München - Wer vor zehn Jahren zuletzt durch die Sendlinger Straße gelaufen ist, dürfte sie heute wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Ein gewisses Maß an Veränderung im Zentrum einer Großstadt ist im Laufe der Zeit sicherlich normal – Geschäfte schließen, andere öffnen, Gebäude werden renoviert. Der Wandel der Sendlinger Straße ging aber deutlich über dieses Maß hinaus.

Seit 2019 ist die Einkaufsmeile in der Altstadt eine Fußgängerzone. Die Parkplätze, die Autos und die Gehsteigkanten kamen weg, dafür wurden graue Kunststeinplatten und anthrazitfarbener Naturstein in der ganzen Straße verlegt. "Betonwüste" nennen das Kritiker, Bäume und Rundbänke mit Pflanzenbeet gibt es nur vereinzelt. Den Vorschlag, in der Sendlinger einen Zierbrunnen zu bauen, lehnte die Stadt ab, genau wie die Idee, einen einen unterirdischen Bach an die Oberfläche zu holen und durch die Einkaufsstraße plätschern zu lassen.

"Die Sendlinger Straße lädt dank der autofreien Fußgängerzone bestens zum Flanieren ein", heißt es von der Stadt. Weniger einladend ist der Anblick, der sich dort im Moment an manchen Ecken bietet: Etliche Geschäfte stehen leer, Schilder wurden abmontiert. Was bleibt, sind Spuren an der Fassade, die Schriftzüge hinterlassen haben und Schaufenster, in denen Plastikfolien von der Decke hängen und den Blick ins Innere verdecken.

Eine autofreie Einkaufszone zum Verweilen und Flanieren – und doch stehen Verkaufsflächen leer. Warum? Keine ganz leichte Frage, denn viele Faktoren spielen eine Rolle.

"In der Sendlinger Straße gibt es mehr Leerstand als in der Kaufingerstraße, das ist keine 1-a-Geschäftskernlage", erklärt Prof. Stephan Kippes vom Immobilienverband IVD Süd. Hier zähle man rund zwei Drittel weniger Passanten im Vergleich zur großen Einkaufsmeile um die Ecke. Dies liege auch daran, dass die Aufenthaltsqualität jenseits des Sendlinger Tors rapide nachlasse und dort eine große U-Bahn-Baustelle das Straßenbild dominiere.

Seit März 2017 wird der U-Bahnhof Sendlinger Tor bei laufendem Betrieb umgebaut. "Bis Ende 2023 sind die meisten Arbeiten am Zukunftsbahnhof abgeschlossen", teilt die MVG mit. Im ersten Halbjahr 2024 sollen noch Rest-Arbeiten an zwei Aufgängen, in der Bahnsteigebene der U3/U6 sowie die Oberflächengestaltung am Sendlinger-Tor-Platz stattfinden. Damit wären die Bauarbeiten nach mehr als sechs Jahren abgeschlossen, keine Bauzäune würden die Passanten mehr am Flanieren hindern.

Die Situation am Sendlinger-Tor-Platz dürfte zu weniger Kunden in der Sendlinger Straße führen, nicht jedoch die autofreie Zone, schätzt Kippes: "Durch die Fußgängerzone ging die Zahl der Passanten etwas nach oben. Allerdings auch die Mieten". Der Effekt sei, dass alteingesessene, kleine Läden das nicht stemmen können. "Oft gibt es Fünf-Jahres-Mietverträge, nach fünf Jahren kann der Vermieter unter Umständen 20 Prozent mehr verlangen", erklärt Kippes.

Doch es sind nicht nur kleine Läden, die aus der Sendlinger Straße verschwunden sind. Auch große internationale Ketten, für die eine hohe Miete sicherlich ein vergleichsweise kleines Problem darstellt, haben ihre Filialen in der Einkaufsmeile geschlossen.

Der Mobilfunkanbieter Vodafone etwa zog im Oktober 2022 aus der Sendlinger Straße 50 aus. Wir hatten im direkten Umfeld schlichtweg zu viele Filialen und haben uns im Zuge unserer Lagenoptimierung dazu entschlossen, diesen Standort nicht weiterzuführen", teilt das Unternehmen auf AZ-Anfrage mit. Die Alternativstandorte am Marienplatz, in der Neuhauser Straße und in den Stachus Passagen bevorzugte Vodafone. Das Geschäft in der Sendlinger Straße steht seitdem leer.

Auch das ehemalige Geschäft des Kosmetikunternehmens Rituals in der Sendlinger Straße 27 steht inzwischen leer. "Der Store in der Sendlinger Straße war von der Verkaufsfläche her zu klein und wurde daher geschlossen", sagt eine Sprecherin des Unternehmens zur AZ. Die benachbarten Flächen, die zuletzt Starbucks und Lush gemietet hatten, stehen ebenfalls leer – laut Information von City Partner, der Vereinigung der Unternehmen der Münchner Innenstadt, wird das Gebäude kernsaniert.

