Auf Social Media gibt Herbert Kickl gerne den einsamen Wolf: Mal stapft er mit auf den Rücken geschnallten Tourenski im Tiefschnee einen Steilhang aufwärts. Mal bezwingt er im Seil hängend eine extrem abschüssige Felswand. Mal posiert er in Läufermontur vor einer sattgrünen Wiesenlandschaft mit dem Victory-Zeichen.

Auf seinem gewohnten Platz im vollbesetzten Parlamentsplenum wirkt der FPÖ-Chef diesen Mittwochmorgen dennoch etwas verloren.

Die traditionelle Hackordnung will es, dass von der Regierungsbank aus gesehen, im rechten Sektor des Hohen Hauses die ÖVP, im linken die SPÖ platziert ist. Anschließend sitzen die grünen Abgeordneten. Im in der Mitte des Nationalrats-Sitzungssaals gelegenen Sektor müssen sich aus schlichten Platzgründen die ersten beiden Reihen Blaue und Neos teilen. Denn den Pinken stehen auch als kleinstem Klub zumindest ein prestigeträchtiger Platz in der ersten und zwei in der zweiten Reihe zu.

Die besten vier Plätze im Hohen Haus, in der Pole-Position vis-à-vis Rednerpult und Regierungsbank, bieten so nicht nur den TV-Zusehern ein prima vista irritierendes Bild: FPÖ-Klub- und Parteichef Herbert Kickl, flankiert vom Chef des Freiheitlichen Bildungsinstituts Axel Kassegger und dem blauen Parlamentspräsidenten Norbert Hofer. Rechts von den drei blauen Granden ist nur noch für Neos-Klub- und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger Platz.

Es ist aber nicht die unfriendly Nachbarschaft in Gestalt einer seiner schärfsten Kritikerinnen, die Kickl an diesem Tag irritiert. Der FPÖ-Vormann glänzt im Parlamentsalltag zwar oft durch Abwesenheit. Seine Sitznachbarin meist schlicht zu ignorieren, liegt dem blauen Einzelgänger im Blut.

Es ist die Agenda zu Beginn des einzigen Sitzungstages im ganzen Monat April, die Kickl sichtlich nervös erscheinen lässt. An sich stünden nur niederpulsige Vorhaben wie die Renaissance des Handwerker-Bonus und grünes Verfassungs-Licht für die Einhebung einer Wohnungs-Leerstandsabgabe durch die Länder auf der Tagesordnung.

Die ÖVP hat sich seit den ersten Enthüllungen über blaue Verbindungen zu mutmaßlichen Russland-Spionen und ihren Helfern im einst auch von Herbert Kickl geführten Innenministerium einem neuen Vorwahlkampf-Motto verschrieben: Im Lichte des Spionageskandals und der FPÖ-Bande zu Wladimir Putin sucht die ÖVP den Möchtegern-Volkskanzler nun als „Volksverräter“ zu branden (siehe Politik Backstage vom 12. 4. 2024: "Kickt sich Kickl Out?").

Die ÖVP greift diesen Mittwoch daher in die parlamentarische Trickkiste, um ihrer neuen Causa primissima neuerlich eine Bühne zu bieten. Sie nutzt ihr Antragsrecht eine sogenannte “Aktuelle Stunde” zu Sitzungsbeginn anzusetzen. Ähnlich harmlos wirkt aber nur das Motto, das die ÖVP gewählt hat, um den formalen Regeln für eine “Aktuelle Stunde” gerecht zu werden.

Unter dem offiziellen Motto “Der neue Staatsschutz sorgt für die Sicherheit unseres Landes” wird Innenminister Gerhard Karner zu einer “Aktuellen Stunde” geladen, bei der freilich ein anderer Spitzenpolitiker im Mittelpunkt stehen soll.

