Ende 2022, knapp neun Monate nach der russischen Invasion in der Ukraine, wurde das Kiewer Zentrum für bürgerliche Freiheiten mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Diese Woche war Oleksandra Matwijtschuk, die Leiterin der Menschenrechtsorganisation, zu Besuch in Hamburg, um bei einem Forum der Körber-Stiftung zu sprechen. Davor sprach sie mit der Berliner Zeitung – über Kriegsmüdigkeit, Verhandlungen mit Russland und ihre Hoffnung auf weitere internationale Unterstützung für die Ukraine.

Frau Matwijtschuk, wie blicken Sie auf das letzte Jahr seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an das Zentrum für bürgerliche Freiheiten zurück? Was wurde seitdem in Bezug auf die internationale Unterstützung für die Ukraine erreicht?

In meinem Bereich, dem der Justiz, gab es mehrere sehr positive Errungenschaften. Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa erlassen [wegen der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland; Anm. d. Red.]. Das ist ein wichtiges Zeichen, dass, wer Kriegsverbrechen begeht, strafrechtlich verfolgt wird – auch wenn man Oberhaupt eines Staates ist, der über Atomwaffen oder einen Sitz im Sicherheitsrat verfügt.

Die zweite positive Errungenschaft war die Erklärung des Europarats von Reykjavik im Mai letzten Jahres, mit der ein formeller Prozess zur Schaffung eines Schadensregisters eingeleitet wurde. Dies wird den Opfern dieses Krieges die Möglichkeit geben, in Zukunft Entschädigungen von Russland zu erhalten.

Ein weiterer wichtiger Moment war die Gründung des Internationalen Zentrums für die Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine. Wir hoffen, dass dies der erste Schritt sein kann, um ein Sondertribunal gegen Russland einzurichten und die Ermittlungen zu beschleunigen, sobald eine politische Entscheidung über ein Tribunal getroffen worden ist.

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31.01.2024

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30.01.2024

Aber wir können immer noch nicht sagen, ob wir am Ende, in der Mitte oder noch am Anfang dieses Krieges stehen. Als es Putin nicht gelang, die gesamte Ukraine wie erwartet in drei oder vier Tagen zu besetzen, entschied er sich für die Strategie eines langwierigen, lang anhaltenden Krieges. Russland geht davon aus, dass die Ukraine zuerst zerbrechen wird, weil ihr Potenzial mit dem Russlands nicht vergleichbar ist. Deshalb ist die internationale Unterstützung in einem so entscheidenden Moment für die Ukraine immer noch so wichtig.

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Oleksandra Matwijtschuk: „Das System für Frieden und Sicherheit liegt in Trümmern“

19.12.2022

In Deutschland ist oft die Rede davon, die Menschen würden „kriegsmüde“ und fragten sich immer mehr, wie der Krieg enden werde. Sind Sie immer noch der Meinung, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann – und auch muss?

Wenn wir über die Öffentlichkeit sprechen, kann ich dieses Phänomen verstehen. Wir haben dasselbe in der Ukraine vor der Invasion vom 24. Februar 2022 gesehen – ein Teil der Gesellschaft versuchte, vom Krieg abzuschalten, und das war möglich, weil er nicht in ihrem Haus stattfand, sondern im Osten der Ukraine und auf der Krim.

Heute aber ist Kriegsmüdigkeit für Ukrainer ein Luxus. Wir kämpfen für unsere Freiheit in jeder Hinsicht – für unsere Freiheit, ein unabhängiges Land und keine russische Kolonie zu sein, unsere ukrainische Identität zu bewahren und nicht gezwungen zu sein, unsere Kinder zu Russen umzuerziehen. Und wir kämpfen für die Freiheit, unser Land nach demokratischen Gesichtspunkten aufzubauen, damit wir eine Gesellschaft haben, in der die Rechte aller geschützt sind, die Regierung rechenschaftspflichtig und nicht korrupt und die Justiz unabhängig ist.

Wenn wir aufhören zu kämpfen, wird es uns nicht mehr geben. Wenn wir zu müde werden, wird man uns töten. Es gibt also keine andere Möglichkeit für uns, als zu kämpfen und zu gewinnen. Das ukrainische Beispiel zeigt, dass, wenn man Probleme nicht löst, sie nur ernster werden – und der Tag wird kommen, an dem man den Krieg nicht mehr ausschalten kann wie die Nachrichten im Fernsehen.

Die politischen Führer der internationalen Gemeinschaft haben eine zusätzliche Verantwortung, das zu verhindern. Wenn sie von dem Krieg gelangweilt sind, müssen sie alles tun, um unsere Situation zu ändern. Das ist keine Kriegsmüdigkeit, sondern ein Mangel an entschlossenem Handeln, denn es kann und muss viel getan werden, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen – mit militärischer Unterstützung, aber auch bei der Einrichtung eines Sondergerichts, bei der Beschlagnahmung eingefrorener russischer Vermögenswerte, bei der Schließung von Schlupflöchern bei den Sanktionen.

Im Interview mit der Berliner Zeitung hat der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgeschlagen, dass Deutschland seine weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine mit einem Angebot an Putin zu Verhandlungen oder Gesprächen verbinden sollte. Was halten Sie davon sowie von Verhandlungen mit Russland überhaupt?

