Liebe Frau Peirano,

in letzter Zeit habe ich oft komische Träume, in denen mein Freund sich von mir trennt und ich öffentlich (z.B. auf einer Bühne oder vor Gericht) angeklagt werde. Zuerst konnte ich nichts damit anfangen. Aber dann habe ich nachgedacht und glaube, dass die Träume damit zusammen hängen, dass es Bereiche in meinem Leben gibt, die nicht wirklich zusammen passen.

Ich (27, Kölnerin) habe seit Jahren einen Freundeskreis in Berlin, Künstlerszene. Mein bester Freund hat mich vor vielen Jahren da reingebracht, und wenn ich alle drei bis vier Wochen ich in Berlin bin, gehe ich auf Partys und treffe mich mit den Leuten.

Seit langer Zeit (sechs oder sieben Jahre) habe ich dabei auch immer wieder etwas mit Jeanette am Laufen. Sie ist die jüngere Schwester eines Freundes. Es war am Anfang eigentlich eher ein Ausprobieren, wie es mit Frauen so ist. Damals habe ich auch eine Zeitlang mit anderen Frauen geschlafen.

Nur hörte ich irgendwann mit anderen Frauen auf, aber nicht mit Jeanette. Denn wenn wir uns sehen, ist eine starke Anziehung zwischen uns. Sie ist super attraktiv, weiß sich zu bewegen, küsst toll und der Sex ist einfach großartig. Entspannt, vertraut, erotisch, warm, innig, geschmeidig. Wundervoll. Es passt einfach 100 Prozent.

Aber es ist auch nicht mehr als das.

Wir schreiben uns nicht, wir vermissen uns nicht, wenn wir uns nicht sehen, und wir wollen keine Beziehung miteinander haben. In unserem Berliner Freundeskreis wissen alle das, aber es ist keine große Sache. Es gibt da eher keine festen Beziehungen, sondern flüchtigere.

Nur bin ich jetzt seit über einem Jahr mit einem deutlich älteren Mann (Vincent, 42) zusammen, der es ernst mit mir meint und mir angeboten hat, bei ihm einzuziehen. Im Juli ist es soweit.

Wir verstehen uns richtig gut, er ist sehr klug und inspiriert mich. Und mit ihm kann ich die Welt ganz anders entdecken, zum Beispiel waren wir zusammen auf der Biennale in Venedig oder in Cannes bei den Filmfestspielen. Und dann sind wir eher in einem eleganten Hotel als auf dem Campingplatz. Das war zuerst fremd für mich, aber jetzt genieße ich es sehr.

Ich liebe Vincent, und mir gefällt auch unser Leben. Aber ich liebe auch mein eigenes Leben und den Berliner Freundeskreis. Das ist für Vincent kein Problem. Er kann das gut trennen und wollte bisher auch nie mitkommen. Aber neulich war eine Kölner Freundin von mir mit in Berlin, die auch Vincent und mich gut kennt, und sie hat mitgekriegt, wie ich mit Jeanette getanzt habe und mit ihr aufs Zimmer gegangen bin. Und dann hat sie mich gefragt, was ich mir dabei denke und was Vincent wohl sagen würde, wenn er das wüsste.

Und so komisch es klingt: Mir ist erst in dem Moment aufgefallen, was ich eigentlich mache. Von außen betrachtet ist das ja wirklich eine Art Doppelleben. Aber so wie ich es fühle, habe ich komischerweise überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei. Jeannette ist Jeannette, und Vincent ist Vincent, jeder ist in seiner eigenen Welt, und ich habe mit beiden eine eigene Beziehung und keiner nimmt dem anderen etwas weg.

Vielleicht hatte ich auch Angst, dass Vincent mich verurteilt, wenn er weiß, dass ich etwas mit einer Frau habe. Er hat selbst mal sehr intolerant reagiert, als es um einen Schwulen-Film ging.

Nun ist die große Frage: Bin ich naiv, weil ich einfach nicht auf die Idee gekommen bin, dass meine Beziehung mit Jeanette für Vincent ein Problem sein könnte?

Muss ich ihm etwas davon sagen oder kann ich es einfach so weiter laufen lassen? Oder muss ich das mit Jeanette "beenden", obwohl es ja gar keine feste Beziehung oder eine Affäre ist?

Was raten Sie mir?

Viele Grüße
Alina G.


Liebe Alina G.,

es ist schon bemerkenswert, wie sehr Sie in der Lage sind, die verschiedenen Welten in Ihrem Leben voneinander zu trennen. Viele Menschen haben unterschiedliche Facetten, die nicht immer gut zusammen passen müssen. Vielleicht lebt ein eher nüchterner Statistiker seine Leidenschaft aus, indem er italienische Opern singt. Oder die Barkeeperin, die in der Szenekneipe bis nachts mit den schillerndsten Menschen zu tun hat, liegt in ihrer Freizeit überwiegend auf dem Sofa und pflegt ihre Balkonpflanzen.

