Sehr geehrte Frau Dr. Peirano,

ich bin fast 25 Jahre alt, in einem schwierigen Elternhaus mit häufiger Abwertung sowie Gewaltandrohungen aufgewachsen und habe seit Beginn meiner Pubertät Probleme mit Selbstzweifeln und sozialen Ängsten. Mich einer Frau anzunähern war viele Jahre undenkbar. In letzter Zeit habe ich mich diesen Ängsten gestellt und konnte dadurch zumindest erste sexuelle Erfahrungen machen.

Insgesamt läuft es mit dem Dating aber schlecht. Ich bin zwar groß gewachsen, Akademiker und mir wird auch gesagt, dass ich attraktiv aussehen würde, aber ich versage zwischenmenschlich. Die Angst ist leider so heftig, dass ich mich deswegen schon übergeben musste. Seit Monaten bin ich in therapeutischer Behandlung, bisher ohne Besserung. Ich leide unter Scham- und Wertlosigkeitsgefühlen und zweifle an meiner Männlichkeit.

Vor einem Jahr habe ich mich zum ersten Mal aktiv einer Frau aus meinem Studium angenähert, für die ich im Laufe der Zeit starke Gefühle entwickelt habe. Anfangs hat sie sich sogar mit mir getroffen. Als sie einmal mit einer Freundin bei mir übernachtet hat, wollte sie bei mir im Bett schlafen. Ich habe mich nicht getraut, sie zu berühren, und ihr, als das zum Gesprächsthema wurde, ehrlich mitgeteilt, dass ich damit anfangs Schwierigkeiten habe und mir unsicher bin. Sie reagierte zunächst verständnisvoll, sagte, dass ihr das lieber sei als einer, der gleich rangehe.

Jedoch hatte ich seitdem den Eindruck, dass ihr Interesse an mir geringer wurde. Es kam anschließend zu einem Konflikt: Sie sagte ein Treffen sehr kurzfristig ab (drehte auf dem Weg zu mir um), mit der Begründung, es gehe ihr aufgrund eines sehr persönlichen Problems nicht gut und sie könne sich nicht aufraffen. Ich reagierte enttäuscht, unempathisch und teilte ihr direkt mit, dass ich ihre Erklärung als Ausrede für ihr Desinteresse interpretiere. Wir distanzierten uns voneinander und wenig später erhielt ich eine Abfuhr, was mich bis heute sehr verletzt.

Nun meine Frage: Wie sollte ich beim Kennenlernen mit meiner Unerfahrenheit und Unsicherheit und den daraus resultierenden Selbstwertproblemen umgehen? Ich möchte mich authentisch zeigen. Immer wieder lese und höre ich jedoch, dass Frauen solche Männer unattraktiv finden, da sie evolutionspsychologisch betrachtet unbewusst schlechte Fortpflanzungsqualitäten suggerieren. Stattdessen würden Frauen von Natur aus Souveränität, Dominanz und Erfahrung voraussetzen.

Eine Antwort würde mich sehr freuen.

Vielen Dank im Voraus
Robert B.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Lieber Robert B.,

Sie schreiben mir als Erstes von Ihrer schwierigen Kindheit. Es hat offensichtlich tiefe Spuren in Ihnen hinterlassen, dass Sie als Kind und Jugendlicher von Ihren Eltern häufig abgewertet wurden und Ihnen Gewalt angedroht wurde. Wahrscheinlich ist das nur die Spitze des Eisbergs. Eigentlich sollte das Elternhaus ein Ort sein, an dem ein Kind willkommen ist, in der Familie akzeptiert und geliebt wird und an dem es sich geborgen fühlen kann. Es sollte ein Schutzort vor der äußeren Welt sein, an dem ein Kind immer wieder ausruhen und auftanken kann, getröstet und gestärkt wird.

Ich schreibe: Eigentlich sollte es so sein. Leider ist das Elternhaus oder die Beziehung zu einem Elternteil etwas, wo Kinder genau gegenteilige Erfahrungen machen. Viele Patienten schildern ihr Elternhaus als einen Ort, an dem sie nicht willkommen waren und abgelehnt wurden, wo ihnen vermittelt wurde, dass sie falsch sind, wo sie Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch gemacht haben, ohne dass ihnen jemand geholfen hat. Sie haben ihr Zuhause als einen Ort erleben, an dem sie schutzlos ausgeliefert waren.

