Artikel vom 28.01.2024

Zuerst war es eine Bertelsmann-Studie, jetzt äußerte sich Boris Pistorius entsprechend: Die Koalition sei zu unrecht beim Wähler so unpopulär, weil sie viele ihre Ziele bereits umgesetzt habe. Doch gerade das ist das Problem.

Boris Pistorius, seines Zeichens Bundesverteidigungsminister und nach Ansicht mancher ein potenzieller Nachfolger seines sozialdemokratischen Parteifreundes im Kanzleramt, Olaf Scholz, hadert mit der öffentlichen Meinung: Während er selbst Deutschlands beliebtester Politiker ist, befindet sich die Ampelkoalition tief unten im Tal. SPD (14 Prozent), Grüne (13 Prozent) und FDP (4 Prozent) bringen laut aktuellem Sonntagstrend des Meinungsforschungsinstituts INSA für „Bild am Sonntag“ gemeinsam gerade einmal so viel auf die demoskopische Waage wie CDU/CSU alleine (31 Prozent).

Pistorius sagt dazu „Bild“, die „Bilanz dieser Koalition ist weit besser als das, was in der Öffentlichkeit hängen bleibt. Wir haben mehr als 60 Prozent unserer Vorhaben entweder umgesetzt oder haben sie in der Umsetzung“.

Auf diesen vermeintlichen Widerspruch wies die Bertelsmann-Stiftung bereits im September hin. Zur Vorstellung einer Studie unter dem Titel „Mehr Koalition wagen“ hieß es lobend, zur „Halbzeit der Legislaturperiode hat die Ampel bereits knapp zwei Drittel (64 Prozent) ihres ambitionierten Koalitionsvertrages entweder umgesetzt (38 Prozent) oder mit der Umsetzung ihres Vertrages begonnen (26 Prozent)“. Und immer wieder leiteten Ampel-Politiker daraus ein Missverhältnis ab zwischen dem schlechten Ansehen und den angeblichen Erfolgen der Koalition. Ist also der Aufstieg der AfD (laut der INSA-Umfrage aktuell 21 Prozent) und die Stärkung der Union unter Friedrich Merz, der in der Wählergunst als Kanzlerkandidat inzwischen vor Scholz rangiert (laut INSA mit 28 gegenüber 21 Prozent), nur ein Missverständnis?

Nein. Die Studie und entsprechende Äußerungen gehen von falschen Prämissen aus. Die Wähler wollen nicht in erster Linie, dass ihre Regierungen viele Pläne umsetzen und viele Gesetze beschließen, sondern dass ihr Land gut regiert wird und weder Arbeitsplätze noch Wohlstand gefährdet werden. Versimpelt ausgedrückt: Nähme eine Regierung sich vor, die Energiepreise zu erhöhen, perspektivisch damit viele Arbeitsplätze zu verlieren, die Industrie ins Ausland zu vertreiben und durch einen Verzicht auf jede Kontrolle bei der Einreise von Migranten den Sozialstaat zu entkernen, wäre sie kaum deshalb beliebt, weil sie sich sämtlichen dieser Ziele nähert.

Das aber ist das Problem der Ampel: Sie realisiert politische Ziele, die bei der Bevölkerung unbeliebt sind und den Wohlstand gefährden.

So lautet der von der Bertelsmann-Stiftung als „vollständig erfüllt“ markierte Punkt 122 der Auflistung: „Festhalten am deutschen Atomausstieg“. Aber zum Zeitpunkt der Stilllegung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke, im April 2022, hielten sechs von zehn Deutschen (59 Prozent) den Ausstieg für falsch und nur 34 Prozent für richtig. Ist es verwunderlich, dass die Bevölkerung sich ganz und gar nicht über dieses umgesetzte Ziel aus dem Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP freute?

