-Chili mit süßsaurem Rettich und einen Hauptgang namens „Winterliches Berlin“, also Ente mit Rotkrautsalat, Maronenpüree und Preiselbeer-Jus.

Herausfordernd, so ein Winteressen bei Temperaturen um die 30 Grad und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit.

Ja, aber es funktioniert. Nicht zuletzt, weil der Gang nur halb so groß ist wie hier im Restaurant. Anfangs fand ich die Portionsgrößen auf Soneva Fushi (in diesem High-End-Hippie-Hotel befindet sich das Pop-up, Anm. d. Red.) unverschämt – zwei Scheiben Sushi-Roll für 48 Dollar?! Inzwischen habe ich verstanden, dass es einem damit viel besser geht und man hinterher kein Kokosnussschnaps-Verdauerlein braucht.

Das brauchen wohl auch diejenigen Gäste nicht, die in Ihrem Berliner Restaurant jenes vegane Menü bestellen, das Sie seit 2020 anbieten. Dabei versicherten Sie zehn Jahre früher, dass Sie sich diesem Trend auf ewig verweigern würden.

Was mir damals wie heute unfassbar auf den Sack geht, ist dieses Oberlehrerhafte, das Veganer oft haben. Es war allerdings nie die vegane Lebensform, die ich kritisiert habe. 2007 setzte ich mich stark mit der asiatischen Küche auseinander, einer Küche ohne Milchprodukte, die zudem viel Rücksicht auf Unverträglichkeiten nimmt. Ich selbst habe alles – Histamin, Gluten, Laktose und einen Reizdarm –, weil ich mit Industriefraß groß geworden bin. Auch deswegen habe ich in meinem Restaurant immer schon auf alle möglichen Sonderwünsche Rücksicht genommen, mit Ausnahme von vegan, weil mich die entsprechende Haltung so störte. Im Verlauf einer dreimonatigen Diät ganz ohne tierische Produkte habe ich dann aber gemerkt, wie kraftvoll ich war. Da war klar: Ein vegetarisches Menü geht nicht weit genug.

Wie funktioniert das: Sterneküche in vegan?

Butter ersetzen wir durch pakistanisches Palmöl, die fischlosen Fischsoßen fermentieren wir selbst aus Bananen und Tomatensaft. Inzwischen bestellt fast ein Viertel unserer Gäste das vegane Menü.

Und wer sind diese Gäste?

Durch den Netflix-Auftritt haben wir das große Glück, junge Foodies aus aller Welt anzulocken. Menschen zwischen 20 und 40, von denen sich bis zu einem Drittel vegan ernährt, die holen wir ab. Dass aktuell so viele Restaurants schwächeln, liegt auch daran, dass sie sich nicht an die Bedürfnisse ihrer Gäste anpassen. Wir haben uns immer an die Oktopus-Taktik gehalten, also versucht, in allen möglichen Segmenten präsent zu sein. Deswegen ist der Laden nach wie vor voll. Andere Trends hingegen interessieren mich nicht, No Waste zum Beispiel. Wer zu uns kommt, hat nicht die Haltung „Scheißegal, wie’s schmeckt, Hauptsache, die werfen nichts weg“.

(An dieser Stelle könnte eine lustige Anekdote dazu stehen, wie der mit allerhand Louis-Vuitton-Sachen bepackte 49-Jährige in der Taz-Redaktion aufschlug, nicht um zu protzen, sondern um preußisch-pünktlich zu sein, und dafür von den ihn empfangenden konsumfeindlichen Redakteurinnen und Redakteuren abgestraft wurde. Dabei sind für ihn diese Taschen schlicht fantastisches Handwerk, das ein Leben lang hält – aber wir wollen nicht abschweifen, Anm. d. Red.)

In Ihrem früheren Leben waren Sie Mitglied der Kreuzberger Straßengang „36 Boys“. Treffen Sie frühere Buddys manchmal zufällig auf der Straße?

Nein. Aber zu einem der Anführer habe ich noch immer ein unfassbar herzliches Verhältnis. Ich bin allerdings ein schlechter Freund, mir fehlt einfach die Zeit. Mein Terminkalender ist ein Jahr im Voraus durchgetaktet. Wenn ich weniger als 14, 15 Stunden arbeite, habe ich ein schlechtes Gefühl gegenüber meinen Mitarbeitenden.

Sie haben den Ruf, deutsche Werte wie Ordnung, Fleiß und Höflichkeit hochzuhalten. Ziemlich überraschend angesichts einer Jugend zwischen Straßenkampf, depressiver Mutter und prügelndem Vater.