Aber bei Ihnen scheint der Abstand zwischen den Lebenswelten noch größer zu sein, denn es hört sich so an, als wenn Sie die eine Welt fast innerlich auslöschen können, wenn Sie in der anderen Welt unterwegs sind!

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Wenn Sie außerhalb von Berlin sind, ist Jeannette quasi aus den Augen, aus dem Sinn. Und wenn Sie in Berlin sind, ist Vincent und die Welt, in der Sie mit ihm leben, wie weggeblasen. War das in Ihrem Leben schon immer so? Oder haben Sie die Trennung der Welten in Ihrer Kindheit lernen müssen, zum Beispiel durch eine Scheidung Ihrer Eltern und eine strikte Trennung von "Mamas Welt" und "Papas Welt", in der man auch nicht über den anderen sprechen durfte?

Es hört sich ja an wie eine starke Spaltung, die Sie anscheinend mühelos vollziehen können. Und die Gefühle, die zu den Lebenswelten oder speziellen Personen gehören, spalten Sie dann auch mit ab und dadurch fühlen Sie einen Teil von sich nicht.

Und erst durch diese "Dissoziation" - also durch das Abspalten, können Sie vergessen, was Sie mit Vincent verbindet und was Sie möglicherweise bezüglich Außenbeziehungen miteinander vereinbart haben. Gibt es eigentlich Absprachen mit ihm, und zwar explizite oder implizite, über Treue? Mit Jeanette ist das ja geklärt.
Wie würden Sie es eigentlich finden, wenn Vincent ohne großes Nachdenken mit einer anderen Person oder vielleicht auch mehreren anderen Personen Sex hätte?

Würden Sie es akzeptieren, wenn er Ihnen sagen würde, dass das nichts zu bedeuten hat, weil er diese Person ja schon seit Jahren kennt und immer wieder unverbindlichen Sex mit ihr hat? Und dass er Ihnen damit nichts wegnimmt?

Wenn Sie ganz gut damit leben könnten, dass jeder auch sexuell und erotisch mal seine eigenen Wege geht (aber dass man darüber nicht sprechen sollte), könnten Sie das doch auch mit Vincent besprechen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich vorstellen, dieses Gespräch mit ihm zu führen? Wäre er damit einverstanden oder wäre es für ihn das Ende der Beziehung? Für manche Paare ist es eine Lösung, die Beziehung zu öffnen.

Treue - oder sexuelle Exklusivität - ist ja etwas, wozu die meisten Menschen ein etwas ambivalentes Verhältnis haben. Die meisten würden sich gerne selbst sexuelle Freiheiten heraus nehmen und bei passender Gelegenheit ohne schlechtes Gewissen auch mal mit anderen Sex haben. Das Problem liegt darin, dass die gleichen Menschen empört und entrüstet wären, wenn ihr*e Partner*in sich das gleiche herausnehmen würde (oder es auch nur gerne tun würde)!

Und aufgrund dieser Doppelstandards einigen sich viele Paare darauf, selbst auf Sex mit anderen zu verzichten, damit sie nicht ertragen müssen, dass Ihr*e Partner*in sich auch andersweitig auslebt. Es ist also eigentlich ein Deal: Ich gebe dir etwas, weil ich möchte, dass du mir das auch gibst.

Wie stehen Sie dazu, dass Sie selbst sich an keine Regeln halten? Sie bekommen von Vincent anscheinend viel in der Beziehung, aber ignorieren, dass Sie dafür auch etwas geben müssten. Wie fänden Sie es, wenn es anders herum wäre? Oder was würden Sie über eine Freundin denken, die das gleiche macht in ihrer Partnerschaft?
Sind Sie auch anderen Lebensbereichen jemand, der sich nicht an Absprachen hält (z.B. Schulden nicht bezahlen, Verspechen nicht halten, Aufgaben nicht erledigen…)? Und was erwarten Sie von anderen Menschen, insbesondere Ihrem Partner, bezüglich Verlässlichkeit?

Wenn es Doppelstandards gibt: Wie argumentieren Sie das für sich und finden Sie diese Argumentation fair und schlüssig?

Wenn Sie merken, dass Sie sich insgesamt durch einige Regeln eingeengt fühlen (z.B. durch Exklusivität), würde ich Ihnen raten, neu zu verhandeln. Zum Glück leben wir im 21. Jahrhundert und Beziehungen sind Verhandlungssache. Keine Frau muss zwangsläufig putzen und kochen oder Kinder bekommen, kein Mann muss zwangsläufig die Familie alleine ernähren, und man muss auch nicht heiraten oder zusammen ziehen. Und man muss nicht zwangsläufig treu sein. Viele Paare leben in einer offenen Beziehung und haben sich das ausgesucht.
Das Einzige, was ich wichtig finde, ist Ehrlichkeit. Ein Paar sollte sich ehrlich über Erwartungen und Absprachen miteinander unterhalten und die Absprachen auch einhalten. Nur so schafft man Vertrauen.