Die ÖVP bietet Generalsekretär Christian Stocker und den Spitzenkandidaten zur EU-Wahl als Erst-Redner auf, um einmal mehr das – beinahe täglich neu angereicherte – Sündenregister der FPÖ und von Herbert Kickl in Sachen “Zerschlagung des BVT”, des früheren Staatsschutz- und Nachrichtendienstes und Verstrickungen der Blauen in das Spionagenetz Putins herunterzubeten.

Bis Herbert Kickl ans Rednerpult kann sind noch vier weitere Redner aller anderen Fraktionen am Wort. Kickl wippt derweil unruhig in seinem Sessel, spielt nervös mit seinen Fingern, nippt halbminütlich an einem Glas Wasser und einer Dose Red Bull. Zwischendurch nimmt er immer wieder seine handgeschriebenen Redekarten zur Hand, ergänzt sie da und dort oder highlightet eine Notiz mit einem orangen Textmarker.

Seitenlange Interview- und Rede-Unterlagen in dieser Art hat Kickl noch vor wenigen Jahren für Heinz Christian Strache im Dutzend produziert.

Jetzt eilt er selber mit einer Miniatur-Ausgabe dieser Gedankenstütze ans Rednerpult. “Diese aktuelle Stunde ist eine Stunde der Desinformation und der Manipulation der Einheitspartei”, legt der blaue Vormann los und fährt bald mit schwersten Geschützten in Richtung der schwarz-türkisen Christdemokraten auf: “Sie haben das 9. Gebot vergessen: Du sollst nicht lügen.”

Kickl proklamiert vehementer denn je, dass er als Innenminister mit dem staatlichen Geheimdienst im BVT eine “unfähige verwahrloste Truppe” von seinen ÖVP-Vorgängern übernommen habe.

Die aktuellen schweren Anwürfe der ÖVP über seine Amtsführung, poltert Kickl, hätten nur einen Grund:

“Sie wollen verhindern, dass sie nicht auf 20 Prozent fallen und dass die Hälfte von ihnen bald nicht mehr da sein wird. Dass sie Millionen an Partei- und Akademieförderung verlieren und dass da oben als Nationalratspräsident nicht mehr jemand von ihnen sitzen wird. Das alles wollen sie so verhindern. Dabei sind sie bei mir aber an den Falschen geraten.”

Kickl hat in seiner Rage die Redezeit überzogen, der sitzungsführende Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka drückt für ein paar Sekunden dessen Mikrophon am Rednerpult weg, um ihm das endgültige Aus zu signalisieren.

Auch beim weiteren Schlagabtausch zwischen den Blauen und dem großen Rest der Republik kommen immer wieder Foto-Poster vom Rednerpult aus zum Einsatz. ÖVP-Abgeordnete reanimieren das Selfie vom blauen Betriebsausflug zur Putin-Partei mit Ex-FPÖ-Chef Heinz Christian Strache, FPÖ-Parlamentspräsident Norbert Hofer und dem blauen EU-Spitzenkandidaten Harald Vilimsky am Roten Platz aus dem Dezember 2016, zweieinhalb Jahre nach der Krim-Annexion durch Russland.

Dezember 2016: Die damaligen FPÖ-Granden Harald Vilimsky, Heinz-Christian Strache, Norbert Hofer und Johann Gudenus (von links) am Roten Platz in Moskau. Bei ihrer Russland-Reise unterzeichneten sie unter anderem ein Kooperationsabkommen mit der Partei "Единая Россия" (Vereintes Russland) von Präsident Wladimir Putin.

Handshake: Die FPÖ-Granden Norbert Hofer, HC Strache, Johann Gudenus und Harald Vilimsky im Dezember 2016 besiegeln ihre Kooperation mit den Parteifreunden der russischen "Единая Россия" (Vereintes Russland).

Rund neunzig Minuten währen die verbalen Scharmützel bis Gerhard Karner als notwendige Kulisse auf der Regierungsbank seine Schuldigkeit getan hat und Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler für den ersten regulären Tagesordnungspunkt einrückt.