Und diese traumatischen Erfahrungen hinterlassen natürlich Spuren, oder auch sogenannte Muster, im Denken und Verhalten. Sie haben offensichtlich das Muster verinnerlicht, dass Sie nicht liebenswert sind und sich sehr anstrengen müssten, um von jemandem gemocht zu werden. Und Sie können sehr schlecht mit Ablehnung oder Zurückweisung umgehen. Das verursacht bei Ihnen so große Ängste, dass Sie sich mitunter sogar übergeben müssen.

Bei Ihnen gibt es großen Leidensdruck!

Wahrscheinlich wird Ihnen das, was ich Ihnen rate, nicht so gut gefallen, weil es eher ein Ansatz ist, der sehr viel Zeit und Geduld braucht. Aus meiner Erfahrung wäre es für Sie erst einmal sehr wichtig, die inneren Verletzungen zu heilen, die Sie in Ihrer Kindheit erfahren haben. Es ginge auch darum, dass Sie selbst einen guten inneren Vater herausbilden.

Das klingt jetzt vielleicht erst einmal merkwürdig, aber wir können uns selbst als (in gesundem Sinne) geteilt betrachten. Es gibt in uns einen Teil, der verletzlich ist, fühlt, Schutz braucht, aber auch kreativ und verspielt ist und Bedürfnisse hat. Diesen Teil kann man das innere Kind nennen.

Und dann sollte es einen erwachsenen Teil geben, der die Übersicht hat und schaut, wo, wann, womit und wie lange das innere Kind spielen darf. Der die Tagesstruktur festlegt, damit das innere Kind nicht den ganzen Tag am PC spielt oder fernsieht. Und auch Gebote (gesundes Essen, frische Luft) und Verbote (Drogen, zu viel Alkohol, Zigaretten etc.) aufstellt und immer wieder darauf achtet, dass diese eingehalten werden. Natürlich sollte dieser Teil, den ich bei Männern guter innerer Vater und bei Frauen gute innere Mutter nenne, sehr empathisch und liebevoll mit den Gefühlen des inneren Kindes umgehen. Es also ermutigen, wenn es lustlos ist. Es trösten, wenn es verletzt wurde. Ihm zuhören. Es umarmen.

Bei vielen Menschen, insbesondere unglücklichen Menschen, liegt etwas in der Welt des inneren Kindes und des guten inneren Vaters (bzw. Mutter) im Argen. Manchmal gibt es gar keinen Elternteil, der sich kümmert, sondern ein z.B. 15-jähriges inneres Kind verwahrlost vor sich hin, nimmt Drogen, trinkt zu viel, fühlt sich einsam und macht die Nacht zum Tag.

Oft sind die inneren Eltern auch streng und abwertend (wie die realen Eltern) und zwingen das Kind zu Höchstleistungen, erlauben keine Pausen und haben immer etwas zu beanstanden. Oder sie werten die Gefühle des Kindes ab (sei nicht so schwach; du stellst dich an; andere schaffen es doch auch). Oder sie mögen das Kind nicht besonders und halten ihm ständig vor Augen, wie falsch es ist (du bist nicht hübsch genug; du hast dein Abi nicht geschafft; du solltest ein dominanter Alpha-Mann sein und nicht so ein Softie etc.).

Bei Ihnen hört es sich so an, als wenn es noch keinen guten inneren Vater gäbe, sondern Ihre realen Eltern Ihnen quasi auf der Schulter sitzen und alles negativ kommentieren, was Sie tun. Und das wirkt sich natürlich auf die Gefühle aus: Sie fühlen sich nicht angenommen, nicht geborgen, nicht geliebt, und Sie vertrauen sich selbst noch nicht.

Es braucht in der Regel mindestens zwei Jahre, um in einer guten, vertrauensvollen Psychotherapie einen guten inneren Vater/eine gute innere Mutter herauszubilden. Und der Therapeut oder die Therapeutin sollte bei diesem Prozess als verlässlicher, wertschätzender und liebevoller Verbündeter an der Seite stehen und selbst eine Art Modell dafür sein, wie man sich selbst zuhört, sich unterstützt, mit kritischen Stimmen umgeht und sich akzeptiert.

Jetzt kommt der Teil, den Sie wahrscheinlich nicht so gerne hören werden: Wenn man diese Arbeit nicht gemacht hat und hofft, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, geht das sehr oft schief. Denn man erwartet unbewusst, dass die Partnerin die Rolle der inneren Mutter übernimmt und einen akzeptiert, tröstet und liebt. Das ist aber nicht die Aufgabe einer Partnerin oder eines Partners. Genauso wenig, wie ich als alleinerziehende Mutter die Verantwortung für meine kleine Tochter an meinen neuen Partner abgeben darf, darf ich die Verantwortung für mein inneres Kind an einen neuen Partner abgeben.

