Liebe Frau Peirano,

in meinem jungen Leben habe ich schon viel mitmachen müssen. Ich habe eine pflegebedürftige Oma hinter mir, die zu Hause versorgt wurde. Meine Mutter wurde zur Alkoholikerin, war depressiv, hatte Angststörungen und Panikattacken. Mein Papa war Lkw-Fahrer und viel unterwegs. Trotzdem absolvierte ich einen top Abschluss, habe studiert und bin heute Führungskraft.

Vor zehn Jahren lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Wir zogen ins Haus meiner Eltern und renovierten die ehemalige Wohnung meiner Oma. Vor drei Jahren erhielt meine Mutter die Diagnose Nierenkrebs und hatte daraufhin wieder Depressionen. Kurz darauf erlitt mein Vater einen Herzinfarkt. Ich blieb zu Hause, um meiner frisch operierten Mutter und meinem geschwächten Vater zu helfen.

Dann gingen meine Eltern nacheinander in Reha. Ich übernahm in der Zeit Autofahrten, das Kochen und den Haushalt meiner Eltern. Ein Jahr später heirateten mein Mann und ich. Leider war auch unsere Hochzeit von der Depression meiner Mutter geprägt. Sie freute sich an dem Tag über nichts. Mein Vater fuhr sie früh nach Hause und konnte die Hochzeit so leider auch nicht genießen.

Kurz nach der Hochzeit erhielt mein Vater die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen. Er wurde zum Pflegefall, wollte aber nicht in ein Hospiz. Ich ließ mich krankschreiben und pflegte ihn mit meiner Mutter, ich verabreichte ihm zusätzlich starke Medikamente. Mein Vater lebte nach der Diagnose nur noch vier Monate.

Meine Mutter hielt sich in der Zeit wacker. Jedoch hat sie nur einmal nach ihrer Alkoholsucht eine Therapie angetreten, danach nie wieder. Sie kommt in fremden Umgebungen nicht zurecht, ist unselbstständig, fährt kein Auto, wirkt sehr unbeholfen und hilflos. Ich hab auch eine deutlich ältere Schwester, sie kümmert sich aber weniger.

Aktuell bin ich im 6. Monat schwanger, es ist ein absolutes Wunschkind. Leider ist meine Mutter seit acht Monaten wieder depressiv, doch sie begibt sich nicht in Therapie. Laufe ich meiner Mutter über den Weg, jammert sie, wie alleine sie ist, wie schlecht es ihr geht, was sie alles mitgemacht hat, warum sie nicht zuerst gestorben ist, jetzt sei sie so hilflos und alleine … Trifft sie im Ort auf andere Menschen sind die Themen nur ihr Verlust und ihre Einsamkeit. Dass sie Oma wird, erzählt sie nicht. Freunde hat sie kaum.

Ich gehe Vollzeit arbeiten, fahre meine Mutter zusätzlich überall hin.Ich habe Angst, dass ich wahnsinnig werde, wenn ich in Mutterschutz bin, wenn ich den ganzen Tag ungefiltert ihre Laune und ihre Sorgen abbekomme. Meine Mutter versteht das nicht. Ich habe mich in Therapie begeben, als mein Vater starb. Das habe ich ganz gut verkraftet, nur mit meiner Mutter fertig zu werden, gelingt mir kaum. Meine Therapeutin meint, dass meine Mutter schon früh ihre Verantwortung auf mich abgewälzt habe und ich ihr klare Grenzen setzen müsse. Außerdem sei ich nicht für das Glück meiner Mutter verantwortlich. Mein Mann steht hinter mir, unterstützt mich, mit meiner Mutter verliert er aber mittlerweile die Geduld.

Liebe Frau Peirano, was kann ich tun, um mehr Abstand zu gewinnen und meine Schwangerschaft und auch danach die Mutterschaft genießen zu können, ohne dass mir diese Zeit vermiest wird? Einfach ausziehen kann ich nicht, ich zahle noch zehn Jahre den Renovierungskredit ab.

Ich bin langsam am Verzweifeln und habe auch Angst, dass sich dies auf unser Baby negativ auswirkt.

Vielen Dank im Voraus für Ihren Rat.

