Liebe Frau Peirano,

Ich bin 27 und Tischler. Schon immer war ich eher schüchtern und habe mich nie in den Vordergrund gedrängt. Es ist für mich sehr stressig, mit fremden Menschen zu reden, wenn es um Persönliches geht. Ich gehe deshalb nicht auf Partys, sondern treffe mich mit meinen alten Freunden.

Noch schwieriger wäre es, eine Frau anzusprechen oder sie zu daten.

Aber auch kleine alltägliche Situationen fallen mir schwer und ich bin froh, wenn ich sie nicht machen muss, etwa einen Termin beim Arzt zu vereinbaren oder etwas zu reklamieren (z.B. im Laden). Ich habe schon viele Sachen behalten, die mir nicht gefallen, weil ich Angst hatte, negativ aufzufallen.

Überhaupt denke ich immer darüber nach, was die Leute über mich denken und wie ich rüberkomme. Ich versuche, keine Fehler zu machen, weil mir das total peinlich wäre.

Ich glaube, das Ganze hängt mit meinen Eltern zusammen. Meine Eltern sind kurz vor meiner Geburt aus Litauen eingewandert und konnten kein Deutsch. Sie hatten immer Angst aufzufallen und haben alles getan, um keine Fehler zu machen. Sie haben auch großen Wert darauf gelegt, dass ich in der Schule gut mitgekommen bin und ordentlich gekleidet war. Jeans mit Löchern oder die coolen Turnschuhe hätten sie nie erlaubt. Ich war immer ein bisschen der brave Nerd.

Meine Eltern haben beide auch Angst, mit fremden Menschen zu sprechen oder Fehler zu machen. Ich würde mich sehr gerne von meinen Ängsten befreien, nur wie?

Haben Sie ein paar Vorschläge?

Viele Grüße
Matas L.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Lieber Matas L.,

bei Ihrer Selbstbeschreibung hört es sich so an, als wenn Sie unter einer sozialen Phobie leiden. Eine soziale Phobie zu haben bedeutet, dass man ausgeprägte Ängste davor hat, im Mittelpunkt zu stehen, beobachtet und bewertet zu werden, Fehler zu machen oder auf fremde Menschen zuzugehen. Auch alltägliche Situationen, wie mit anderen Menschen zu essen oder ein Gespräch mit einem Fremden zu führen, sind sehr angstbesetzt und können Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, nasse Hände oder Erröten auslösen.

Meistens kommt es durch die Angst davor zu erröten oder sich auffällig zu benehmen zu der sogenannten "Angst vor der Angst".

Wie es für Ängste typisch ist, führt auch die soziale Angst zu Vermeidungsverhalten. Die betroffenen Menschen sprechen in der Regel nicht mit Fremden (wenn es sich vermeiden lässt) und passen genau wie Sie akribisch darauf auf, keine Fehler zu machen. Oft halten sie keine Referate (oder nur unter starken Ängsten in der Zeit davor) und können sich nicht gehen lassen (z.B. Karaoke singen oder herumalbern).

Der Gedanke, was andere Menschen von einem denken könnten, nimmt in den Köpfen der Betroffenen einen großen Raum ein.

Das Problem ist, dass Vermeidungsverhalten dazu führt, dass wir keine Erfahrungen mit bestimmten Situationen sammeln können. Wer nie fremde Menschen anspricht, kann nicht erleben, dass in der Regeln nichts Schlimmes passiert. Wer nie eine zu salzige Suppe im Restaurant zurückgehen lässt, lernt nicht, wie sich das anfühlt, für sich einzustehen. Und wer nie Fehler macht, lernt nicht, dass die Welt sich auch nach einer großen Peinlichkeit weiterdreht.

Ich selbst habe zum Beispiel in der Zeit, als meine Praxis bei mir im Haus war, einmal verschlafen und wurde um 9 Uhr morgens durch Klingeln geweckt. Ich ging im Halbschlaf im Bademantel an die Tür, und vor mir stand eine neue Patientin für ein Erstgespräch. Tadaaa! Voller Tritt in den Fettnapf. Das war richtig peinlich, so einen verpeilten ersten Eindruck zu hinterlassen. Aber letztendlich habe ich es überlebt und es war auch nicht so dramatisch, wie die Situation in meiner Vorstellung gewesen wäre. Die Welt hat sich weitergedreht und ich bin etwas entspannter im Umgang mit Fehlern geworden.

Und genau da setzt die Verhaltenstherapie von sozialen Phobien auch an. Übrigens ist die Diagnose "Soziale Phobie" ein Grund dafür, sich für eine Psychotherapie (in dem Fall idealerweise Verhaltenstherapie) anzumelden und diese von der Krankenkasse bezahlt zu bekommen. In einer Verhaltenstherapie wird eine Konfrontation mit den angstbesetzten Situationen geübt, damit man erfahren kann, wie sich die Realität anfühlt und gleichzeitig Übung im Umgang mit den schwierigen Situationen bekommt. Dadurch verliert man die Angst vor der Angst und gewinnt Selbstvertrauen.

Wenn ich Patienten mit sozialer Phobie behandle, kläre ich zuerst die Ursachen. Bei Ihnen ist es plausibel, dass Ihre Eltern Ihnen die Angst vermittelt haben. Das würde in der Therapie so lange besprochen werden, bis es verstanden und bearbeitet ist. Und dann geht es ans Üben – und zwar in der Realität. Man kann Übungen auflisten, die man schwer findet und den Schwierigkeitsgrad benennen. Zum Beispiel: einen Termin beim Arzt machen (4 auf einer Skala von 1–10), im Restaurant ein Getränk umwerfen (5 auf einer Skala von 1–10), eine attraktive Frau ansprechen (9).