Herbert Kickl watet offenbar noch im Adrenalin des In-Fights mit Türkis-Rot-Grün & Pink und hält Edtstadler zur Begrüßung von seinem Sitzplatz aus das Fotoposter entgegen, mit dem er zuvor mit Rednerpult aus das blaue Kreml-Selfie zu kontern suchte: Die damalige Staatssekretärin im Kickl-Ministerium, Karoline Edtstadler, im Sommer 2018, freundlich lächelnd an der Seite von Wladimir Putin bei dessen letztem Wien-Besuch, gewandet in den Farben der russischen Fahne – blauem Kostum, weißer Bluse und rotem Schal. Das Selbstbild als lebende Fahne garnierte Edtstadler via Facebook zudem mit dem Text:

“Bei seinem Besuch in Wien hat Wladimir Putin auch einen Kranz beim Ehrendenkmal der für die Befreiung Wiens gefallenen Soldaten der Roten Armee am Schwarzenbergplatz niedergelegt. Es war mir eine Ehre, dass ich ihn dabei begleiten durfte.”

Herbert Kickls Provokationsversuch: Er präsentiert im Parlament ein Foto aus dem Sommer 2018, auf ÖVP-Ministerin Karoline Edtstadler, damals Staatssekretärin in dem von Kickl geführten Innenministerium, anlässlich Wladimir Putins letztem offiziellen Besuch in Wien mit dem russischen Präsidenten zu sehen ist.

Edtstadler sucht die Provokation Kickls wegzulächeln. Sie hat darin Übung, war sie doch schon zu gemeinsamen Zeiten im Innenministerium, damals noch als eine der wenigen Türkisen, bereits mit ihm spinnefeind.

Die nunmehrige Kanzleramtsministerin und schwarz-türkise Kronprinzessin erzählt zu vorgerückter Stunde gerne Horrorgeschichten, wie Kickl und sein Kabinett sie vom ersten Tag in der Herrengasse an kaltstellen wollte.

Inzwischen hat die ÖVP-Führung Kickl zur feindlichen Zielperson Nummer 1 ausgerufen.

Es wäre nicht die ÖVP, wenn dies bei dem einen und anderen Mandatar auf Skepsis stoßen würde. “Wir müssen aufpassen, das kommt alles wieder zurück”, geht ein langjähriger ÖVP-Mandatar in den eigenen Reihen zur schwarz-türkisen Daueroffensive gegen die Blauen auf Distanz.

Beim Gros der schwarz-türkisen Abgeordneten, von denen ein Drittel bis die Hälfte um den Wiedereinzug ins Parlament zittern muss, überwiegt die Stimmung: Jeder Versuch, den Aufstieg der Blauen zur Nummer 1 doch noch zu bremsen, ist willkommen.

Bei dem einen und anderen ÖVP-Volksvertreter kommt zudem das Gefühl auf, dass eine Machtübernahme durch die FPÖ tiefgreifendere Folgen haben könnte als das gewohnte Wechselspiel zwischen mal schwarzer und mal roter Dominanz im Lande.

“Kickl und die FPÖ wollen den Staatsapparat, wollten den Staatsschutz wirklich brutal zu ihren Gunsten umdrehen”, sagt ein alles andere als heißsporniger ÖVP-Spitzenfunktionär: “Ich habe das lange nicht für möglich gehalten, aber das erinnert mich immer mehr an finsterste Zeiten in unserer jüngeren Geschichte.” Und er setzt nach: “Wir müssen und werden daher beim Thema Kickl und FPÖ dran bleiben.”

Eine Einschätzung zieht sich an diesem Parlaments-Mittwoch quer durch alle Lager. “So nervös und wehleidig hat Kickl noch nie agiert wie heute.”

Zahlreiche Anfragen der beiden profil-Journalisten Gernot Bauer und Robert Treichler wegen eines Recherche-Gesprächs für ihre Kickl-Biographie (“Kickl und die Zerstörung Europas”, Zsolnay, 25 €) hatte der FPÖ-Chef noch mit der fragwürdigen Begründung abgeblockt, er arbeite selber an einer Bio.

