Liebe Frau Peirano,

ich (w, 29) bin seit einiger Zeit, vielleicht 6 Monaten, sehr erschöpft und kraftlos. Ich schaffe die Arbeitswoche, habe aber am Wochenende wenig Energie, etwas zu unternehmen. Ich habe mich von allen Menschen außer meinem Partner ein bisschen zurückgezogen und tendiere dazu, viel zu grübeln und alles zigmal zu durchdenken, um keine Fehler zu machen.

Dann schlafe ich natürlich schlecht. Ich weiß, dass das alles zusammenhängt, aber ich weiß nicht, wie ich da rauskomme.

Noch zwei Informationen: Mein Freund hat sehr viele Probleme bei der Arbeit und denkt auch eher negativ (Glas halb leer). Das zieht mich auch runter, wenn ich ehrlich bin.

Zudem bin ich von der generellen Situation der Welt sehr bedrückt. Vielleicht wird Trump wiedergewählt, der Ukraine-Krieg, der Nahost-Krieg, die Umweltkatastrophen, die tägliche Gewalt an Frauen und Kindern, usw. Das macht mich wirklich fertig.

Haben Sie ein paar Tipps für mich, wie ich aus diesem Teufelskreis herauskommen kann?

Viele Grüße
Annekatrin B.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Annekatrin B.,

ich habe in letzter Zeit sowohl in meiner Praxis als auch in meinem privaten Umfeld viele Menschen getroffen, denen es ähnlich geht wie Ihnen. Und ich habe mich bei Freunden erkundigt, ob sie in ihrem Umfeld auch so viele Menschen haben, die kraftlos, erschöpft und verzweifelt sind und sich mit viel Mühe von Woche zu Woche schleppen. Es scheint zurzeit wirklich weit verbreitet zu sein, und das liegt nicht nur am Winter.

Deshalb habe ich mir noch einmal intensive Gedanken gemacht, wie man sich wieder zu positiver Energie und in Schwung bringen kann.

1. Finden Sie heraus, was Sie wirklich gerne machen in Ihrem Leben und räumen Sie dem Zeit ein

Wenn Ihnen nichts einfällt, hilft es, sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Was haben Sie in Ihrer Kindheit freiwillig und ohne Ermahnung gemacht? Wovon konnten Sie nicht genug bekommen? Wenn es ein bestimmter Sport oder eine Aktivität wie Singen oder Lesen ist, sollten Sie diese aktiv aufgreifen, so wie eine gute Mutter auch ihrem musikbegeisterten Kind Klavierunterricht ermöglichen würde oder es beim Badminton anmeldet.

Ein großer Vorteil ist, dass Sie dabei auch Gleichgesinnte treffen und gemeinsam an einem Strang ziehen und auf etwas hinarbeiten (ein Turnier zu gewinnen, eine Sonate zu spielen) können.

Und wenn Sie das in Ihr Leben integriert haben, schauen Sie, ob die Menge ausreicht. Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass ich sehr intensiv Musik machen möchte (oder sogar für mein Wohlbefinden machen MUSS) und habe das in meinem Leben priorisiert, und das macht mich sehr zufrieden.

2. Suchen Sie einen Zugang zu Ihren Gefühlen und Bedürfnissen

Die meisten Menschen sind von den äußeren Anforderungen und der ständigen Überreizung so überfordert, dass sie sich selbst nicht mehr spüren können. Dabei ist es im Prinzip ganz einfach, sich selbst zu spüren. Manchmal gehe ich mit einer/m Patient:in, die sich reizüberflutet fühlt und nicht zur Ruhe kommt, an die frische Luft und wir üben eine Gehmeditation.

Die Anleitung könnte nicht einfacher sein: Man konzentriert sich auf die Berührung der Fußsohlen mit der Erde. Wenn die Gedanken abschweifen, geht man ganz stoisch immer wieder dazu zurück, die Berührung der Fußsohlen mit der Erde zu beobachten. Wie schnell oder langsam man dabei gehen mag, entscheidet man selbst. Man darf natürlich auch stehenbleiben, wenn man etwas betrachten möchte (z.B. habe ich einmal im Januar eine mit Schnee bedeckte Rosenblüte gesehen).