Dazu kommt, dass Menschen sich unbewusst Partner suchen, die sie an die eigene Ursprungsfamilie erinnern. Und da Sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, könnten Sie sich unbewusst wieder eine Partnerin suchen, die Sie abwertet, betraft und manipuliert.

Deshalb ist mein dringender Rat: Heilen Sie erst Ihre inneren Verletzungen in einer vertrauensvollen Psychotherapie. Hier kommt es in erster Linie auf die Person an: Suchen Sie sich einen Therapeuten oder eine Therapeutin, bei dem oder der Sie sich wohl und geborgen fühlen und der Sie vertrauen. Jemanden, der Ihnen den Weg zu der Entwicklung eines guten inneren Vaters zeigt und Sie da führt und begleitet.

Wenn Sie diese Arbeit gemacht und Ihre inneren Muster und Glaubenssätze verändert haben, erarbeiten Sie in der Therapie, was für eine Partnerin gut zu Ihnen passen würde und woran Sie das erkennen.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Heilung!

Herzliche Grüße
Julia Peirano

QOSHE - Ich wurde in meiner Kindheit abgewertet und mir wurde Gewalt angedroht. Wie äußere ich das gegenüber einer Partnerin beim Dating? - Dr. Julia Peirano
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Ich wurde in meiner Kindheit abgewertet und mir wurde Gewalt angedroht. Wie äußere ich das gegenüber einer Partnerin beim Dating?

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20.02.2024

Sehr geehrte Frau Dr. Peirano,

ich bin fast 25 Jahre alt, in einem schwierigen Elternhaus mit häufiger Abwertung sowie Gewaltandrohungen aufgewachsen und habe seit Beginn meiner Pubertät Probleme mit Selbstzweifeln und sozialen Ängsten. Mich einer Frau anzunähern war viele Jahre undenkbar. In letzter Zeit habe ich mich diesen Ängsten gestellt und konnte dadurch zumindest erste sexuelle Erfahrungen machen.

Insgesamt läuft es mit dem Dating aber schlecht. Ich bin zwar groß gewachsen, Akademiker und mir wird auch gesagt, dass ich attraktiv aussehen würde, aber ich versage zwischenmenschlich. Die Angst ist leider so heftig, dass ich mich deswegen schon übergeben musste. Seit Monaten bin ich in therapeutischer Behandlung, bisher ohne Besserung. Ich leide unter Scham- und Wertlosigkeitsgefühlen und zweifle an meiner Männlichkeit.

Vor einem Jahr habe ich mich zum ersten Mal aktiv einer Frau aus meinem Studium angenähert, für die ich im Laufe der Zeit starke Gefühle entwickelt habe. Anfangs hat sie sich sogar mit mir getroffen. Als sie einmal mit einer Freundin bei mir übernachtet hat, wollte sie bei mir im Bett schlafen. Ich habe mich nicht getraut, sie zu berühren, und ihr, als das zum Gesprächsthema wurde, ehrlich mitgeteilt, dass ich damit anfangs Schwierigkeiten habe und mir unsicher bin. Sie reagierte zunächst verständnisvoll, sagte, dass ihr das lieber sei als einer, der gleich rangehe.

Jedoch hatte ich seitdem den Eindruck, dass ihr Interesse an mir geringer wurde. Es kam anschließend zu einem Konflikt: Sie sagte ein Treffen sehr kurzfristig ab (drehte auf dem Weg zu mir um), mit der Begründung, es gehe ihr aufgrund eines sehr persönlichen Problems nicht gut und sie könne sich nicht aufraffen. Ich reagierte enttäuscht, unempathisch und teilte ihr direkt mit, dass ich ihre Erklärung als Ausrede für ihr Desinteresse interpretiere. Wir distanzierten uns voneinander und wenig später erhielt ich eine Abfuhr, was mich bis heute sehr verletzt.

Nun meine Frage: Wie sollte ich beim Kennenlernen mit meiner Unerfahrenheit und Unsicherheit und den daraus resultierenden Selbstwertproblemen umgehen? Ich möchte mich authentisch zeigen. Immer wieder lese und höre ich jedoch, dass Frauen solche Männer unattraktiv finden, da sie evolutionspsychologisch betrachtet unbewusst........

© stern


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