Als die beiden Magazin-Profis den angeblichen Plänen einer Selbstdarstellung mit der bislang ersten umfassend recherchierten Lebensgeschichte des 55jährigen Berufspolitikers zuvorkommen, reagiert Kickl einmal mehr auffällig dünnhäutig.

Die Bio zeichnet mit vielen Zeitzeugen-Berichten und neuen Fakten ein umfassendes Bild der von vielen unerfüllten Lebenswünschen und Kränkungen geprägten Persönlichkeit Herbert Kickl.

Über das Buch wird dieser Tage vor allem in in- und ausländischen Qualitätsmedien durchwegs positiv berichtet. Statt in Profi-Manier die unerwünscht nahegehende Bio zu ignorieren, setzt sich Kickl an seinem Büro-Schreibtisch vor eine Video-Kamera und macht sich in einem sieben (!) Minuten langen Video über zwei falsche Vornamen für seine Großeltern mütterlicherseits lustig.

Die beiden Autoren haben sich für das Missgeschick bereits davor entschuldigt und wollen es umgehend in der nächsten Auflage korrigieren (siehe unten).

Erratum: "In unserem Buch 'Kickl und die Zerstörung Europas' ist uns ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Aufgrund einer Verwechslung haben wir fälschlich Leopoldine und Johann Lackner als Herbert Kickls Großeltern mütterlicherseits genannt. Tatsächlich sind Josefa und Josef Lackner seine Großeltern mütterlicherseits. Wir bitten alle Genannten um Entschuldigung. Die entsprechende Passage im Buch wird selbstverständlich in der zweiten Auflage korrigiert."
Gernot Bauer und Robert Treichler

Kickls halblustiges “Abrechnungs”-Video mit den beiden Autoren erzielte in der über ein Jahrzehnt aufgebauten Fan-Gemeinde von FPÖ-TV bereits binnen eines halben Tages 50.000 Aufrufe. “So haben auch viele von der kritischen Kickl-Biographie erfahren, die über klassische Medien längst nicht mehr erreichbar sind.”, sagt ein ÖVP-Stratege: “Der eine und andere wird nun neugierig zu dem Buch greifen. Ob das im Sinne des Erfinders des Videos ist, wage ich zu bezweifeln.”

Herbert Kickl ging es mit dem Video freilich nur um eines, sagen langjährige Kenner: “Er wollte sich und die FPÖ einmal mehr als Opfer von Journalisten darstellen, die es schon bei der Recherche der richtigen Namen seiner geliebten Großeltern mit der Wahrheit nicht genau nehmen.”

Kickl-Kenner stimmen in einem Urteil über den blauen Spitzenkandidaten überein: Was Rhetoritik und Schlagfertigkeit ist nicht nur innerhalb der FPÖ schwer jemand seines Kalibers auszumachen. Schwer überbietbar ist auch seine Konsequenz und Gnadenlosigkeit im Umgang mit Widersachern in und außerhalb seiner Partei.

Immer sichtbarer im Weg steht sich Kickl aber selber mit seiner leicht kränkbaren Eitelkeit. Das wurde zuletzt auch im von der ÖVP eingesetzten Untersuchungs-Ausschuss über den “Rot-blauen Machtmissbrauch” gleich mehrfach sichtbar.

Nach zwei ehemaligen Mitarbeitern in seinem Kabinett als Innenminister war Kickl vor zehn Tagen erstmals selber als Auskunftsperson geladen. Der FPÖ-Mann inszenierte sich zehn Minuten vor Beginn seiner Befragung vor neutralem Parlaments-Logo-Hintergrund mit einem kämpferischen Statement. Fragen waren aus selbstgewähltem Zeitdruck (“Der U-Ausschuss-Vorsitzende wartet schon auf uns”) nicht zugelassen. Statt den üblichen Weg ins Ausschuss-Lokal zu wählen und in einer streng begrenzten Zone wenigstens vor dem Betreten TV- und Fotografen-Bilder zuzulassen, nahm der Volkskanzler den Hintereingang in das Kontrollgremium der Volksvertretung.