Stimmt, und das habe ich meinen Großeltern zu verdanken. Was mich im Moment sehr beschäftigt, ist, dass das Gewaltmonopol hier in Berlin nicht mehr beim Staat liegt und Menschen, die es unterwandern, entweder gar keine Strafen bekommen oder erst mit zweijähriger Verzögerung. Obwohl ich als Kreuzberger per se kein Fan der Polizei bin, muss ich sagen: Wenn wir Gesetze haben, müssen wir sie umsetzen. Ich spreche aus Erfahrung. Mit dem Steinewerfen habe ich erst aufgehört, als mich die aus anderen Bundesländern rekrutierten Polizisten grün und blau geschlagen haben. Da wusste ich, wer der König der Straße ist: Am 1. Mai sind es die bayerischen Polizisten.

Zurück zum Essen: Ihren Königsberger Klopsen geben Sie Maniokbrösel und Thai-Chilis bei, Ihrem Sangohachi-Zander Sauerkraut. Wurden Sie jemals mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert?

Nur von Journalisten und Menschen, die ansonsten nicht genug Probleme haben. Und wissen Sie was? Diejenigen, die nicht verstanden haben, dass unser Leben daraus besteht, interkulturell zu agieren, kann ich unfassbar gut ignorieren.

Als Koch müssen Sie viel probieren. Als ich las, dass Sie so vieles wieder ausspucken, musste ich kurz, nun ja, schlucken.

Ich spucke, weil ich muss. Seit Anfang, Mitte 20 habe ich ein Gewichtsproblem. Vor etwa zehn Jahren habe ich dann mit den Weight Watchers ziemlich viel abgenommen und meine Ernährung teilweise umgestellt. Wenn ich die 150 verschiedenen Lebensmittel, die ich berufsbedingt jeden Tag probieren muss, alle runterschlucken würde, wäre das mein Verderben. Die Idee des Ausspuckens kam über Weinverkostungen, da lötest du dir ja auch nicht 15 verschiedene Weine rein. Außerdem werde ich vom Essen sehr müde, weswegen ich das meist erst auf 23 Uhr verlege.

Kein Frühstück?

Frühstück ist für mich die Hölle auf Erden. Seit ein paar Monaten esse ich mittags Schafsjoghurt, idealerweise dann am frühen Abend asiatisch, weil mir das guttut, oder Suppen, obwohl ich kein Fan davon bin. Sonntags hingegen ist alles erlaubt. Mittags gebe ich Vollgas, am besten 20 verschiedene Gerichte, dann Mittagsschläfchen, dann Kuchen.

Bienenstich, wie es ihn in der Potsdamer Villa Kellermann gibt, die Sie bis zum vergangenen Jahr mitbetrieben haben?

Nein, kein Bienenstich. Wenn ich in Berlin bin, gerne die Schweinereien von Princess Cheesecake. Am liebsten mag ich den klassischen mit Karamellsoße, da gebe ich noch Himbeersorbet dazu oder Eiscreme von Jones, davon liegen bei mir bestimmt 50 Becher in der Tiefkühltruhe. Die Sorte „Cheesecake mit Rhabarber und salzigen Butterstreuseln“ ist eines meiner hardcore guilty pleasures. Und ich liebe Schokolade und Pralinen. Absolute Luxusschweinerei: Die 14-Euro-Johan-von-Ilten-Kekse mit Haselnussmilchcreme aus dem KaDeWe. Dafür gehe ich über Los.

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All das klingt nach dem perfekten Cheat Day und passt gut zum Motto Ihres Restaurants: „Am Ende geht es doch einfach darum, den Teller ablecken zu wollen.“

Essen ist nun mal absolut meins. Ich bin schwer zuckersüchtig, liebe alles aus der Fritteuse und trinke auch sehr gerne Rotwein. Da ich den aber nicht vertrage, nur sehr wenig. Wenn es hochkommt, eine Flasche im Monat. Döner hingegen geht immer – ich bin ein großer Freund von Pamfilya in Wedding und Mustafas Gemüse-Kebap. Ein riesiges Problem, weil der meistens verfügbar ist, bei Volt neuerdings 24 Stunden. Das ist nicht gut für mich. Bei Burgern bin ich ziemlich picky, immer Burgermeister mit extra Zwiebeln und extra Käse. Dann habe ich noch ein schlimmes Industrieding: KFC. Aktuell bin ich glücklicherweise davon weg, weil ich nach meiner Ernährungsumstellung gemerkt habe, was für ein ekelerregendes Fett die verwenden.

Als Lieblingsitaliener nennen Sie die Osteria Centrale. Wo in Berlin gehen Sie sonst noch gerne hin?

In die Kantstraße. Mit dem Madame Ngo betreibt Duc Ngo einen fantastischen Vietnamesen. Dann auch zum Thaiklassiker Papaya; zu Good Friends, wo sie kochen wie eine nicht ganz so motivierte kantonesische Hausfrau, oder zu Do De Li schräg gegenüber. Mit den besten Auberginen, einem Mischgemüse, nach dem meine Frau süchtig ist, und dem besten doppelt gebratenen Schweinebauch.