Und hier sind Sie am Zug. Wenn Sie gerne mehr persönlichen Freiraum brauchen und andererseits Vincent auch einräumen würden, sollten Sie das mit ihm besprechen.

Wenn er damit nicht einverstanden ist, haben Sie immer noch mehrere Möglichkeiten: Entweder Sie lassen die Liebelei mit Jeanette sein und halten sich an die Spielregeln.

Oder Sie trennen sich von Vincent und machen weiterhin, wonach Ihnen gerade ist.

Oder Sie machen heimlich so weiter wie gehabt. Nur das bedeutet, dass Sie weiterhin Gefühle abspalten müssen, und die Träume, von denen Sie sprechen, sind ein Hinweis dafür, dass Sie das doch unbewusst unter Stress setzt. Dazu kommt die Gefahr, dass Ihr "Doppelleben" eines Tages auffliegt. Die Konsequenzen wären, dass Vincent einen schmerzhaften Vertrauensbruch erlebt und sich wahrscheinlich auch von Ihnen trennt. Meinen Sie, dass Sie ihm das antun wollen? In meiner Praxis habe ich erlebt, dass den meisten Menschen vorher nicht bewusst ist, welchen Schaden ein Seitensprung anrichtet.

Und ob Vincent es nun herausfindet oder nicht, sollten Sie sich eines vor Augen halten: Den wichtigsten Menschen in Ihrem Leben können Sie nicht betrügen und belügen, nämlich sich selbst.

Herzliche Grüße

Julia Peirano

QOSHE - Ich habe einen festen Partner, schlafe aber mit einer Freundin. Bisher dachte ich mir nichts dabei – ist das naiv? - Dr. Julia Peirano
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Ich habe einen festen Partner, schlafe aber mit einer Freundin. Bisher dachte ich mir nichts dabei – ist das naiv?

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08.03.2024

Liebe Frau Peirano,

in letzter Zeit habe ich oft komische Träume, in denen mein Freund sich von mir trennt und ich öffentlich (z.B. auf einer Bühne oder vor Gericht) angeklagt werde. Zuerst konnte ich nichts damit anfangen. Aber dann habe ich nachgedacht und glaube, dass die Träume damit zusammen hängen, dass es Bereiche in meinem Leben gibt, die nicht wirklich zusammen passen.

Ich (27, Kölnerin) habe seit Jahren einen Freundeskreis in Berlin, Künstlerszene. Mein bester Freund hat mich vor vielen Jahren da reingebracht, und wenn ich alle drei bis vier Wochen ich in Berlin bin, gehe ich auf Partys und treffe mich mit den Leuten.

Seit langer Zeit (sechs oder sieben Jahre) habe ich dabei auch immer wieder etwas mit Jeanette am Laufen. Sie ist die jüngere Schwester eines Freundes. Es war am Anfang eigentlich eher ein Ausprobieren, wie es mit Frauen so ist. Damals habe ich auch eine Zeitlang mit anderen Frauen geschlafen.

Nur hörte ich irgendwann mit anderen Frauen auf, aber nicht mit Jeanette. Denn wenn wir uns sehen, ist eine starke Anziehung zwischen uns. Sie ist super attraktiv, weiß sich zu bewegen, küsst toll und der Sex ist einfach großartig. Entspannt, vertraut, erotisch, warm, innig, geschmeidig. Wundervoll. Es passt einfach 100 Prozent.

Aber es ist auch nicht mehr als das.

Wir schreiben uns nicht, wir vermissen uns nicht, wenn wir uns nicht sehen, und wir wollen keine Beziehung miteinander haben. In unserem Berliner Freundeskreis wissen alle das, aber es ist keine große Sache. Es gibt da eher keine festen Beziehungen, sondern flüchtigere.

Nur bin ich jetzt seit über einem Jahr mit einem deutlich älteren Mann (Vincent, 42) zusammen, der es ernst mit mir meint und mir angeboten hat, bei ihm einzuziehen. Im Juli ist es soweit.

Wir verstehen uns richtig gut, er ist sehr klug und inspiriert mich. Und mit ihm kann ich die Welt ganz anders entdecken, zum Beispiel waren wir zusammen auf der Biennale in Venedig oder in Cannes bei den Filmfestspielen. Und dann sind wir eher in einem eleganten Hotel als auf dem Campingplatz. Das war zuerst fremd für mich, aber jetzt genieße ich es sehr.

Ich liebe Vincent, und mir gefällt auch unser Leben. Aber ich liebe auch mein eigenes Leben und den Berliner Freundeskreis. Das ist für Vincent kein Problem. Er kann das gut trennen und wollte bisher auch nie mitkommen. Aber neulich war eine Kölner Freundin von mir mit in Berlin, die auch Vincent und mich gut kennt, und sie hat mitgekriegt, wie ich mit Jeanette getanzt habe und mit ihr aufs Zimmer........

© stern


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