Fotos sind am Weg dorthin von der Parlamentsdirektion mit Verweis auf das Hausrecht ausdrücklich untersagt. Bilder im Ausschuss-Lokal selbst sind, so wollen es die aktuellen Ausschussregeln, nur kurz vor Beginn der Befragung und nur mit Zustimmung des Ausschuss-Zeugen erlaubt.

Während so gut wie alle aktiven Politiker kein Problem damit hatten, versagte Kickl – um sein Image bedacht – den Fotoreportern auch diese Möglichkeit, ihn als vor den “U-Ausschuss” Vorgeladener abzulichten.

Einige darob erboste Fotojournalisten fanden dennoch Mittel und Wege, ihn zumindest mit einem Gruppen-Schnappschuss abzulichten (siehe das Titelfoto des Artikels).

Der blaue Vormann mäanderte anfangs wie vielen andere Spitzenpolitiker zwischen fragwürdigen Erinnerungslücken und patziger Aussageverweigerung wegen “Themenverfehlung” durch die befragenden Abgeordneten.

Je später der Ausschussabend, desto öfter agiert der sich persönlich bedrängt fühlende Kickl mit Trotz und Aggression. Mal beklagt er sich selbstmitleidig in ähnlicher Manier wie zuletzt Sebastian Kurz: “Ich werde ja für alles in dem Land verantwortlich gemacht.” Mal attackiert er fundamental die Politikerkollegen: “Hier wird ein Schauspiel geboten. Ich mache dieses Spiel nicht mit, dass hier die Schmutzkübel ausgeschüttet werden, die nichts mit dem Verfahrensgegenstand zu tun haben. Das ist eine Riesen-Schweinerei. Ich lass mir das nicht gefallen. Ich habe ihnen von Anfang an gesagt, dass ich ihr Kasperltheater nicht mitmache.”

Mahnende Worte kamen just von jenem ehemaligen ÖVP-Fraktionsführer im Ibiza-Ausschuss, der auch damals die Legitimität des U-Ausschusses massiv in Frage stellte, je mehr dort – dank Thomas Schmid – statt der Ibiza-Blauen die Kurz-Türkisen in die Ziehung kamen.

Der (derzeit nur halbtags tätige) Innenministeriums-Beamte und zeitweilige U-Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Gerstl mahnt, ohne mit der türkisen Wimper zu zucken, beim zickigen Oberblauen mehr “Respekt” gegenüber dem Hohen Haus ein: ”Im U-Ausschuss kann man nicht selber entscheiden, ob man mitspielt. Es lauft hier alles nach einem klaren Regime ab. Das bitte ich sie zu respektieren. Das ist ein wichtiges Instrument zur Kontrolle der Regierung.”

QOSHE - Herbert Kickls Achillesferse [Politik Backstage] - Josef Votzi
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Herbert Kickls Achillesferse [Politik Backstage]

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19.04.2024

Auf Social Media gibt Herbert Kickl gerne den einsamen Wolf: Mal stapft er mit auf den Rücken geschnallten Tourenski im Tiefschnee einen Steilhang aufwärts. Mal bezwingt er im Seil hängend eine extrem abschüssige Felswand. Mal posiert er in Läufermontur vor einer sattgrünen Wiesenlandschaft mit dem Victory-Zeichen.

Auf seinem gewohnten Platz im vollbesetzten Parlamentsplenum wirkt der FPÖ-Chef diesen Mittwochmorgen dennoch etwas verloren.