Pizza mögen Sie auch, habe ich gelesen.

Noch lieber Pinsa von Rosso in der Helmholtzstraße. Deren Cacio-e-Pepe-Version ist die pure (hier könnte ein Raue’scher Kraftausdruck stehen, Anm. d. Red.) Sünde. Parallel dazu bestelle ich eine mit doppelt scharfer Salami. Ich mag aber auch die Honig-Salami-Kombination bei Standard, wobei dieses neapolitanische Lappenpizzading nicht meins ist, davon fresse ich immer nur Rand und Belag.

Interessantes Konzept! Viele lassen ja eher den Rand liegen.

Kommt bei mir nicht vor. Allgemein liebe ich es, mit den Händen zu essen. Als meine Frau mich in ihrer Heimatstadt Graz in so einem Baguetteladen ihren Freundinnen vorstellte, habe ich mir aus drei verschiedenen Tellern ein Sandwich gebaut. Als ich weg war, meinten alle: Der isst ja wie ein Schwein. Stimmt! Beim Essen bin ich in meiner eigenen Welt, da interessiert mich nicht, was andere über mich denken.

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Tim Raue: „Dieses Oberlehrerhafte, das Veganer oft haben, geht mir unfassbar auf den Sack“

14 10
02.03.2024

Als wir Tim Raue treffen, liegt sein Restaurant unweit des Checkpoint Charlie noch im Winterschlaf. Treffpunkt mit dessen Chef ist ein Büro im Nebengebäude. Wir finden den loftartigen Raum mit Samtsofa, blasslilafarbenen Wänden und zwei silbernen Weihnachtsbäumen, die noch dort stehen, ziemlich stylish; der Hausherr hingegen nennt ihn „nordkoreanisch“. Was wohl heißen soll, dass hier die Diktatur des schlechten Geschmacks herrscht.

In der Ecke stehen Kisten einer unlängst lancierten, bereits ausverkauften Gewürzlinie, daneben Bücher von Tim Mälzer, mit dem der andere Tim aktuell im Fernsehen auftritt, in einer Serie mit dem Dicke-Eier-Titel „Ready to beef!“. Wer die nicht kennt, kennt aber möglicherweise „The Taste“ und „Der Restauranttester“, sicherlich „Kitchen Impossible“ und das Netflix-Format „Chef’s Table“. Vielleicht auch noch „Herr Raue reist!“, ein programmatischer Titel für einen, der rund 200 Tage im Jahr nicht in seiner Heimatstadt weilt.

Dass ihn jemand in Berlin gar nicht kennt, ist eigentlich ausgeschlossen (mit Öffis fahren? Unmöglich, wenn man als schüchterne Person nicht ständig angequatscht werden will, und ja, er bezeichnet sich als schüchtern). Tim Raue, 1974 in West-Berlin geboren, ist ein kulinarischer Hansdampf mit so vielen Projekten, dass einem ganz schwindlig werden kann: Restaurants auf Kreuzfahrtschiffen und Brasserien in Seniorenresidenzen, Deluxe-Futter für den Hund und Fleischersatz für dessen Herrchen, Sonnenbrillen- und Geschirrkollektionen. Nicht zu vergessen Kochbücher und eine literarische Autobiografie („Ich weiß, was Hunger ist: Von der Straßengang in die Sterneküche“), und schließlich ein 2010 eröffnetes Fine-Dining-Restaurant, das zwei Michelin-Sterne hält und seit Jahren auf der Jubelliste von „The World’s 50 Best Restaurants“ steht. Der Infotext hierzu: „Asian-tinted perfection in an unfashionable district of the German capital“.

Aktuell betreibt der Mann mit den salzweißen Sneakern und dem messerscharfen Bürstenhaarschnitt zudem ein Pop-up-Restaurant auf den Malediven. Praktischerweise muss er dort in den kommenden Tagen nach dem Rechten sehen. Hoffentlich geht es seinem Rücken dann schon besser – am Vortag hat sein Personal Trainer, „das Miststück“, ihn nämlich ordentlich zerlegt.

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(Raue schließt beim Aufzählen der Gerichte lächelnd die Augen:) Yuzu-Cheesecake und salziges Kokosmousse mit Salat aus dem Garten des Resorts. Signature Dishes wie Wasabi-Kaisergranat und Seehecht mit Miso, Habanero-Chili mit süßsaurem Rettich und einen Hauptgang namens „Winterliches Berlin“, also Ente mit Rotkrautsalat, Maronenpüree und Preiselbeer-Jus.

Herausfordernd, so ein Winteressen bei Temperaturen um die 30 Grad und 95 Prozent Luftfeuchtigkeit.

Ja, aber es funktioniert. Nicht........

© Berliner Zeitung


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