Gunther Hirschfelder spricht schnell − und kommt schnell auf den Punkt: „Die Verfügbarkeit von Protein ist die Achillesferse der Menschheitsgeschichte“, postuliert der deutsche Anthropologie-Professor, deshalb hätten wir zu Beginn unserer Menschwerdung alles gegessen, was uns untergekommen ist: „Alle fangbaren Tiere, Insekten, Aas, Krebse, Muscheln.“ Lucy, unsere Vorfahrin, die vor rund 3,2 Millionen Jahren lebte und aufrecht gehen konnte, hatte noch ein affenähnliches Gehirn und die Ernährung war vorwiegend pflanzlich. Erst durch erhöhte Proteinzufuhr konnte sich das menschliche Gehirn laut dem Forscher zu seiner heutigen Größe entwickeln – ein Prozess, der vor etwa 50.000 Jahren abgeschlossen war. Ob Fleisch wirklich für unsere Evolution unabdingbar war, ist wissenschaftlich allerdings umstritten.

Heute haben wir laut Hirschfelder im Angesicht der Klimakrise eine „Fleischscham“ entwickelt – „wer Currywurst isst, gilt schon als Freak“. Es gibt Insekten-Burger als mögliche Vorboten einer künftigen Ära, die Proteinversorgung wird ohne Fleisch gedacht. Aber was werden wir tatsächlich in Zukunft essen? Und wie werden wir unsere Nahrungsmittel produzieren?

Der Forscher hat versucht, Antworten zu finden. Und er unterstreicht, dass seine Schlüsse unter den Student:innen nicht unwidersprochen bleiben. Zumal „korrektes Essen“ gerade heute eine Definitionsfrage ist und zu einer Ideologie geworden sei.

Hirschfelder hat folgende Zukunftstrends identifiziert:

Genfood, In-vitro-Fleisch und innovative Technologien werden in Zukunft breiter akzeptiert. Weiters gehört die Zukunft laut Hirschfelder einer personalisierten Ernährung: Health Food werde mehr Raum einnehmen, die Konsument:innen würden ihre Körperdaten messen und ihre Ernährung entsprechend darauf abstimmen.

Die Landwirtschaft ist laut dem Forscher einem fundamentalen Wandel unterworfen, angesichts des Bevölkerungswachstums müsse die Produktion bis zum Jahr 2050 um mindestens 60 Prozent gesteigert werden. Lebensmittelsicherheit rücke in den Vordergrund. Laut Hirschfelders Prognose wird der Alptraum eines/einer jeden Klimaschützers/Klimaschützerin bittere Wahrheit sein: „Der globale Fleischverbrauch wird sich verdoppeln.“ Anders ist die überlebenswichtige Proteinversorgung global nicht zu bewerkstelligen. Landwirtschaft werde künftig mit der Erderwärmung fertig werden müssen. Zur Methanreduzierung werde es neue Methoden zur Futtermittelerzeugung geben, die Landwirtschaft werde verstärkt auf eine wissenschaftlich-technologische Basis gestellt.

Nahrungs- und Umweltkrisen, so die düstere Prognose, werden bis zur Jahrhundertmitte stark zunehmen. Demnach geht es um die Erschließung nachhaltiger, alternativer Proteinquellen – etwa Pflanzen, „die wir im Moment noch gar nicht kennen“. In den nächsten zehn Jahren werden Nutzpflanzen wie Rucola, Spinat und Quinoa verstärkt angebaut, wachsen wird das Gemüse teilweise in einem „controlled environment“ − in großen Glashäusern unter der Erde, die dem Klimawandel trotzen, um so Millionen von Menschen ernähren zu können. Mikroalgen werden im großen Maßstab produziert, ein proteinreiches Futtermittel, weil Sojaimporte zu teuer werden.

„Insekten und Mehlwürmer“ werden in unseren Breitengraden häufiger auf den Teller kommen, „denn Ekel ist kulturell gelernt und kann sich in Verlangen umkehren“, so Hirschfelder. Dennoch sieht er Raupen und Würmer eher als Futtermittel verarbeitet in Mägen von Nutztieren landen als in menschlichen.

