Patrick Mayrhofer geriet auf einer Baustelle in einen 6.000-Volt-Stromkreis. Er überlebte, allerdings am ganzen Körper schwer verletzt: Die linke Hand des Elektrikers war zwar noch vorhanden, aber für immer unbrauchbar geworden. Mayrhofer entschloss sich zu einer Amputation, die erst in einem komplizierten Verfahren von einer Ethikkommission bewilligt werden musste.

Der Unfall ereignete sich 2008, Mayrhofer war damals knapp 20 Jahre alt. Heute hat er eine künstliche Hand, arbeitet als Entwickler beim Prothesenhersteller ottobock in Wien - und hat der WZ von seinen Erfahrungen erzählt.

Künstliche Intelligenz (KI) hat zwar im Bereich der Prothesenentwicklung Einzug gehalten, von einem „Quantensprung“, einer technischen Revolution, würde Mayrhofer derzeit noch nicht sprechen. Aber eines ist für ihn klar: „Es geht in diese Richtung“, denn „früher musste ich mich an die Prothese anpassen, heute geht das Gerät auf den ein, der es benutzt.“

Die Digitalisierung brachte gewisse Fortschritte. Anwender:innen füttern die zehntausende Euro teure Prothese via App mit Bewegungsdaten, die künstliche Hand merkt sich diese und führt den richtigen Griff bei Bedarf aus. Die Entwicklung ist aber noch nicht so weit, dass sich die Prothese autonom Fähigkeiten aneignet. „Die selbstlernende Prothese ist das, was noch kommt“, ist Mayrhofer optimistisch. Aber auch hier werde die Kontrolle immer bei den Anwender:innen bleiben.

Schon seit den 80er-Jahren gibt es erste Versuche mit Prothesen, die neuronal gesteuert werden. Das funktioniert so: Wenn ein Mensch an eine bestimmte Handbewegung denkt, sendet das Gehirn entsprechende Nervensignale an die Muskulatur. Auch nach einer Amputation bleibt diese Funktion im menschlichen Gehirn angelegt. Allein, der Muskel als Adressat des Impulses fehlt. Prothesen erkennen mit Hilfe von äußerlich angebrachten Elektroden die vom Hirn gesteuerten Signale und setzen eine bestimmte Bewegung in Gang: Ein von Anwender:innen der Prothese gewünschter Griff wird dann mittels kleiner Elektromotoren ausgeführt.

Früher waren die Griffmöglichkeiten limitiert und simpel, heute sind große Variationen bei der Stärke und der Art des Zugreifens möglich.

Der Orthopädietechniker Hans Oppel, der lang in der Entwicklung tätig war, weiß aber, dass die Bäume in der Prothetik trotz aller KI nicht in den Himmel wachsen. Banal anmutende Schwierigkeiten treten etwa bei Knieprothesen auf. Bei einem rund 80 Kilo schweren Mann, der Stiegen steigen will, „haben wir ein Akkuproblem“, sagt Oppel. Die Prothese brauche enorm viel Strom. Der Anwender strandet im schlechtesten Fall mitten im Stiegenhaus. Außerdem seien die Motorengeräusche sehr laut. Fazit: „Das ist nicht alltagstauglich.“ Zweimal habe er Patienten so ein Gerät zu Testzwecken angepasst, zweimal habe es nach kurzer Zeit „nein danke“ geheißen.

Mayrhofer hat das Glück, dass seine Beine dank ärztlicher Kunst intakt sind und der linke Unterarm nach der Amputation als Stumpf vorhanden blieb. Damit verfügt er über alle notwendigen Muskeln, um seine Prothese bedienen zu können. Fehlt der Unterarm komplett, muss die Steuerung der Prothese über Bizeps und Trizeps bewerkstelligt werden – eine große Herausforderung.

Pinzettengriff, Drei-Punkt-Griff, Vollgriff: Das sind drei von 28 für eine gesunde Hand mögliche Varianten. Sieben Arten des Zupackens genügen laut Oppel völlig, um im Alltag 80 Prozent der notwendigen Handbewegungen ausführen zu können. Mayrhofer sagt, dass in der Praxis sogar zwei bis vier Griffe völlig ausreichen. „Zu viele verschiedene Bewegungen verwirren das Gerät nur.“ Es gibt zudem verschiedene Profile, die man in die digitale Maschine einprogrammieren könne − Arbeit, Sport, Freizeit. Der Anwender oder die Anwenderin der Prothese, so Mayrhofer, suche sich eines der Programme aus, je nachdem, was er oder sie gerade vorhat.

Und wie fühlt es sich an, wenn man eine künstliche Hand trägt? „Ich bin so weit, dass ich sie fast automatisch verwende und nicht mehr groß nachdenken muss“, sagt Mayrhofer. Aber ganz klar sei auch, dass eine Prothese eine echte Hand aus Fleisch und Blut nie ersetzen können wird. Das, was fehle, sei das Gefühl. „Ich kann zum Beispiel keinen Schlüssel aus der Hosentasche holen, ich spüre ihn nicht“, sagt Mayrhofer. Die Entscheidung gegen seine funktionslos gewordene Hand und für eine Prothese hat er trotzdem nie bereut.

QOSHE - Die denkende Prothese ist noch ein Zukunftstraum - Michael Schmölzer
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Die denkende Prothese ist noch ein Zukunftstraum

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14.04.2024

Patrick Mayrhofer geriet auf einer Baustelle in einen 6.000-Volt-Stromkreis. Er überlebte, allerdings am ganzen Körper schwer verletzt: Die linke Hand des Elektrikers war zwar noch vorhanden, aber für immer unbrauchbar geworden. Mayrhofer entschloss sich zu einer Amputation, die erst in einem komplizierten Verfahren von einer Ethikkommission bewilligt werden musste.

Der Unfall ereignete sich 2008, Mayrhofer war damals knapp 20 Jahre alt. Heute hat er eine künstliche Hand, arbeitet als Entwickler beim Prothesenhersteller ottobock in Wien - und hat der WZ von seinen Erfahrungen erzählt.

Künstliche Intelligenz (KI) hat zwar im Bereich der Prothesenentwicklung Einzug gehalten, von einem „Quantensprung“, einer technischen Revolution, würde Mayrhofer derzeit noch nicht sprechen. Aber eines ist für ihn klar: „Es geht in diese Richtung“, denn „früher musste ich mich an die Prothese anpassen, heute geht das Gerät auf den ein, der es benutzt.“

Die Digitalisierung brachte gewisse Fortschritte. Anwender:innen füttern die zehntausende Euro teure Prothese via App mit Bewegungsdaten,........

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