Der ebenfalls „vollständig erfüllte“ Punkt 183 heißt: „Bürgergeld anstelle von ALG-II“. Es wurde, wie erinnerlich, zu Beginn des Jahres 2024 gar um 12 Prozent erhöht. Wenn die Ampelregierung deswegen trotzdem nicht beliebter wird, liegt das am verbreiteten Unmut über diese Sozialleistung, die allgemein als bedingungsloses Grundeinkommen angesehen wird. Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts Allensbach sagen 55 Prozent der Bundesbürger mit Blick aufs Bürgergeld, die Bereitschaft, im Beruf Einsatz zu zeigen, habe abgenommen, berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Nahezu Dreiviertel der Befragten insgesamt und 67 Prozent in den besonders betroffenen sozial schwächeren Schichten glauben, das Bürgergeld in seiner derzeitigen Höhe halte viele Empfänger von der Suche nach regulärer Arbeit ab.

Und so geht es weiter: Die ersten drei als „vollständig erfüllt“ markierten Punkte sind laut Bertelsmann-Stiftung „Verkleinerung des Bundestags in Richtung der gesetzlichen Regelgröße, keine Verzerrung durch Überhangmandate“ (Punkt 12; die Umsetzung dürfte zu Lasten der Union und damit der populärsten Oppositionspartei gehen), „Absenkung des Wahlalters bei Europawahlen auf 16 Jahre“ (Punkt 14; man wird im Mai sehen, ob die Grünen so wie erhofft davon profitieren) und „Erneuter Einsatz der ‚Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit‘“ (Punkt 13; das dürfte in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden als Ausdruck der Grundhaltung „Wenn du mal nicht weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis).

Der erste als „teilweise erfüllt“ abgehakte Punkt lautete: „Digitalisierungscheck für Gesetze.“ Im Kleingedruckten heißt es, dieser Check „wird umgesetzt, jedoch optional“. Das ist ein wenig greifbares Ergebnis, während der Bürger im täglichen Leben beim Umgang mit Behörden oder beim Surfen im Netz sehr konkret merkt, wie rückständig die Digitalisierung in Deutschland auch weiterhin ist.

Der nächste Punkt, „Einführung einer Synopse zur Gegenüberstellung der aktuellen Rechtslage und geplanten Änderungen in Gesetzesentwürfen“, ebenfalls als teilweise erfüllt gekennzeichnet, ist einerseits lobenswert. Aber andererseits wurde bislang lediglich die Geschäftsordnung der Bundestages angepasst, „sodass Synopsen beigefügt werden sollen. Es ist keine verpflichtende Regel.“ Im Übrigen wäre die umfassende Realisierung etwas für juristische Feinschmecker, während sich das Groß der Wählerschaft kaum für diese Details einer Gesetzesnovelle interessieren wird.

Auch der dritte „teilweise erfüllte“ Punkt, „Einführung von Bürgerräten durch den Bundestag“, begeistert eine kleine Gruppe von Aktivisten, während sich der Durchschnittsbürger fragt: Haben wir nicht schon genug Räte, Parlamentarier, Abgeordnete? Müssen wir jetzt noch einen weiteren Schritt in eine Räterepublik gehen, um uns seit dem Herbst von 160 per Losentscheid bestimmten Mitbürgern ohne jede messbare Kompetenz erklären zu lassen, wie wir uns ernähren sollen? Und danach vielleicht, wo und wie wir den Urlaub zu verbringen haben und wie wir das Klima schützen sollen?

Die Ampel hat weitere Projekte angestoßen, die zum Zeitpunkt der Studie noch in Vorbereitung waren, unter anderem die „Ersetzung des Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz“. Dazu wurde inzwischen ein Regierungsentwurf beschlossen, das Inkrafttreten ist zum 1. November 2024 geplant. Doch dass künftig alle Bundesbürger beim Standesamt einmal pro Jahr den Geschlechtseintrag und den Vornamen ändern können, begeistert die Öffentlichkeit nicht, insbesondere weil er auch für Minderjährige ab 14 Jahren gelten soll – Jugendliche also, deren körperliche und mentale Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist und die im Fall der Ablehnung durch ihre Erziehungsberechtigten gleichwohl das Familiengericht anrufen können.