Wenn wir über Verhandlungen mit Russland sprechen, müssen wir uns immer die Frage stellen: Verhandlungen über was? Alle bisher diskutierten Szenarien sahen vor, Russland einen Teil des ukrainischen Territoriums zu überlassen, damit seine imperialistischen Gelüste befriedigt wären und Putin aufhören würde. Aber das war Wunschdenken. Das Minsker Abkommen zum Beispiel hat gezeigt, dass dieses Szenario nicht funktioniert – denn Russland hat die acht Jahre vor der Invasion genutzt, um eine starke Militärbasis auf der Krim aufzubauen, mehr Truppen auszubilden und seine Wirtschaft umzustrukturieren, um sich auf mögliche Sanktionen vorzubereiten.

Dieses Wunschdenken, dass Putin sich mit einigen Teilen des ukrainischen Territoriums zufriedengeben wird, geht an der Realität vorbei. Deshalb ist der Vorschlag, Russland neue Gebiete zu überlassen, nicht nur ein Fehler, sondern auch unmoralisch, weil er darauf hinausläuft, die Menschen unter russischer Besatzung der Folter, der Vergewaltigung und dem Tod auszuliefern.

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Welche Rolle sollten denn Deutschland und Europa stattdessen spielen?

Wir leben in turbulenten Zeiten, und das gesamte internationale System des Friedens und der Sicherheit bricht vor unseren Augen zusammen. Ich möchte, dass Deutschland in solchen Zeiten eine Führungsrolle in unserer Region übernimmt, um den Menschen Sicherheit zu bieten und die europäischen Werte zu verteidigen. Die Menschen neigen dazu, den Krieg nur dann zu bemerken, wenn Bomben auf ihre Köpfe fallen, aber Krieg hat auch eine wirtschaftliche, eine Informations- und eine Wertedimension. Wenn wir über diese Dimensionen sprechen, hat der russische Angriffskrieg bereits die europäischen Grenzen überschritten. Russland hat Gelder eingesetzt, um westliche Politiker zu korrumpieren, um die russische Agenda durchzusetzen und um den universellen Grundsatz der Menschenrechte infrage zu stellen. Vor diesem Hintergrund wird die Rolle der Führung immer wichtiger.

Seit der Euromaidan-Revolution und der darauf folgenden Besetzung der Krim und dem Konflikt im Donbass, die zum heutigen Krieg geführt haben, sind nun zehn Jahre vergangen. Wie würden Sie sich die Ukraine in weiteren zehn Jahren gerne vorstellen?

Dafür ist aber Einigkeit unter den Demokratien der Welt erforderlich. Meine Heimatstadt Kiew wird immer wieder nicht nur von russischen Raketen, sondern auch von iranischen Drohnen angegriffen. Syrien stimmt in der UN-Vollversammlung für Russland, Nordkorea hat Russland mehr als eine Million Granaten geliefert, und China hat Russland geholfen, die Sanktionen zu umgehen. Es bildet sich also ein autoritärer Block von Regimen heraus, die Menschen als Objekte betrachten, die die Bedürfnisse ihrer Führer befriedigen sollten. Wenn autoritäre Länder sich gegenseitig unterstützen, müssen die Demokratien noch stärker ihren Zusammenhalt, ihre Einheit und ihre Unterstützung füreinander zum Ausdruck bringen. Nur die Ausbreitung der Freiheit kann unsere Welt sicherer machen.

Interview: Elizabeth Rushton

QOSHE - Oleksandra Matwijtschuk: Verhandlungen mit Russland zu fordern ist Wunschdenken - Elizabeth Rushton
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Oleksandra Matwijtschuk: Verhandlungen mit Russland zu fordern ist Wunschdenken

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03.02.2024

Ende 2022, knapp neun Monate nach der russischen Invasion in der Ukraine, wurde das Kiewer Zentrum für bürgerliche Freiheiten mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Diese Woche war Oleksandra Matwijtschuk, die Leiterin der Menschenrechtsorganisation, zu Besuch in Hamburg, um bei einem Forum der Körber-Stiftung zu sprechen. Davor sprach sie mit der Berliner Zeitung – über Kriegsmüdigkeit, Verhandlungen mit Russland und ihre Hoffnung auf weitere internationale Unterstützung für die Ukraine.

Frau Matwijtschuk, wie blicken Sie auf das letzte Jahr seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an das Zentrum für bürgerliche Freiheiten zurück? Was wurde seitdem in Bezug auf die internationale Unterstützung für die Ukraine erreicht?

In meinem Bereich, dem der Justiz, gab es mehrere sehr positive Errungenschaften. Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa erlassen [wegen der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland; Anm. d. Red.]. Das ist ein wichtiges Zeichen, dass, wer Kriegsverbrechen begeht, strafrechtlich verfolgt wird – auch wenn man Oberhaupt eines Staates ist, der über Atomwaffen oder einen Sitz im Sicherheitsrat verfügt.

Die zweite positive Errungenschaft war die Erklärung des Europarats von Reykjavik im Mai letzten Jahres, mit der ein formeller Prozess zur Schaffung eines Schadensregisters eingeleitet wurde. Dies wird den Opfern dieses Krieges die Möglichkeit geben, in Zukunft Entschädigungen von Russland zu erhalten.

Ein weiterer wichtiger Moment war die Gründung des Internationalen Zentrums für die Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine. Wir hoffen, dass dies der erste Schritt sein kann, um ein Sondertribunal gegen Russland einzurichten und die Ermittlungen zu beschleunigen, sobald eine politische Entscheidung über ein Tribunal getroffen worden ist.

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31.01.2024

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30.01.2024

Aber wir können immer noch nicht sagen, ob wir am Ende, in der Mitte oder noch am Anfang........

© Berliner Zeitung


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