Die traditionelle Hackordnung will es, dass von der Regierungsbank aus gesehen, im rechten Sektor des Hohen Hauses die ÖVP, im linken die SPÖ platziert ist. Anschließend sitzen die grünen Abgeordneten. Im in der Mitte des Nationalrats-Sitzungssaals gelegenen Sektor müssen sich aus schlichten Platzgründen die ersten beiden Reihen Blaue und Neos teilen. Denn den Pinken stehen auch als kleinstem Klub zumindest ein prestigeträchtiger Platz in der ersten und zwei in der zweiten Reihe zu.

Die besten vier Plätze im Hohen Haus, in der Pole-Position vis-à-vis Rednerpult und Regierungsbank, bieten so nicht nur den TV-Zusehern ein prima vista irritierendes Bild: FPÖ-Klub- und Parteichef Herbert Kickl, flankiert vom Chef des Freiheitlichen Bildungsinstituts Axel Kassegger und dem blauen Parlamentspräsidenten Norbert Hofer. Rechts von den drei blauen Granden ist nur noch für Neos-Klub- und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger Platz.

Es ist aber nicht die unfriendly Nachbarschaft in Gestalt einer seiner schärfsten Kritikerinnen, die Kickl an diesem Tag irritiert. Der FPÖ-Vormann glänzt im Parlamentsalltag zwar oft durch Abwesenheit. Seine Sitznachbarin meist schlicht zu ignorieren, liegt dem blauen Einzelgänger im Blut.

Es ist die Agenda zu Beginn des einzigen Sitzungstages im ganzen Monat April, die Kickl sichtlich nervös erscheinen lässt. An sich stünden nur niederpulsige Vorhaben wie die Renaissance des Handwerker-Bonus und grünes Verfassungs-Licht für die Einhebung einer Wohnungs-Leerstandsabgabe durch die Länder auf der Tagesordnung.

Die ÖVP hat sich seit den ersten Enthüllungen über blaue Verbindungen zu mutmaßlichen Russland-Spionen und ihren Helfern im einst auch von Herbert Kickl geführten Innenministerium einem neuen Vorwahlkampf-Motto verschrieben: Im Lichte des Spionageskandals und der FPÖ-Bande zu Wladimir Putin sucht die ÖVP den Möchtegern-Volkskanzler nun als „Volksverräter“ zu branden (siehe Politik Backstage vom 12. 4. 2024: "Kickt sich Kickl Out?").

Die ÖVP greift diesen Mittwoch daher in die parlamentarische Trickkiste, um ihrer neuen Causa primissima neuerlich eine Bühne zu bieten. Sie nutzt ihr Antragsrecht eine sogenannte “Aktuelle Stunde” zu Sitzungsbeginn anzusetzen. Ähnlich harmlos wirkt aber nur das Motto, das die ÖVP gewählt hat, um den formalen Regeln für eine “Aktuelle Stunde” gerecht zu werden.

Unter dem offiziellen Motto “Der neue Staatsschutz sorgt für die Sicherheit unseres Landes” wird Innenminister Gerhard Karner zu einer “Aktuellen Stunde” geladen, bei der freilich ein anderer Spitzenpolitiker im Mittelpunkt stehen soll.

Die ÖVP bietet Generalsekretär Christian Stocker und den Spitzenkandidaten zur EU-Wahl als Erst-Redner auf, um einmal mehr das – beinahe täglich neu angereicherte – Sündenregister der FPÖ und von Herbert Kickl in Sachen “Zerschlagung des BVT”, des früheren Staatsschutz- und Nachrichtendienstes und Verstrickungen der Blauen in das Spionagenetz Putins herunterzubeten.

Bis Herbert Kickl ans Rednerpult kann sind noch vier weitere Redner aller anderen Fraktionen am Wort. Kickl wippt derweil unruhig in seinem Sessel, spielt nervös mit seinen Fingern, nippt halbminütlich an einem Glas Wasser und einer Dose Red Bull. Zwischendurch nimmt er immer wieder seine handgeschriebenen Redekarten zur Hand, ergänzt sie da und dort oder highlightet eine Notiz mit einem orangen Textmarker.

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