„Das ist nicht fair! Warum tun die Araber das? Wir sollten sie alle umbringen!“, ruft die Nichte meines Mannes, ein sechsjähriges Mädchen, das in jenem Moment ihren vier Jahre alten Bruder fest umklammert.

Uns schützen die Betonmauern eines verstärkten Treppenhauses, zu dem meine Familie, genau wie die restlichen Bewohner des Hauses, an diesem Tag noch öfter fliehen werden. Neben dem Gemurmel der Menschen hört man vor allem eins: Das Geheul der Sirenen in der Luft, Dutzende Explosionen über unseren Köpfen, die Mauern vibrieren, aber halten wie erwartet stand.

Es ist der 7. Oktober 2023, in dessen sonnigen Morgenstunden Soldaten der Terrororganisation Hamas den Grenzzaun überwinden, von Gaza aus in israelisches Gebiet eindringen und alles erschießen, was ihnen vor die Nase läuft. Großmütter in ihren Häusern, Hunde auf der Straße, ein ganzes Musikfestival voll vornehmlich junger Menschen aller Hautfarben, Frauen, Männer, Kinder, vollkommen egal. Dutzende werden von den Terroristen in den Gazastreifen verschleppt, in Videoclips präsentieren sie misshandelte Kinder und scheinbar vergewaltigte, blutüberströmte Frauen.

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Derweil flüchtet die Bevölkerung des Landes vor einem Dauerbeschuss an Raketen in Bunker, Treppenhäuser, sichere Räume, wie sie es seit jeher tun. Aber dieses Mal ist alles anders. Dieses Mal sind Terroristen direkt auf israelisches Gebiet eingedrungen und haben ein Blutbad geschaffen, wie es Israel seit 50 Jahren nicht mehr gesehen hat.

Meine österreichische Mutter und ich, in Bayern geboren und aufgewachsen, verfolgen das Grauen von Tel Aviv aus, auf dem Sofa meiner Schwägerin, bei der wir uns in der Not einquartiert haben. Unser Airbnb in Jaffa sei nicht sicher. Zu viele Muslime, man wisse nicht, wer an diesem Abend noch dem Aufruf der Hamas zum Heiligen Krieg folgen würde.

Ursprünglich waren wir für unsere Hochzeitsfeier nach Israel angereist. Jetzt sitzen meine Mutter und ich kraftlos auf der Couch, während die Kinder spielen und mein Mann mit meinem Schwager versucht, unsere Flüge auf den nächstmöglichen Termin zurück nach Deutschland umzubuchen.

Dann heulen wieder die Sirenen, meine Mutter und ich schrecken wie Hühner auf, die den Wolf nicht haben kommen hören, und laufen samt Kind und Kegel zurück ins Treppenhaus.

Wir haben Glück: Sonntagfrüh, um sechs Uhr, geht der Flieger zurück nach Deutschland. Nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt. Egal. Als wir in Deutschland den Flieger verlassen, hätte ich am liebsten die Erde geküsst. Nach 40 Stunden ohne Schlaf erreichen mein Mann und ich schließlich unsere Wohnung in Berlin.

Noch immer befindet sich Israel und damit die Familie meines Mannes, die dort lebt, im Ausnahmezustand. Freunde wurden als Reservisten eingezogen und an die Front versetzt. Ich schlafe nachts nicht mehr gut. Jede Sirene treibt mir den Schweiß auf die Stirn, jedes laute Geräusch lässt mich hochschrecken.

Symptome, die mein Mann schon zeigte, als wir uns vor sechs Jahren in München kennenlernten – und die ich als junger, verwöhnter Deutscher erst jetzt verstehe.

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Trotz Schuldgefühlen der Familie in Israel gegenüber möchte ich den Krieg ein Stück weit vergessen, verdrängen, den normalen Alltag wieder aufnehmen, meinem Nervenkostüm zuliebe. Aber das ist kaum möglich. Denn erst jetzt verstehe ich, dass dieser Krieg nicht nur auf dem Boden und in der Luft geführt wird – sondern auch in den Köpfen.

„Free Palestine and fuck the settlers!“, prangt auf dem Schild, mit dem eine Dragqueen von der Clubbühne aus stolz in die Menge grinst. Die Feiernden klatschen johlend, ich mittendrin, höre wieder die Sirenen, sehe das vor Angst verzerrte Gesicht meiner Mutter.

Viele Menschen geben sich diesem Pseudo-Aktivismus hin, lesen einen oder zwei Artikel online und basteln Schilder zur Verdammung Israels oder Palästinas, als wären sie die personifizierte Erleuchtung in Person: „Elendige Siedler, Unterdrücker!“, „Arabische Terroristen, Barbaren!“

Europäer, die keine Ahnung von Krieg und kaum Ahnung von der Komplexität dieses Konflikts haben, brüllen Stereotype über die Straßen, welche vor allem eins erreichen: Das weitere Aushöhlen des Grabens zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen West und Ost, der ohnehin schon tief genug ist. Es ist eine Ohrfeige ins Gesicht jeden, der diesen Konflikt – egal auf welcher Seite – tatsächlich miterlebt hat.

Blutige Gründe für Krieg lassen sich auf beiden Seiten leicht finden. Sie treiben die Hamas genauso an wie rechtskonservative Israelis mit ihrer Siedlungspolitik, aber auch Menschen in Deutschland, welche den Terroranschlag als gerechten Siegeszug auf den Straßen feiern oder wieder Judensterne auf deutsche Wohnhäuser sprayen.

Gründe für Frieden lassen sich ungleich schwieriger festhalten. Gründe wie die Tatsache, dass die meisten Israelis und Palästinenser einen Konflikt austragen, welchen ihre Großeltern oder Urgroßeltern begonnen haben. Dass beide Parteien ein Recht auf selbstbestimmtes, freies und friedliches Leben in der Region haben, welche sie seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten Heimat nennen.

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Israel muss das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkennen. Palästinenser müssen akzeptieren, dass Israels Bürger nach über zwei Generationen im Mittleren Osten ebenso heimisch sind, wie sie selbst. Auf beiden Seiten weinen Zivilisten über den Leichen ihrer Verstorbenen. Auf beiden Seiten existiert der Wunsch, dass dieser Albtraum endlich aufhört.

Als Außenstehende sollten wir diesen Wunsch unterstützen, anstatt online auf TikTok oder auf deutschen Straßen zu verteufeln, verharmlosen, verunglimpfen und entmenschlichen. Es ist respektlos den Opfern gegenüber und ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer Brücke, welche die beiden verfeindeten Völker eines Tages vielleicht einen mag.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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QOSHE - Nahostkonflikt: Warum Pseudo-Aktivismus nicht hilft - Andreas Schmid
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Nahostkonflikt: Warum Pseudo-Aktivismus nicht hilft

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19.11.2023

„Das ist nicht fair! Warum tun die Araber das? Wir sollten sie alle umbringen!“, ruft die Nichte meines Mannes, ein sechsjähriges Mädchen, das in jenem Moment ihren vier Jahre alten Bruder fest umklammert.

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© Berliner Zeitung


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