„You want some? It’s shrooms.“ Ein neuer Freund hält mir fragend ein Stück Schokolade hin. Um uns prasselt Techno auf willige Tänzer ein, halb nackte Männerkörper zucken in grünen, gelben, roten Neonblitzen, während ich die Süßigkeit zerkaue. Schmeckt bitter, aber schon bald merke ich nichts mehr, tanze, tanze, tanze durch die Nacht.

In den frühen Morgenstunden ziehe ich normale Klamotten über Höschen und Harnisch und verlasse den Schwulenclub Lab.oratory, der im Gebäude des berühmten Berghains sitzt. Noch immer sind die Straßen belebt, Männer, Frauen und alles dazwischen spazieren in Latexträumen oder bunt zusammengenähten DIY-Klamotten über die Straßen, lachen, tanzen, feiern das Leben. Und ich? Ich verstehe zum ersten Mal, wie echte Freiheit schmeckt.

Frischer Wind fürs Dorfleben? Warum die zunehmende Gentrifizierung so bedrohlich ist

29.11.2023

Scooter-Frontmann H.P. Baxxter: „Berlin hat diese Mischung aus Punk, Techno und Glamour“

13.01.2024

Dabei kamen wir erst gar nicht so gut aus, die Hauptstadt und ich. Dazu muss man wissen, ich stamme aus dem tiefsten Erzbayern – so tief, es wäre kaum verwunderlich, wenn die Felle der Kühe in blau-weißen Routen wachsen oder Wolpertinger durch Büsche huschen würden.

Zu laut, zu dreckig, zu groß, zu verrückt – spätestens, als mir ein unter Drogen stehender Herr mit Irokesenschnitt am helllichten Tag brüllend die Faust vors Gesicht hielt, wäre ich am liebsten auf meinen Koffern zurück ins heimelige München geschossen.

Aber eine neue Liebe gibt man nicht gleich auf. Schließlich fand ich unter Berlins Dreckschicht einen unwiderstehlichen Charme, der mich bis heute in seinen Bann zieht: Merkwürdige kleine Läden, die ausschließlich glupschäugige Kuschelmonster verkaufen, spontane Ghettoblaster-Konzerte im U-Bahn-Schacht, Graffiti-Collagen und Telefonzellen-Discos, Berlin ist so einzigartig wie seine Menschen. Männer in engen Röcken und mit Nagellack laufen mit einer Selbstverständlichkeit über die Straße, von der man anderswo nur träumen kann – was mich selbst jeden Tag inspiriert, zu wagen, zu träumen, frei zu sein.

22.02.2024

22.02.2024

21.02.2024

gestern

•vor 6 Std.

Fährt man dann aus Friedrichshain oder Kreuzberg Richtung Savignyplatz, mit seinen Pianoläden und Weinverkostungen, hätte man sich genauso gut nach München beamen können. Das ist das Wundervolle an Berlin: Jeder findet hier seinen Platz, sein eigenes Handtaschenuniversum, in dem man sein kann, wie man will. Das wiederum zieht die verschiedensten Menschen aus allerlei Ländern an. Horizonte werden erweitert, neue Freundschaften geschlossen und in vielen Fällen eine ganz eigene, neue Kultur geschaffen, die man andernorts kaum findet.

Aber es droht Gefahr im Schlaraffenland. Die Häscher des Kapitalismus schleichen auf leisen Pfoten, haben die Stadt dabei aber längst im Griff. Der kürzlich fertiggestellte Amazon-Edge-Tower wacht wie das Auge Saurons über Friedrichshain, nur wenige Meter dahinter liegt der Mercedes-Benz-Platz. Einst öffnete hier zwischen den still gelegten Gleisen des Ostgüterbahnhofs das urig-dreckige Berlin mit dem Ostgut, dem Vorreiter des Berghains, seine Pforten für hedonistisches Partyvolk.

Heute ist das Gelände zum glatt geleckten Konsumpark verkommen – Pardon, „aufgewertet“. Eine Betonwüste, deren Einheitsbrei rund um Büros, Kino und Shopping auch in jeder anderen Stadt hätte stehen können. Und Sauron – ich meine die Investoren – ist noch lange nicht fertig. Denn deren Auge richtet sich auf Dutzende Bereiche der Stadt, in denen das alte Graffiti-Berlin und deren Bewohner noch Zuflucht finden – eines davon ist das RAW direkt gegenüber des Amazon-Towers. Ebenfalls ein altes Bahngelände, dessen Bewohner über die Jahre ein buntes Riff voller Clubs, Ateliers, Skatehallen und Hinterhofcafés geschaffen haben.

Koksen im Reihenhauskeller: Was ich im Berliner Speckgürtel über Wohlstand lernte

19.02.2024

Von Simon-Dach bis Kollwitzplatz: Berliner Kieze, die wir gerne abreißen würden

03.09.2023

Aber eine Ruine lässt sich schlecht gewinnbringend verkaufen. Die Investorenfamilie Kurth, welche einen Großteil des Geländes vor Jahren günstig einkaufte, macht inzwischen Ernst. Ein Bebauungsplanentwurf steht und man marschiert gnadenlos auf das Baurecht zu, widerständige Kulturinitiativen werden dabei von Veranstaltungen ausgesperrt, die Stimmen anwohnender Künstler mit subventionierten Mieten erkauft. Ein Hochhaus wird seinen Schatten über Friedrichshains gründerzeitliche Wohnquartiers werfen, RAW-Originalgebäude werden teils abgerissen, Graffiti vernichtet, Clubs umgesiedelt, Kulturgärten brach gelegt.