Die Situationen werden gemeinsam mit der Therapeutin geübt. Also z.B. sich in der S-Bahn so laut unterhalten, dass andere das Gespräch mithören. Eine Studentin, die bei mir in Therapie war, hat in der S-Bahn laut aus einem Goethe-Buch vorgelesen. Das war ihr unglaublich unangenehm.

Doch, gut zu wissen: In den ersten ca. 5–10 Minuten steigt die Angst und man hat einige der unangenehmen Symptome wie Herzrasen, schwitzige Hände etc. Jedoch schafft der Körper es nicht über längere Zeit, die Angstsymptome zu produzieren. Man gewöhnt sich an die Situation. So ging es auch der Studentin: Nach 10 Minuten war es ihr nahezu egal, dass sie in der Bahn saß und laut Goethe vorgelesen hat. Sie konnte auch damit leben, dass die Leute sie vielleicht für verrückt hielten.

Dieser Erfolg hat sie ermutigt, im Anschluss noch weitere Dinge zu tun: Sie hat im Supermarkt "aus Versehen" das Portemonnaie vergessen, nachdem die Kassiererin alles eingetippt hatte. Sie hat fremde Menschen (auch attraktive Jungs) angesprochen und sich nach Möglichkeiten erkundigt, wo man lecker Mittagessen könne. Sie hat sogar auf der Straße Querflöte gespielt (und wir wussten beide, dass es scheußlich klang).

Wir haben zwei solche Termine gehabt, jeweils 2–3 Stunden, und sie hat sich Dinge getraut, die sie nie für möglich gehalten hätte. Und dann hat sie sogar zwei Monate später eine Rede auf dem Geburtstag Ihres Vaters gehalten. Diese Therapieform (Verhaltenstherapie) ist sehr erfolgreich, wenn man sich darauf einlässt und etwas riskiert. Wenn sie kein traumatisches Ereignis im Hintergrund hat (z.B. Mobbing), können Sie auch vor einer Therapie schon etwas üben und sich mehr trauen, z.B. einen Arzttermin vereinbaren.

In einer Therapie wird auch über unrealistische Erwartungen gesprochen, z.B. die Erwartung, eine Unterhalten mit fremden Menschen "einfach so aus dem Ärmel zu schütteln". Wenn man etwas aus dem Ärmel schütteln will, muss man vorher etwas in den Ärmel tun. Sonst klappt das nicht. Und da Sie in Ihrer Familie nicht gelernt haben, sich einfach so mit Fremden zu unterhalten und es später immer gemieden haben, würde ich genau das Gegenteil empfehlen: Bereiten Sie sich genau vor.

Überlegen Sie sich Themen, die Sie mit Fremden ansprechen wollen (das Wetter, das Essen auf der Party …), bereiten Sie Fragen vor, die Sie anderen Menschen stellen, beobachten Sie andere Menschen beim Smalltalk. Was möchten Sie anderen von sich zeigen, was eher nicht? Was möchten Sie von anderen wissen, was eher nicht? Besprechen Sie doch auch mal mit Freunden, wie sie das machen.

Übrigens fühlen sich sehr viele Menschen unwohl, wenn sie fremde Menschen auf einer Party ansprechen. Die meisten Menschen haben nur eine Strategie.

Hier sind zwei Buchempfehlungen für Sie:

Soziale Phobie – die heimliche Angst: Selbsthilfeprogramm mit Übungen aus der Praxis von Martina Fischer-Klepsch

Clever mitreden!: Wie Sie als introvertierte Person die Kunst des Small-Talks meistern. So entwickeln Sie Ihre soziale Kompetenz und verlieren die Angst, mit neuen Menschen zu sprechen von Gerard Shaw

Ich hoffe, dass Sie sich mit diesem Wissen im Gepäck auf den Weg machen, Ihre Ängste zu bewältigen! Es lohnt sich.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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Ich habe große Angst, Fehler zu machen oder aufzufallen

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16.01.2024

Liebe Frau Peirano,

Ich bin 27 und Tischler. Schon immer war ich eher schüchtern und habe mich nie in den Vordergrund gedrängt. Es ist für mich sehr stressig, mit fremden Menschen zu reden, wenn es um Persönliches geht. Ich gehe deshalb nicht auf Partys, sondern treffe mich mit meinen alten Freunden.

Noch schwieriger wäre es, eine Frau anzusprechen oder sie zu daten.

Aber auch kleine alltägliche Situationen fallen mir schwer und ich bin froh, wenn ich sie nicht machen muss, etwa einen Termin beim Arzt zu vereinbaren oder etwas zu reklamieren (z.B. im Laden). Ich habe schon viele Sachen behalten, die mir nicht gefallen, weil ich Angst hatte, negativ aufzufallen.

Überhaupt denke ich immer darüber nach, was die Leute über mich denken und wie ich rüberkomme. Ich versuche, keine Fehler zu machen, weil mir das total peinlich wäre.

Ich glaube, das Ganze hängt mit meinen Eltern zusammen. Meine Eltern sind kurz vor meiner Geburt aus Litauen eingewandert und konnten kein Deutsch. Sie hatten immer Angst aufzufallen und haben alles getan, um keine Fehler zu machen. Sie haben auch großen Wert darauf gelegt, dass ich in der Schule gut mitgekommen bin und ordentlich gekleidet war. Jeans mit Löchern oder die coolen Turnschuhe hätten sie nie erlaubt. Ich war immer ein bisschen der brave Nerd.

Meine Eltern haben beide auch Angst, mit fremden Menschen zu sprechen oder Fehler zu machen. Ich würde mich sehr gerne von meinen Ängsten befreien, nur wie?

Haben Sie ein paar Vorschläge?

Viele Grüße
Matas L.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

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Lieber Matas L.,

bei Ihrer Selbstbeschreibung........

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