Es hilft, diese Übung das erste Mal mit jemandem zu machen, der es regelmäßig übt, muss aber nicht sein. Gerade Menschen, die zu unruhig sind, um stille Meditation zu üben, können oft mit Meditation in Bewegung viel anfangen. Und man kann das auch wunderbar in den Alltag integrieren, z.B. beim Weg zur S-Bahn.

3. Machen Sie einen Achtsamkeitskurs

Achtsamkeit oder auch MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) ist eine Sammlung von extrem hilfreichen Techniken, die einem helfen, einen Zugang zu sich zu bekommen und diesen in jedem Moment neu zu erschaffen. Das Erkennen der eigenen Bedürfnisse und Gefühle hilft dabei, Stress zu reduzieren.

Dabei kommt vieles zum Einsatz, was in fernöstlichen spirituellen Schulen wie Buddhismus und der Yoga-Philosophie entwickelt wurde. Das Positive daran ist aus meiner Sicht, dass diese Techniken (wie z.B. stille Mediation oder Gehmeditation) von ihrem religiösen Überbau befreit wurden. Wenn ich weltliches MBSR praktiziere, gibt es keine höhere Macht, die mir sagt, ob ich etwas tun darf oder nicht (z.B. Alkohol trinken, lügen, Luxus genießen), sondern ich horche immer in mich hinein und schaue, wie es mir in dem Moment damit geht.

Achtsamkeitskurse sind standardisiert, d.h. sie haben überall die gleichen Inhalte und den gleichen Ablauf (jedenfalls wenn sie vom MBSR Dachverband zertifiziert sind). Ein Kurs besteht aus 8 Abendterminen und einem Übungstag. Ich empfehle, dass Sie sich einen Kurs in Ihrer Nähe suchen und den auch persönlich (nicht online) aufsuchen. So wird die Praxis viel intensiver und Sie lernen auch andere Teilnehmer:innen kennen und können ggf. zusammen üben.

4. Reduzieren Sie Ihren Nachrichtenkonsum

Nachrichten sind meistens negativ und bedrohlich. Und damit beeinflussen sie unser Denken und unser Leben immens und drücken uns auf die Stimmung. Ich würde Ihnen empfehlen, dieses Buch zu lesen und sich Gedanken zu machen, wie Sie zukünftig mit Nachrichten umgehen wollen.

Buchtipp: Ronja von Wurmb-Seibel: Wie wir die Welt sehen – Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien

5. Unterscheiden Sie zwischen Working Mind und Thinking Mind und gehen Sie in den Working Mind Modus

Ab einem gewissen Alter lernen wir Menschen, unser Gehirn nicht nur für unsere Handlungen zu nutzen (z.B. um uns die Schuhe zuzubinden oder Frühstück zuzubereiten), sondern um zu reflektieren, um Dinge zu analysieren und um philosophische Überlegungen anzustellen.

Ersteres nennt man Working Mind, während das Analysieren Thinking Mind ist. Die Österreicher nennen es im Dialekt auch "Hirnen", was ich ganz treffend finde. Nicht selten verselbstständigt sich der Thinking Mind, wenn man zu oft von anderen Menschen isoliert ist, wenig praktische Tätigkeiten erledigen muss und sich körperlich wenig bewegt.

Ich hatte mal einen Yogalehrer, der sehr erfolgreich mit Thinking Mind umging: Saßen wir Schüler:innen nach dem Unterricht herum und redeten viel oder analysierten, sagte er: "Könnt ihr mal bitte in der Küche helfen?" Und sofort befand man sich vor 15-Liter-Töpfen, fremden Gewürzen (Curryblättern, Panch Phoron etc.) und unzähligen Linsenarten und musste sich mit einer unbekannten Person in einer fremden Küche mit exotischen Zutaten zurechtfinden.

Nach rund fünf Minuten setzte der Working Mind ein und es gab nur noch Fragen wie: "Kannst du mal den Topf spülen? Passt Kohlrabi zu Broccoli oder nehmen wir lieber Zucchini? Wie viel Linsen nimmt man für 15 Liter?" Diese Konzentration auf eine klare Aufgabe hat wirklich gut getan und geistig entspannt, und das Erfolgserlebnis (15 Liter Suppe) war auch positiv. Auf den Punkt gebracht: Nach dem Suppekochen hatten wir einfach gute Laune.