Angeblich soll die natürlich gewachsene, kreative DNA des Geländes erhalten und in die Neubauten rund um Büros, Shopping und Einzelhandel eingepflegt werden. Klingt aber eher nach einem zweiten Mercedes-Platz, der seinen Würgegriff um die Überreste des wilden Berlins schließt. Und natürlich nach Gewinn in dreistelliger Millionenhöhe für die Kurths.

Liebe Berliner, ich weiß, wie eine Stadt aussieht, in welcher die Gentrifizierung im Endstadium angekommen ist. Sicher, München ist unvergleichlich schön, mit seinen bunten Türmchen, Statuen, Seen und Wasserfällen. Dafür sind die Mieten in der gesamten Stadt so hoch, dass selbst der Speckgürtel kaum bezahlbar ist.

Investorengeist und gewinnbringende Rendite haben die Gassen der Stadt glattgebügelt, Kreativität und provokantes Anderssein ausgemerzt und das einst wilde Schwabing unter Pianoläden und schicken Boutiquen begraben. Es bleibt eine immerschöne Stadt, in der die Menschen gleich aussehen, die gleichen Läden besuchen und gleich denken. Ein Teil von mir wird immer in München zu Hause sein. Und sicher, wenn man mit der Lupe sucht, findet man sie noch, die kleinen Bastionen der Individualität zwischen Luxus und Gutbürgertum.

Aber es hat Berlin gebraucht, mit seinem Flickenteppich unterschiedlichster Lebensrealitäten, mit all seinen schönen, hässlichen, kreativen, langweiligen und provokanten Seiten, um zu realisieren, wer und was ich alles sein kann – eine Erkenntnis, die in München nicht stattfinden konnte.

Leider sind der Mercedes-Benz-Platz und das RAW-Gelände keine Einzelfälle. 2015 ließ der italienische Künstler Blu seine berühmten Wandgemälde der Cuvry-Brache aus Protest schwarz übermalen, als auf dem Umschlagplatz für Aussätzige und Obdachlose Wohnungen gebaut werden sollten.

Auch am Nollendorfplatz wird der Bau von Luxuswohnungen gegen den Willen des Kiezes durchgedrückt und queere Kultur verdrängt. Bei anderen Projekten, etwa der Wasserstadt Mitte, wurden fadenscheinige Diversitätsbekundungen vorgeschoben, die dann ebenfalls in gleichgeschalteten Luxuswohnungen endeten. Investoren ziehen wie Heuschreckenschwärme voran und zerstören dabei ironischerweise oft jene chaotisch gewachsenen Kreativviertel, die nur in einem ungeplanten Vakuum entstehen und dem jeweiligen Kiez erst Charme und finanzielle Attraktivität verleihen.

Museum der Dinge: Die Gentrifizierung schlägt in Kreuzberg zu

02.11.2023

Vielleicht lässt sich diese Entwicklung nicht aufhalten – aber ganz Berlin sollte dafür kämpfen, dass Aufwertungen nicht nur gewinnbringende Renditen für Investoren bedeuten, sondern auch einen Erhalt der Berliner Seele, dem chaotischen, rauen Charme, welcher diese Stadt so einzigartig macht. Dafür braucht es Zivilcourage – und Kieze, die sich wehren, anstatt die eigene Seele abzuverkaufen.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - Die Gefahr der Gentrifizierung: Rettet die Berliner Seele! - Andreas Schmid
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Die Gefahr der Gentrifizierung: Rettet die Berliner Seele!

9 14
24.02.2024

„You want some? It’s shrooms.“ Ein neuer Freund hält mir fragend ein Stück Schokolade hin. Um uns prasselt Techno auf willige Tänzer ein, halb nackte Männerkörper zucken in grünen, gelben, roten Neonblitzen, während ich die Süßigkeit zerkaue. Schmeckt bitter, aber schon bald merke ich nichts mehr, tanze, tanze, tanze durch die Nacht.

In den frühen Morgenstunden ziehe ich normale Klamotten über Höschen und Harnisch und verlasse den Schwulenclub Lab.oratory, der im Gebäude des berühmten Berghains sitzt. Noch immer sind die Straßen belebt, Männer, Frauen und alles dazwischen spazieren in Latexträumen oder bunt zusammengenähten DIY-Klamotten über die Straßen, lachen, tanzen, feiern das Leben. Und ich? Ich verstehe zum ersten Mal, wie echte Freiheit schmeckt.

Frischer Wind fürs Dorfleben? Warum die zunehmende Gentrifizierung so bedrohlich ist

29.11.2023

Scooter-Frontmann H.P. Baxxter: „Berlin hat diese Mischung aus Punk, Techno und Glamour“

13.01.2024

Dabei kamen wir erst gar nicht so gut aus, die Hauptstadt und ich. Dazu muss man wissen, ich stamme aus dem tiefsten Erzbayern – so tief, es wäre kaum verwunderlich, wenn die Felle der Kühe in blau-weißen Routen wachsen oder Wolpertinger durch Büsche huschen würden.

Zu laut, zu dreckig, zu groß, zu verrückt – spätestens, als mir ein unter Drogen stehender Herr mit Irokesenschnitt am helllichten Tag brüllend die Faust vors Gesicht hielt, wäre ich am liebsten auf meinen Koffern zurück ins heimelige München geschossen.

Aber eine neue Liebe gibt man nicht gleich auf. Schließlich fand ich unter Berlins Dreckschicht einen unwiderstehlichen Charme, der mich bis heute in seinen Bann zieht: Merkwürdige kleine Läden, die ausschließlich glupschäugige Kuschelmonster verkaufen, spontane Ghettoblaster-Konzerte im U-Bahn-Schacht, Graffiti-Collagen und Telefonzellen-Discos, Berlin ist so einzigartig wie seine Menschen. Männer in engen Röcken und mit Nagellack laufen mit einer........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play