Liebe Grüße
Denise Z.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Denise Z.,

Sie haben wirklich familiär eine riesige Last zu tragen! Es kommen in Ihrer Ursprungsfamilie viele tragische Belastungen zusammen: Ihre alkoholabhängige, depressive Mutter, die zusätzlich noch Krebs bekommen hat; davor Ihre pflegebedürftige Großmutter und Ihr krebskranker Vater. Ihre Großmutter und Ihr Vater leben nicht mehr, aber Ihre Mutter scheint Sie mit Ihrer Negativität und Hilflosigkeit sehr zu belasten.

Es hört sich so an, als wenn Sie eigentlich immer die Rolle der starken und erwachsenen Tochter einnehmen mussten, weil Ihr Vater abwesend war und Ihre Mutter eine unselbstständige, ängstliche Rolle eingenommen hat. Man nennt diese Rollenumkehr zwischen einem Kind und seinen Eltern auch "Parentifzierung". Gerade bei Elternteilen, die eine psychische Erkrankung wie eine Depression oder Angststörung haben oder suchtkrank sind (oder die wie Ihre Mutter von beidem betroffen sind), kommt Parentifizierung häufig vor.

Sie haben dieses Thema sicher auch in Ihrer bisherigen Therapie angesprochen, aber manchmal dauert es eben länger, um an einen Punkt zu kommen, an dem man wirklich etwas ändern möchte. Was hat es Ihnen in während der Therapie erschwert, sich wirklich von Ihrer Mutter abzugrenzen? Die Gründe, die gegen einen Fortschritt sprechen, nennen wir Verhaltenstherapeutinnen auch "aufrechterhaltende Bedingungen". Das könnte so etwas Äußerliches sein wie finanzielle Abhängigkeit, Verstrickung oder die Meinung des Umfeldes. Oft sind es zusätzlich auch innere Glaubenssätze oder erlernte Verhaltensmuster wie z.B. die Parentifizerung (Ich muss mich um meine Mutter kümmern, sie kommt ohne mich nicht klar).

Ich finde es sehr wichtig und hllfreich, sich über psychische Themen zu informieren. Man kann auch sagen: Wissen ist Macht.

Deshalb empfehle ich Ihnen zwei Bücher zum Thema Parentifizierung.

Beate Scherrmann-Gerstetter/M. Scherrmann: Das Brave-Tochter-Syndrom … und wie Frau sich davon befreit

Sandra Teml und Martin Wall: Ent-Eltert euch: Wie wir die emotionale Abhängigkeit von unseren Eltern überwinden und endlich uns selbst leben

Ich teile die Sichtweise Ihrer Therapeutin, dass Sie klare Grenzen setzen müssen. Vielleicht haben Sie jetzt mehr Durchsetzungskraft, weil Sie selbst Mutter werden, sich auf Ihr eigenes Kind fokussieren – und gleichzeitig Ihr Kind davor schützen möchten, in diese belastende Familiendynamik hineingezogen zu werden.

Auf der ganz praktischen Ebene wird eine Abgrenzung dadurch erschwert oder unmöglich gemacht, dass Sie im gleichen Haus wie Ihre Mutter wohnen. Ihre Mutter braucht nur einmal zu klingeln, und schon springen Sie. Aus meiner Sicht müssen Sie dringend raus aus dem Haus! Oder Ihre Mutter muss ausziehen.

Ich würde Ihnen empfehlen, Ihr Argument, dass Sie nicht ausziehen können, weil Sie die Renovierung noch abbezahlen müssen, ganz gründlich zu hinterfragen. Es gibt viele Alternativen: Ihre Mutter könnte ausziehen, Sie könnten ausziehen und die Wohnung Ihrer Großmutter vermieten.

Erinnern Sie sich doch noch einmal daran, was Sie dazu in Ihrer bisherigen Therapie erarbeitet haben – oder nehmen Sie noch weitere Therapiestunden, um an diesem konkreten Thema zu arbeiten. Am besten wäre eine räumliche Distanz zwischen Ihnen und Ihrer Mutter von mindestens einer halben Stunde Fahrzeit, damit Sie nicht "mal eben schnell" zu Ihrer Mutter kommen können, sondern sich jedes Mal bewusst fragen müssen, ob und wann Sie Ihr helfen. Hier wäre es auch gut, Ihrer Mutter ganz klar zu sagen, dass Sie eine (Sucht-)Therapie oder zumindest eine Selbsthilfegruppe aufsuchen soll.