Schließlich hat sich die Koalition zu Beginn ihrer Regierung darauf geeinigt, dass es „leichter für Zuwanderer werden soll, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen“. Zum Zeitpunkt des Bertelsmann-Gutachtens waren noch keine Fakten geschaffen worden. Aber in diesem Januar hat der Bundestag folgerichtig beschlossen, dass Ausländer künftig nicht mehr erst nach acht Jahren, sondern schon nach fünf, in manchen Fällen gar nach drei Jahren den deutschen Pass erhalten können. Außerdem soll die doppelte Staatsangehörigkeit nicht mehr eher die Ausnahme bleiben, sondern gewährt werden. Aber in der Bevölkerung erwartet man vor allem, dass der illegale Zuzug von Migranten nach Deutschland und in die Sozialsysteme gestoppt werden und dass Menschen ohne Bleiberecht entsprechend der Ankündigung von Kanzler Scholz aus dem Oktober („Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“) gehen müssen. Das aber hat sich die Koalition nie vorgenommen, darum taucht es auch nicht auf in der Liste der bereits erledigten oder noch anzugehenden Regierungsmaßnahmen. Und der Kanzler beließ es bei der Ankündigung.

So lange es die Politik an Stellen, die die Bundesbürger im Alltag betreffen, von der mutwilligen Abschaltung von Kernkraftwerken inmitten einer Energiekrise über immer weitere bürokratische Vorschriften und Abgabepflichten für Unternehmen bis zur Aufweichung der inneren Sicherheit, bei Worten belässt und auf Taten verzichtet, wird die Popularität der Koalition nicht zunehmen. Ob Minister Pistorius das nicht insgeheim weiß?

QOSHE - Die Ampel scheitert an ihren Erfolgen - Ansgar Graw
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Die Ampel scheitert an ihren Erfolgen

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28.01.2024

Artikel vom 28.01.2024

Zuerst war es eine Bertelsmann-Studie, jetzt äußerte sich Boris Pistorius entsprechend: Die Koalition sei zu unrecht beim Wähler so unpopulär, weil sie viele ihre Ziele bereits umgesetzt habe. Doch gerade das ist das Problem.

Boris Pistorius, seines Zeichens Bundesverteidigungsminister und nach Ansicht mancher ein potenzieller Nachfolger seines sozialdemokratischen Parteifreundes im Kanzleramt, Olaf Scholz, hadert mit der öffentlichen Meinung: Während er selbst Deutschlands beliebtester Politiker ist, befindet sich die Ampelkoalition tief unten im Tal. SPD (14 Prozent), Grüne (13 Prozent) und FDP (4 Prozent) bringen laut aktuellem Sonntagstrend des Meinungsforschungsinstituts INSA für „Bild am Sonntag“ gemeinsam gerade einmal so viel auf die demoskopische Waage wie CDU/CSU alleine (31 Prozent).

Pistorius sagt dazu „Bild“, die „Bilanz dieser Koalition ist weit besser als das, was in der Öffentlichkeit hängen bleibt. Wir haben mehr als 60 Prozent unserer Vorhaben entweder umgesetzt oder haben sie in der Umsetzung“.

Auf diesen vermeintlichen Widerspruch wies die Bertelsmann-Stiftung bereits im September hin. Zur Vorstellung einer Studie unter dem Titel „Mehr Koalition wagen“ hieß es lobend, zur „Halbzeit der Legislaturperiode hat die Ampel bereits knapp zwei Drittel (64 Prozent) ihres ambitionierten Koalitionsvertrages entweder umgesetzt (38 Prozent) oder mit der Umsetzung ihres Vertrages begonnen (26 Prozent)“. Und immer wieder leiteten Ampel-Politiker daraus ein Missverhältnis ab zwischen dem schlechten Ansehen und den angeblichen Erfolgen der Koalition. Ist also der Aufstieg der AfD (laut der INSA-Umfrage aktuell 21 Prozent) und die Stärkung der Union unter Friedrich Merz, der in der Wählergunst als Kanzlerkandidat inzwischen vor Scholz rangiert (laut INSA mit 28 gegenüber 21 Prozent), nur ein Missverständnis?

Nein. Die Studie und entsprechende Äußerungen gehen von falschen Prämissen aus. Die Wähler wollen nicht in erster Linie, dass ihre Regierungen viele Pläne umsetzen und viele Gesetze beschließen, sondern dass ihr Land gut regiert wird und weder Arbeitsplätze noch........

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