Die umkämpfteste Schlange in Berlin steht am Mittwochnachmittag nicht vor dem Berghain an oder will einen überbewerteten Döner am Mehringdamm kaufen – sondern die Menschen stehen für alte Fahrräder an. Zum ersten Mal in diesem Jahr hat die Deutsche Bahn im Lichtenberger Bahnhof nahezu 50 Fahrräder versteigert, die auf Bahnhofsgeländen überall in der Stadt abgestellt und von ihren Besitzern nie abgeholt wurden.

Hunderte sind gekommen, um an der regelmäßig stattfindenden Auktion teilzunehmen, Dutzende weitere standen in einer Schlange, die sich die Treppe zur Galerieebene des Bahnhofs hinunterschlängelte.

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Für die Bahn ist es eine Gelegenheit, das Fundbüro zu entrümpeln – für die Berliner eine Möglichkeit, ein neues Fahrrad zum Schnäppchenpreis zu ergattern. Auch wenn es dann noch ein wenig Pflege braucht. Zur Auswahl standen eine große Breite unterschiedlicher Fahrradsorten, von bunten Kinderfahrrädern bis schlichten Rennrädern. Das billigste Los kostete bei dieser Versteigerung nur 5 Euro; am teuersten war ein E-Bike, das für 500 Euro gekauft wurde. Auch das ist aber ein Schnäppchen; ein neues E-Bike ist in der Regel erst ab etwa 1500 Euro zu kaufen.

Was kostenlos dazu kommt: Die Spannung und Wettbewerbsgefühl wie bei einer echten Versteigerung. Die Teilnehmer konnten die angebotenen Fahrräder bereits 20 Minuten vor Beginn der Auktion besichtigen; sobald dieser begonnen hat, wird jedes Fahrrad mit einem kleinen, aber laut surrenden Kran in die Luft gehoben, damit alle es sehen können. Die Mitarbeiter der Deutschen Bahn, die heute als Auktionatoren fungieren, stehen auf einem erhöhten Podium, so dass sie die Hände sehen können, die für jedes Fahrrad eifrig in die Luft fliegen.

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Die Preise steigen schnell, bald ertönt in der Ecke des Bahnhofs die bekannte Routine „zum ersten, zum zweiten, verkauft“. Jeder neue Verkauf wird – wie es sich gehört – mit einem kräftigen Schlag des Auktionshammers bestätigt. In der Menge sind auch einige, die am Handy hängen und mit stark konzentriertem Gesicht den Verlauf der Gebotsabgabe ins Telefon weitersagen.

Wie es sich dazu gehört, wird diese eine nachhaltige und vernünftige Option für den Erwerb eines preiswerten gebrauchten Fahrrads langsam auch für junge Berliner hip. Die 22-Jährige Luna Hielscher hat über TikTok von der Versteigerung erfahren und geht erfolgreich nach Hause mit einem schiefergrauen Damenfahrrad für 80 Euro. Die Kette, die Pedale, der Korb und viele andere Teile des Fahrrads sind verrostet, beide Reifen sind lose und müssen ersetzt werden – „aber es sieht so aus, als ob es noch fährt“, scherzt Luna. Schließlich ist sie auch unter ihrer Obergrenze von 100 Euro fündig geworden.

Für Luna musste es aber am Mittwoch mit dem Kauf eines neuen Fahrrads – am Dienstag, am Vorabend der Versteigerung, wurde ihr Fahrrad vor der Bibliothek in Lichtenberg geklaut. „In Berlin kennt man das ja“, sagt sie. „Ein neues Fahrrad zu kaufen lohnt sich hier nicht.“ Gerade deswegen wollte sie einen gebrauchten Ersatz für das vor kurzem geklaute Fahrrad finden. Luna musste sich im Bieterverfahren gegen einen anderen Interessierten durchsetzen, der sich schließlich zurückzog; davor kam aber ein langes Hin und Her zwischen den beiden und ihren Preisangeboten. Für Luna war diese aber auch ihre erste Versteigerung überhaupt; sie sagt, die lebhafte Atmosphäre und der Wettbewerbsgeist der Veranstaltung hätten ihr Spaß gemacht.

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Die Bieter erzählen viele Geschichten: Eltern gehen stolz nach Hause mit neuen Fahrrädern für ihre Kinder, die sich auch freudig am Bieten beteiligen; der Chilene Felipe Nast erzählt, wie sein neues Fahrrad ihn nun auf eine Fahrradtour mit Freunden nach Südtirol begleiten wird. Seine Freunde Domenico Tafureti und Thomas Bosco sind von seinem Fund, einem gut erhaltenen, türkis-indigoblauen Herrenrad für 110 Euro, besonders angetan. Jetzt hat jeder in der Gruppe ein Fahrrad, die Reise kann losgehen, sagen sie begeistert.

Das slowenische Pärchen Pika Kovac und Jernej Gaube war bei der Versteigerung auf der Suche nach ihren allerersten Fahrrädern in Berlin, nachdem sie erst vor drei Wochen in die Stadt gezogen sind. Das Paar hat sich auf ein gemeinsames Budget von 200 Euro geeinigt; Pika bietet erfolgreich für ein elektroblaues Damenfahrrad für nur 80 Euro. Sie ist sehr zufrieden mit dem Fund, auch wenn er nicht perfekt ist; der Sitz des Fahrrads hat Löcher und Kratzer.

„Wenn ich zu Hause wäre, würde ich es meinem Vater zum Reparieren bringen“, lacht sie. „Aber ich will keine Zeit damit verbringen, es selbst zu reparieren – also wollte ich auch nicht zu viel Geld ausgeben.“ Es bleibt aber spannend, ob auch Jernej mit den restlichen 120 fündig von der Auktion wegkommt; es werden immer wenige Fahrräder für immer mehr Interessierten – mit zunehmend konzentrierter und entschlossener Mine.

Die nächste Fahrradversteigerung der Deutschen Bahn finde am 8. Mai statt, wieder um 15 Uhr im Lichtenberger Bahnhof. Viele der Interessierten gehen am Mittwoch leer nach Hause; als nach etwa 90 Minuten die Versteigerung beendet wird, stehen Leute noch an, um daran teilzunehmen. Christoph Lindenberg hingegen bringt zwei Fahrräder zurück in sein Heimatdorf in der Uckermark – und will andere ermutigen, sich an diesem Konzept zu beteiligen. „So landet ein Stück Schrott weniger ins Müll oder in der Spree“, sagt er.

Zuhause will Christoph Lindenberg seine zwei Funde reparieren; eins der Fahrräder will er zu einem Seitenwagen für ein Motorrad umbauen. Das andere wird er wohl in einer Familie in seiner Nachbarschaft verschenken; in seinem Dorf leben auch Geflüchteten aus der Ukraine. Denn er ist sich sicher, dass ein Fahrrad so viel mehr sein kann als „ein Stück Schrott“. „Es gibt kaum ein besseres Geschenk als ein Fahrrad“, sagt er. „Für ein Kind ist ein Fahrrad wie das erste Flugzeug.“

QOSHE - Fahrradauktion in Lichtenberg: „Jedes Fahrrad in Berlin wird sowieso irgendwann geklaut“ - Elizabeth Rushton
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Fahrradauktion in Lichtenberg: „Jedes Fahrrad in Berlin wird sowieso irgendwann geklaut“

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21.03.2024

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