Wie wäre es, wenn Sie Ihren Mann darum bitten, dass er Sie bei der räumlichen und dann auch inhaltlichen Abgrenzung von Ihrer Mutter unterstützt? Würde es Ihnen auch helfen, mit Ihrer Schwester zu sprechen und sie mal zu fragen, wie sie es schafft, sich besser abzugrenzen? Welche Gedankenmuster helfen ihr (z.B. die Erkenntnis, nicht für das (Un-)Glück der Mutter verantwortlich zu sein; die eigene unwichtige Rolle im Leben der Mutter zu erkennen; die Vergeblichkeit der eigenen Bemühungen zu sehen; sich auf das eigene Leben zu fokussieren)?

Am besten setzen Sie sich klare Ziele und verfolgen diese, damit Sie und Ihre kleine Familie unbelastet leben können. Dafür wünsche ich Ihnen allen erdenklichen Mut und Beharrlichkeit!

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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QOSHE - Ich erwarte mein Wunschkind. Doch solange meine depressive, alkoholkranke Mutter im gleichen Haus wohnt, sehe ich schwarz - Dr. Julia Peirano
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Ich erwarte mein Wunschkind. Doch solange meine depressive, alkoholkranke Mutter im gleichen Haus wohnt, sehe ich schwarz

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12.12.2023

Liebe Frau Peirano,

in meinem jungen Leben habe ich schon viel mitmachen müssen. Ich habe eine pflegebedürftige Oma hinter mir, die zu Hause versorgt wurde. Meine Mutter wurde zur Alkoholikerin, war depressiv, hatte Angststörungen und Panikattacken. Mein Papa war Lkw-Fahrer und viel unterwegs. Trotzdem absolvierte ich einen top Abschluss, habe studiert und bin heute Führungskraft.

Vor zehn Jahren lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Wir zogen ins Haus meiner Eltern und renovierten die ehemalige Wohnung meiner Oma. Vor drei Jahren erhielt meine Mutter die Diagnose Nierenkrebs und hatte daraufhin wieder Depressionen. Kurz darauf erlitt mein Vater einen Herzinfarkt. Ich blieb zu Hause, um meiner frisch operierten Mutter und meinem geschwächten Vater zu helfen.

Dann gingen meine Eltern nacheinander in Reha. Ich übernahm in der Zeit Autofahrten, das Kochen und den Haushalt meiner Eltern. Ein Jahr später heirateten mein Mann und ich. Leider war auch unsere Hochzeit von der Depression meiner Mutter geprägt. Sie freute sich an dem Tag über nichts. Mein Vater fuhr sie früh nach Hause und konnte die Hochzeit so leider auch nicht genießen.

Kurz nach der Hochzeit erhielt mein Vater die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen. Er wurde zum Pflegefall, wollte aber nicht in ein Hospiz. Ich ließ mich krankschreiben und pflegte ihn mit meiner Mutter, ich verabreichte ihm zusätzlich starke Medikamente. Mein Vater lebte nach der Diagnose nur noch vier Monate.

Meine Mutter hielt sich in der Zeit wacker. Jedoch hat sie nur einmal nach ihrer Alkoholsucht eine Therapie angetreten, danach nie wieder. Sie kommt in fremden Umgebungen nicht zurecht, ist unselbstständig, fährt kein Auto, wirkt sehr unbeholfen und hilflos. Ich hab auch eine deutlich ältere Schwester, sie kümmert sich aber weniger.

Aktuell bin ich im 6. Monat schwanger, es ist ein absolutes Wunschkind. Leider ist meine Mutter seit acht Monaten wieder depressiv, doch sie begibt sich nicht in Therapie. Laufe ich meiner Mutter über den Weg, jammert sie, wie alleine sie ist, wie schlecht es ihr geht, was sie alles mitgemacht hat, warum sie........

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