Das Schuhgeschäft Görtz ist aus der Sendlinger Straße 40 ausgezogen, im Zuge eines Insolvenzverfahrens hatte das Unternehmen den Großteil seiner Filialen geschlossen. Bis heute hat kein Nachmieter die Räumlichkeiten bezogen, die ovale Metallvorrichtung, an der das Görtz-Schild befestigt war, hängt noch immer über dem Eingang.

Durch die autofreie Zone sind in der Einkaufsstraße auch Parkplätze verschwunden. Dass die einen großen Einfluss auf die Passantenfrequenz hatte, bezweifelt Kippes jedoch. "Die Sendlinger Straße ist super erschlossen, auf der einen Seite gibt es die U-Bahn, auf der anderen die S-Bahn", sagt er. Außerdem verweist er auf die umliegenden Parkhäuser.

Manche Ladenbesitzer in Weißenburger Straße - die auch zur Fußgängerzone werden soll - argumentieren, dass Passanten dadurch nicht mehr auf dem Gehsteig und somit nahe an ihren Schaufenstern vorbeilaufen, sondern sich auf der ganzen Straße verteilen würden. Dadurch befürchten sie weniger Umsatz. "Ein gewisser Effekt ist es, ich würde ihn aber nicht überschätzen", meint Kippes dazu. Die Händler könnten davon sogar profitieren: Wenn man am engen Gehsteig entlanglaufe, würde man gar nicht so viel Schaufenster wahrnehmen.

2019 war die Fußgängerzone fertig, Anfang 2020 folgte die Pandemie. Corona und die fehlenden Kunden waren auch ein Grund für das Aus mancher Läden – 2020 haben dort etwa 31 Geschäfte geschlossen und andere aufgemacht.

Vergleichsweise wenige Passanten, kleine Ladenflächen, Bauarbeiten am Sendlinger-Tor-Platz, Corona-Einschränkungen und höhere Mieten durch die Fußgängerzone – es gibt einige Gründe, weshalb die Sendlinger Straße bis zuletzt für manche Unternehmen als Geschäftsstandort nicht attraktiv gewesen sein mag.

Doch die Pandemie ist vorbei und auch die Baustelle am Sendlinger Tor wird bald Geschichte sein. Das sind zumindest zwei Gründe weniger, die offenbar für ein schlechtes Geschäft in der Sendlinger Straße gesorgt haben. Der auffälligste Leerstand in der Einkaufsmeile war bis vor Kurzem das ehemalige Geschäft von Abercrombie and Fitch in der Hofstatt – hier ist nun die amerikanische Möbelkette RH eingezogen. Und wer weiß, vielleicht ist es ja der Anfang einer Einzugsserie in der Sendlinger Straße.

Seit der Corona-Pandemie hat sich das Zentrum von München sehr verändert. Viele Geschäfte mussten schließen, neue Läden haben eröffnet – und manche stehen seit Monaten oder gar Jahren leer. Die AZ zeigt Ihnen in einer neuen Serie den Wandel der Einkaufsmeilen in der Innenstadt und erklärt die Hintergründe.

QOSHE - Immer mehr Leerstand in der "Betonwüste": Darum ist diese Einkaufsmeile ... - Julia Wohlgeschaffen
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Immer mehr Leerstand in der "Betonwüste": Darum ist diese Einkaufsmeile ...

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30.11.2023

München - Wer vor zehn Jahren zuletzt durch die Sendlinger Straße gelaufen ist, dürfte sie heute wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Ein gewisses Maß an Veränderung im Zentrum einer Großstadt ist im Laufe der Zeit sicherlich normal – Geschäfte schließen, andere öffnen, Gebäude werden renoviert. Der Wandel der Sendlinger Straße ging aber deutlich über dieses Maß hinaus.

Seit 2019 ist die Einkaufsmeile in der Altstadt eine Fußgängerzone. Die Parkplätze, die Autos und die Gehsteigkanten kamen weg, dafür wurden graue Kunststeinplatten und anthrazitfarbener Naturstein in der ganzen Straße verlegt. "Betonwüste" nennen das Kritiker, Bäume und Rundbänke mit Pflanzenbeet gibt es nur vereinzelt. Den Vorschlag, in der Sendlinger einen Zierbrunnen zu bauen, lehnte die Stadt ab, genau wie die Idee, einen einen unterirdischen Bach an die Oberfläche zu holen und durch die Einkaufsstraße plätschern zu lassen.

"Die Sendlinger Straße lädt dank der autofreien Fußgängerzone bestens zum Flanieren ein", heißt es von der Stadt. Weniger einladend ist der Anblick, der sich dort im Moment an manchen Ecken bietet: Etliche Geschäfte stehen leer, Schilder wurden abmontiert. Was bleibt, sind Spuren an der Fassade, die Schriftzüge hinterlassen haben und Schaufenster, in denen Plastikfolien von der Decke hängen und den Blick ins Innere verdecken.

Eine autofreie Einkaufszone zum Verweilen und Flanieren – und doch stehen Verkaufsflächen leer. Warum? Keine ganz leichte Frage, denn viele Faktoren spielen eine Rolle.

"In der Sendlinger Straße gibt es mehr Leerstand als in der Kaufingerstraße, das ist keine 1-a-Geschäftskernlage", erklärt Prof. Stephan........

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