DJs und Gäste könnten in Kiew selbst entscheiden, ob bei Luftalarm die Party zu Ende ist, erzählt Andrii Yankovskyi vom Kiewer Clubverband Unight. Das entscheide inzwischen jeder für sich selbst. Die meisten Ukrainer haben eine App der Regierung auf ihr Smartphone geladen. Eine heulende Sirene als Signalton macht sie darauf aufmerksam, dass Raketen oder Drohnen im Anflug sind. Zu Beginn des Krieges hätten die Veranstalter in den Clubs bei Alarm den Bässen noch die Stecker gezogen und alle Clubbesucher in den nächsten Luftschutzraum geschickt.

Aber im dritten Kriegsjahr sei die allgegenwärtige Bedrohung längst Alltag geworden, berichtet Yankovskyj. Er betreibt in Kiew den Club HVLV. „Die Menschen können bei Alarm den Club verlassen, um in einen Bunker zu gehen und dann in der Nacht in ihrer Wohnung von einer Rakete getroffen werden“, sagt Yankovskyj. Angesichts einer solchen Realität tanzten die meisten Partygäste auch bei Alarm einfach weiter.

Clubs haben in der Ukraine nur tagsüber geöffnet. Nachts gilt in den Städten eine je nach militärischer Lage in jeder Region unterschiedlich lange Ausgangssperre. Die Kiewer müssen zwischen 0 und 5 Uhr zu Hause bleiben. Bars und Kneipen schicken die letzten Nachtschwärmer gegen 23 Uhr auf den Heimweg.

Andrii Yankovskyi schildert die neuen Regeln beim Feiern in der Ukraine im Schwuz an der Rollbergstraße wenige Tage vor der gemeinsamen Veranstaltung der Clubcommission und des Verbands Unight in Berlin am 15. März. Der Schwuz-Geschäftsführer Marcel Weber ist auch Erster Vorsitzender der Berliner Clubcommission. Der von Weber geleitete Zusammenschluss der Berliner Clubbetreiber hat Unight nach Berlin geladen. Einen Tag lang wollen sich die Vertreter der Clubs aus Berlin und Kiew gemeinsam mit Vertretern beider Städte im RSO in Schöneweide austauschen über eine Zusammenarbeit in Zeiten des Krieges.

Charlotte Polak von der Senatskanzlei, Claudia Schurz, Senatsverwaltung für Kultur und Soziales, und Yevheniia Kuleba, Stellvertreterin des Stadtrats von Kiew, wollen über eine verstärkte Kooperation der Clubs in Hinblick auf eine Städtepartnerschaft zwischen Kiew und Berlin sprechen. Ukrainische DJ-Kollektive sollen sich in die Diskussion über eine Zusammenarbeit anbringen. Einige Kollektive seien nach der russischen Invasion nach Berlin geflohen, erklärt Yankovskyi. „Andere haben sich in Berlin erst zusammengefunden“, sagt er. Einige Künstler sind für die Konferenz aus der Ukraine angereist.

13.03.2024

•gestern

13.03.2024

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•gestern

Ukrainische Partys sind im dritten Kriegsjahr Teil des Berliner Nachtlebens geworden. Das queere Kollektiv Veselka legt etwa regelmäßig im RSO und anderen Clubs auf. Die Partys geben einen Eindruck vom Nachtleben Kiews, wie es vor dem 24. Februar 2022 war: divers und hedonistisch.

Berliner Techno ist jetzt Kulturerbe

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Klubkultur in Kiew: Angriff auf die Anderswelt

18.06.2022

Der russische Angriff beendete den Aufstieg Kiews zu einer der aufregendsten Partymetropolen Europas. Das Abklingen der Corona-Pandemie ermöglichte DJs und Ravern in der zweiten Jahreshälfte 2021 wieder das Reisen. Besonders ein Kiewer Club zog nach der Corona-Pause für Europas Raver die Aufmerksamkeit auf sich. Seit 2019 wurde an der Kiewer Kirillowskaja Straße in einer ehemaligen Brauerei gefeiert. Der Club hat bis heute keine Namen. Er ist unter dem inoffiziellen Kürzel „K 41“ oder dem mathematischen Zeichen ∄ bekannt. Es bedeutet: Es existiert nicht.

Das K 41 verstand sich seit seiner Gründung als Safer Space für queere Menschen. Wer zu heteronormativ wirkt, hat keine Chance auf Einlass. Fetischkleidung ist dagegen ausdrücklich erwünscht. Die Berghain-Architekten des Berliner Studios Karhard gestalteten den Club. Sie verraten genau wie die Betreiber bis heute keine Details über die Fantasiewelt im Innern des Clubs. Die Gäste schweigen ebenfalls. Die Vermarktung als Mysterium trägt den Club ohne Namen bis heute durch die Kriegszeit, auch wenn die Bässe nur tagsüber wummern dürfen.

Wer den Club ohne Namen finanziert hat, ist ebenfalls bis heute ein Rätsel. Ukrainische Medien tippten auf einen Sonnenblumenöl-Produzenten mit Geschäftssinn. Andere Clubs in Kiew seien aus privater Initiative entstanden, sagt Yankovskyi. „Oft haben sich einfach ein paar Leute zusammengetan und dann hat sich etwas daraus entwickelt“, erzählt er.