Tierische Produkte sind künftig unverzichtbar, behauptet der Wissenschaftler. Schon deshalb, um dem drohenden Proteinmangel entgegenwirken zu können. Die Steigerung des Fleischverbrauchs werde in China als große Errungenschaft gefeiert, auch in Europa bleibe der Absatz stabil – Verbote seien in Demokratien nicht praktikabel.

Gleichzeitig werde es zu einer Aufwertung von Lebensmitteln aus der Region kommen – „regional ist das neue Bio, dieser Trend wird sich fortsetzen“.

Derzeit forschen Großkonzerne intensiv im Bereich hochverarbeiteter Lebensmittel. „Das machen sie nicht, wenn sie nicht davon ausgehen würden, dass sie es auch verkaufen werden“, sagt Hirschfelder. In Europa wird sich im Bereich Lebensmittel eine Schere auftun zwischen einem wachsenden Luxussegment und wachsender Armut. „Der Konsum qualitativ hochwertiger Produkte könnte sich entdemokratisieren.“

Angesichts der Klimakrise wird es kein Zurück zu einer ursprünglichen bäuerlichen Landwirtschaft geben, ganz im Gegenteil: „Wir sehen eine Tendenz zum großen Agrobusiness.“ Eine Entwicklung, die Hirschfelder für „ethisch beschämend“ hält. Die alte bäuerliche Welt bedeute eine katastrophale CO2-Bilanz, Armut, Hunger und Überweidung. Feststellbar sei das am Beispiel Äthiopien. Die globale Landwirtschaft müsse künftig viel mehr produzieren, nachhaltiger und effizienter werden, um alle ernähren zu können. Dem werde sich eine Ökologiebewegung entgegenstellen, die in ihrer Vorgangsweise radikaler sei als vergangene.

Klimawandel, Kriege wie in der Ukraine und Seuchen wie Covid lassen Hirschfelder für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Der Konsum könnte nach Jahrzehnten des Überflusses wieder sinken. Diskutiert werde dann nicht mehr über Tierwohl und Veganismus – für Hirschfelder reine „Luxusdebatten“. In Krisenzeiten „werden wir andere Dialoge führen“, ist er sicher: „Überlebensdialoge“.

QOSHE - Aus Ekel wird Verlangen: Die Zukunft unserer Ernährung - Michael Schmölzer
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Aus Ekel wird Verlangen: Die Zukunft unserer Ernährung

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03.04.2024

Gunther Hirschfelder spricht schnell − und kommt schnell auf den Punkt: „Die Verfügbarkeit von Protein ist die Achillesferse der Menschheitsgeschichte“, postuliert der deutsche Anthropologie-Professor, deshalb hätten wir zu Beginn unserer Menschwerdung alles gegessen, was uns untergekommen ist: „Alle fangbaren Tiere, Insekten, Aas, Krebse, Muscheln.“ Lucy, unsere Vorfahrin, die vor rund 3,2 Millionen Jahren lebte und aufrecht gehen konnte, hatte noch ein affenähnliches Gehirn und die Ernährung war vorwiegend pflanzlich. Erst durch erhöhte Proteinzufuhr konnte sich das menschliche Gehirn laut dem Forscher zu seiner heutigen Größe entwickeln – ein Prozess, der vor etwa 50.000 Jahren abgeschlossen war. Ob Fleisch wirklich für unsere Evolution unabdingbar war, ist wissenschaftlich allerdings umstritten.

Heute haben wir laut Hirschfelder im Angesicht der Klimakrise eine „Fleischscham“ entwickelt – „wer Currywurst isst, gilt schon als Freak“. Es gibt Insekten-Burger als mögliche Vorboten einer künftigen Ära, die Proteinversorgung wird ohne Fleisch gedacht. Aber was werden wir tatsächlich in Zukunft essen? Und wie werden wir unsere Nahrungsmittel produzieren?

Der Forscher hat versucht, Antworten zu finden. Und er unterstreicht, dass seine Schlüsse unter den Student:innen nicht unwidersprochen bleiben. Zumal „korrektes Essen“........

© Wiener Zeitung


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