Liebe Frau Peirano,

ich bin 32 und Fitnesstrainierin. Mein Problem ist, glaube ich, dass ich zu nett und zu geduldig bin. Ich habe immer ein offenes Ohr für andere Menschen und bin auch sehr hilfsbereit. Jetzt haben sich viele meiner Kundinnen angewöhnt, mir ihre Probleme mitzuteilen, und ich überziehe deswegen auch regelmäßig.

Auf Partys erzählen mir wildfremde Menschen ihre ganze Lebensgeschichte. Beim Bahnfahren oder Fliegen unterhalte ich mich eigentlich immer mit den Leuten neben mir, aber öfter wird aus einem netten Gespräch dann eine belastende Unterhaltung oder ich höre nur noch zu und weiß nicht, wie ich dem ein Ende setzen soll, ohne unhöflich zu wirken.

Ich habe eine neue beste Freundin, und die ist oft fassungslos, was die Leute mit mir machen. Sie meint, dass ich mich nicht so ausnutzen lassen soll. Ich habe da länger drüber nachgedacht und gemerkt, dass es mir oft schlecht geht, wenn ich mir mal wieder eine ganze Lebensgeschichte angehört habe. Aber ich weiß nicht, wie ich da rauskomme. Haben Sie ein paar Ideen für mich?

Viele Grüße
Anja D.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Anja D.,

haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie sich solche Mühe geben, fremden Menschen zu gefallen? Was haben Sie eigentlich davon? Geht es Ihnen darum, Anerkennung zu bekommen? Haben Sie Angst vor Ablehnung, wenn Sie das nicht machen würden? Oder wissen Sie einfach nicht, wie Sie aus dieser Gewohnheit herauskommen? Ist auch ein Schuldgefühl dabei, weil es Ihnen (vermeintlich) so gut geht im Leben?

Sie könnten sich mal in das Thema einlesen und die Ursachen herausfinden. Bestimmt hilft Ihnen das gerade erschienene Buch:

Elise Loehnen: "Ich. Will. Gefallen. Der Preis, den Frauen zahlen, um gut genug zu sein"

Wie haben sich denn Ihre Mutter und andere weibliche Vorbilder in Ihrer Familie verhalten? Hat Ihre Mutter auch alles dafür gegeben, um sich für andere aufzuopfern und wurde das von ihr erwartet? Oder sind Sie vielleicht als Kind zu kurz gekommen und möchten niemandem das Gefühl geben, vernachlässigt zu werden, weil Sie dieses Gefühl so gut kennen? Mussten Sie vielleicht als Kind schon über die Maßen helfen und einspringen?

Grundsätzlich ist es ja sehr sympathisch, dass Sie sich für andere Menschen interessieren und hilfsbereit sind. Wichtig finde ich, dass Sie selbst entscheiden, für wen Sie diese Leistung bringen (ja, es ist eine Leistung zu helfen und zuzuhören) und auch, wann Sie das tun möchten – und natürlich auch, wie viel Sie tun möchten.

Teilen Sie Ihren Freundes- und Bekanntenkreis für sich doch einmal in Platin-, Gold-, Silber-, Bronze- und Asbest-Beziehungen ein und schreiben Sie auf, was Sie für die Platinfreunde tun würden, was für Gold-, Silber- und so weiter.

Zum Beispiel: Bei einer Platin- oder Goldfreundin gehe ich auf jeden Fall zu ihrer Geburtstagsfeier, aber ich erwarte auch, dass sie das bei mir tut. Ich rufe so schnell ich kann zurück, wenn sie ein Problem hat, aber ich erwarte auch, dass das umgekehrt der Fall ist.

Bronze könnte bedeuten: Es ist eine Kollegin oder die Freundin einer Freundin. Sie würden ihr Auskünfte geben, wenn sie die braucht (z. B. eine Empfehlung für eine Ärztin) und auch mal einen Kaffee trinken gehen, wenn es passt, aber sie würden nicht alles dafür stehen und liegen lassen.

Asbest heißt: Achtung, toxisch. Straßenseite wechseln oder nicht ans Telefon gehen.

Als Nächstes könnten Sie sich Ihr Leben mal vorstellen wie ein Haus. Sie haben eine Gartenpforte und einen Gehweg zum Haus, eine Türschwelle, einen Flur, ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Gästezimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und vielleicht auch ein Zimmer für Therapiegespräche. Wer darf in welchen Bereich?

Zum Beispiel: Meine Paketboten sind sehr freundlich und dürfen in den Garten gehen, oder, wenn ich da bin, in den Hausflur kommen, um Pakete abzulegen. Wir wünschen uns einen guten Tag und reden auch mal übers Wetter oder machen Smalltalk. Ich würde ihnen ein Glas Wasser oder ein Trinkgeld geben, wenn es passt. Aber Kaffee kochen würde ich nicht (dauert zu lange, ist unangemessen).

Meine Friseurin: Wir kennen uns schon länger und sind uns sympathisch, leben aber in völlig unterschiedlichen Welten. Wir reden über etwas persönlicheren Smalltalk, etwa über die Hobbys meiner und ihrer Kinder, über Netflix-Serien, Urlaube und gute Restaurants im Viertel.

Persönliche Probleme wie Krankheiten, Stress, Beziehungsprobleme klammern wir aus. Wenn ich die Beziehung in meinem Haus verorten würde, wäre es am Küchentisch.