Er vergleicht die Bedingungen in Kiew vor dem russischen Angriff mit dem Berlin der 90er-Jahre. Niedrige Mieten als Folge einer kriselnden Wirtschaft, geringe Regulierung durch Behörden und eine Aufbruchstimmung in der Gesellschaft in einer Wendezeit hätten die Entwicklung der Clubkultur beflügelt.

Die Entwicklung der Clubszene sei ohne den sozialen Wandel in der Ukraine nach den Ende 2013 beginnenden Maidan-Protesten und dem Sturz des als prorussisch geltenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch 2014 undenkbar, sagt Yankovskyj. Das Nachtleben in Kiew vor dem Umbruch schildert er als verschlafen. Wer einen Club betreiben wollte, musste die Mittel für die Bestechung von Behörden und Polizei haben. Die LGBT-Gemeinde war unter Janukowitsch unsichtbar und marginalisiert. „Nach 2014 gab es Reformen gegen die Korruption bei der Polizei“, sagt Yankovskyi.

Vor allem habe sich die Kulturszene in der Ukraine neu erfunden. Unter Fremdherrschaft verlorenen gegangene Traditionen wurden nach 2014 wieder gepflegt und mit Einflüssen aus der ganzen Welt gemischt. „Es gibt jetzt Künstler, die ukrainische Volksmusik mit Jazz mischen“, sagt Yankovskyi. Der Angriff Russlands wirke wie ein Katalysator für beide Entwicklungen, die Rückbesinnung auf das eigene kulturelle Erbe und die Öffnung zur Welt.

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Doch der Krieg trifft die Clubs auch ins Mark. Viele DJs kämpfen an der Front oder sind vor dem Krieg geflohen. Die nächtliche Ausgangssperre beschränkt die Einnahmen. Immer weniger Ukrainer können sich einen Clubbesuch leisten. Das Bedürfnis, Gemeinschaft zu erleben und Spannungen abzubauen, sei aber hoch, sagt Yankovskyj. „Ein Clubbesuch hilft mental genauso wie eine andere kulturelle Tätigkeit oder Sport“, sagt er. Besonders junge Menschen nutzten die begrenzten Möglichkeiten zum Feiern. „Sie leben im Moment“, sagt er.

Marcel Weber von der Clubcommission ist gespannt auf den Austausch mit den ukrainischen Partnern. Die Weltlage dränge sich vor allem seit Beginn des Krieges im Nahen Osten mit scharfen Debatten in die Berliner Clubszene. „Mit den ganzen schrecklichen Kriegen um uns herum, gibt es gerade viel Angst. Wir können vielleicht lernen, wie wir mehr Resilienz entwickeln“, sagt er.

Andrii Yankovskyj hat schon mal einen Rat parat. „Wir erleben gerade harte Zeiten, aber es gibt immer noch die Möglichkeit, dass sich das Blatt wendet.“ Er hat die Hoffnung nicht verloren, trotz allem.

QOSHE - Berliner Clubcommission lädt Ukrainer ein: Geht die Party in Kiew auch bei Luftalarm weiter? - Cedric Rehman
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Berliner Clubcommission lädt Ukrainer ein: Geht die Party in Kiew auch bei Luftalarm weiter?

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15.03.2024

DJs und Gäste könnten in Kiew selbst entscheiden, ob bei Luftalarm die Party zu Ende ist, erzählt Andrii Yankovskyi vom Kiewer Clubverband Unight. Das entscheide inzwischen jeder für sich selbst. Die meisten Ukrainer haben eine App der Regierung auf ihr Smartphone geladen. Eine heulende Sirene als Signalton macht sie darauf aufmerksam, dass Raketen oder Drohnen im Anflug sind. Zu Beginn des Krieges hätten die Veranstalter in den Clubs bei Alarm den Bässen noch die Stecker gezogen und alle Clubbesucher in den nächsten Luftschutzraum geschickt.

Aber im dritten Kriegsjahr sei die allgegenwärtige Bedrohung längst Alltag geworden, berichtet Yankovskyj. Er betreibt in Kiew den Club HVLV. „Die Menschen können bei Alarm den Club verlassen, um in einen Bunker zu gehen und dann in der Nacht in ihrer Wohnung von einer Rakete getroffen werden“, sagt Yankovskyj. Angesichts einer solchen Realität tanzten die meisten Partygäste auch bei Alarm einfach weiter.

Clubs haben in der Ukraine nur tagsüber geöffnet. Nachts gilt in den Städten eine je nach militärischer Lage in jeder Region unterschiedlich lange Ausgangssperre. Die Kiewer müssen zwischen 0 und 5 Uhr zu Hause bleiben. Bars und Kneipen schicken die letzten Nachtschwärmer gegen 23 Uhr auf den Heimweg.

Andrii Yankovskyi schildert die neuen Regeln beim Feiern in der Ukraine im Schwuz an der Rollbergstraße wenige Tage vor der gemeinsamen Veranstaltung der Clubcommission und des Verbands Unight in Berlin am 15. März. Der Schwuz-Geschäftsführer Marcel Weber ist auch Erster Vorsitzender der Berliner Clubcommission. Der von Weber geleitete Zusammenschluss der Berliner Clubbetreiber hat Unight nach Berlin geladen. Einen Tag lang wollen sich die Vertreter der Clubs aus Berlin und Kiew........

© Berliner Zeitung


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