Sie merken: Es ist wichtig, die Menschen in bestimmte Gruppen mit gewissen Membership-Cards einzuteilen, die Zugang zu bestimmten Bereichen in Ihrem Haus gewähren oder festlegen, wie nah jemand kommen darf. Vielleicht darf eine Person, mit der Sie starke Konflikte haben, nicht einmal auf Ihr Grundstück kommen (Asbest).

Ordnen Sie jedem Zimmer in Ihrem Haus bestimmte Gesprächsthemen zu und achten Sie in den nächsten vier Wochen ganz bewusst darauf, ob die jeweilige Person am richtigen Ort ist oder in Bereiche geht, die für Sie nicht stimmen. Zum Beispiel könnte eine unbekannte Person auf einer Party oder eine Kundin plötzlich in Ihr Therapiezimmer gehen, obwohl Sie gerne in der Küche bleiben würden oder vielleicht einen Schritt ins Wohnzimmer wagen würden.

Und an dieser Stelle würde ich einmal ganz klar sagen, dass das Überschreiten von Grenzen von dieser Person unhöflich ist und nicht von Ihnen! Wenn ich in der Bahn mit einer wildfremden Frau über die Hämorrhoiden meines Vaters oder mehr als nur oberflächlich über die organisatorischen Probleme bei meiner Arbeit spreche, überschreite ich die Grenzen des Anstands. Das gehört da nicht hin! Sie müssen sich das nicht anhören, sondern Sie können Ihr Gegenüber in den passenden Raum zurückführen.

Viele Menschen wissen nicht, wie das Abgrenzen am besten geht. Fragen Sie doch in Ihrem Umfeld mal herum, wie andere das machen, Ihre neue beste Freundin kann sich ja anscheinend besser abgrenzen. Und legen Sie sich Smalltalk-Themen zurecht, über die Sie gerne sprechen, damit Sie etwas anbieten können (ich fand es vor ein paar Wochen ganz amüsant, über den neuen "Barbie"-Film zu sprechen (allerdings nur, wenn es lustig blieb und nicht zu einer anstrengenden Debatte über Feminismus ausgeartet ist).

Wenn jemand Sie um Hilfe bittet, könnten Sie sich grundsätzlich eine Bedenkzeit erbitten, um in ihren Kalender zu schauen. Und mit diesem Abstand gucken Sie, ob Sie es überhaupt angemessen finden, diese Hilfe zu erbringen für diese Person in dieser Situation. Und auch der anderen Person wird klar, dass Sie nicht immer und automatisch Ja sagen.

Falls Sie ein schlechtes Gewissen haben, dass Sie hilfsbedürftigen Menschen nicht zuhören oder helfen wollen, können Sie sich auch bewusst überlegen, ein Ehrenamt auszuüben und Menschen zu helfen, die Ihnen besonders am Herzen liegen. Zum Beispiel: Telefonseelsorge, Tafel für Obdachlose, Hilfe für Geflüchtete. Damit tun Sie etwas wirklich Sinnvolles und und können trotzdem entscheiden, wann und wie oft Sie sich engagieren.

Ich hoffe, dass das Ihnen weiterhilft. Denn nur durch bewusste Entscheidungen und auch mal Abgrenzungen achten Sie darauf, dass Sie Ihre Energie nicht in alle Winde verpulvern. Und nur so bleibt Ihnen genug Energie für die wichtigen Menschen in Ihrem Leben und vor allem für sich selbst.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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QOSHE - Ich höre mir die Lebensgeschichten und Probleme von allen an und weiß nicht, wie ich das abstellen kann - Dr. Julia Peirano
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Ich höre mir die Lebensgeschichten und Probleme von allen an und weiß nicht, wie ich das abstellen kann

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07.11.2023

Liebe Frau Peirano,

ich bin 32 und Fitnesstrainierin. Mein Problem ist, glaube ich, dass ich zu nett und zu geduldig bin. Ich habe immer ein offenes Ohr für andere Menschen und bin auch sehr hilfsbereit. Jetzt haben sich viele meiner Kundinnen angewöhnt, mir ihre Probleme mitzuteilen, und ich überziehe deswegen auch regelmäßig.

Auf Partys erzählen mir wildfremde Menschen ihre ganze Lebensgeschichte. Beim Bahnfahren oder Fliegen unterhalte ich mich eigentlich immer mit den Leuten neben mir, aber öfter wird aus einem netten Gespräch dann eine belastende Unterhaltung oder ich höre nur noch zu und weiß nicht, wie ich dem ein Ende setzen soll, ohne unhöflich zu wirken.

Ich habe eine neue beste Freundin, und die ist oft fassungslos, was die Leute mit mir machen. Sie meint, dass ich mich nicht so ausnutzen lassen soll. Ich habe da länger drüber nachgedacht und gemerkt, dass es mir oft schlecht geht, wenn ich mir mal wieder eine ganze Lebensgeschichte angehört habe. Aber ich weiß nicht, wie ich da rauskomme. Haben Sie ein paar Ideen für mich?

Viele Grüße
Anja D.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Anja D.,

haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie sich solche Mühe geben, fremden Menschen zu gefallen? Was haben Sie eigentlich davon? Geht es Ihnen darum, Anerkennung zu bekommen? Haben Sie Angst vor Ablehnung, wenn Sie das nicht machen würden? Oder wissen Sie einfach nicht, wie Sie........

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