Genau das wäre auch die Methode: Benutzen Sie Ihre Hände und Ihren Körper, um komplizierte Abläufe zu erledigen, damit Sie aus dem Grübeln herauskommen. Man kann nicht grübeln, wenn man eine komplexe Schrittfolge nachtanzt, ein anspruchsvolles Stück auf einem Instrument übt, singt, ein neues Kuchenrezept ausprobiert oder Schränke ausmistet und die Kleidung verkauft.

6. Treffen Sie sich mit positiv gestimmten Menschen

Schauen Sie mal in Ihrem Umfeld nach, welche Menschen generell zuversichtlich, zupackend, fröhlich und positiv sind und suchen Sie deren Nähe. Das können einzelne Freunde oder Familienmitglieder sein, aber auch Gruppen, in denen es um Spaß, Freude oder ein positives Projekt geht. Versuchen Sie auch, in einem Working-Mind-Modus mit anderen Menschen zusammenzutreffen und vermeiden Sie es, Probleme zu diskutieren.

7. Werden Sie wieder analog

Schalten Sie Ihr Handy so oft es geht in den Flugmodus (oder ganz aus) und befassen Sie sich mit echten Sinneseindrücken. Vielleicht können Sie ganz bewusst Musik hören, etwas kochen (und dabei anfassen, riechen, schmecken), spazierengehen und dabei wirklich achtsam sein, sich ausruhen und z.B. lesen, ohne dass das Handy Sie ständig aus dem Hier und Jetzt in eine andere Welt bringt und Sie mit Informationen überreizt.

8. Schreiben Sie zwei Tagebücher

Legen Sie sich ein Tagebuch zu, in dem Sie über Dinge schreiben können, die Sie belasten oder beschäftigen. Lassen Sie sich Zeit, das alles zu erzählen, und wenn Sie fertig sind, setzen Sie sich auf einen anderen Stuhl (!) und antworten sich selbst in dem Tagebuch mit einem anderen Stift. Schreiben Sie die ehrlichste und positivste Antwort, die Sie sich in dem Moment geben können.

Das zweite Tagebuch ist nur für positive Dinge, und seien sie noch so klein und alltäglich. Sie können auch Fotos einkleben oder schöne Musikstücke aufschreiben, die Sie gehört haben.

Das sind meine Ansätze dazu. Ich würde Ihnen raten, das Ganze als üben (oder praktizieren) zu betrachten. Ich habe mein Leben lang klassische Musik gemacht und die Erkenntnis, das man täglich üben muss, um weiterzukommen, ist extrem hilfreich. Denn man kocht einfach mit Wasser, wie wir alle. Man erwartet keine Wunder, und von nichts kommt nichts. Aber zu wissen, wie man üben soll und das täglich zu praktizieren, ist für mich ein unfassbarer Schatz.

Ich hoffe, dass Sie sich mit dem Gedanken des lebenslangen Zufriedenheits-Übens anfreunden können.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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Ich bin kraftlos und erschöpft, wie komme ich zu mehr Energie?

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07.02.2024

Liebe Frau Peirano,

ich (w, 29) bin seit einiger Zeit, vielleicht 6 Monaten, sehr erschöpft und kraftlos. Ich schaffe die Arbeitswoche, habe aber am Wochenende wenig Energie, etwas zu unternehmen. Ich habe mich von allen Menschen außer meinem Partner ein bisschen zurückgezogen und tendiere dazu, viel zu grübeln und alles zigmal zu durchdenken, um keine Fehler zu machen.

Dann schlafe ich natürlich schlecht. Ich weiß, dass das alles zusammenhängt, aber ich weiß nicht, wie ich da rauskomme.

Noch zwei Informationen: Mein Freund hat sehr viele Probleme bei der Arbeit und denkt auch eher negativ (Glas halb leer). Das zieht mich auch runter, wenn ich ehrlich bin.

Zudem bin ich von der generellen Situation der Welt sehr bedrückt. Vielleicht wird Trump wiedergewählt, der Ukraine-Krieg, der Nahost-Krieg, die Umweltkatastrophen, die tägliche Gewalt an Frauen und Kindern, usw. Das macht mich wirklich fertig.

Haben Sie ein paar Tipps für mich, wie ich aus diesem Teufelskreis herauskommen kann?

Viele Grüße
Annekatrin B.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Annekatrin B.,

ich habe in letzter Zeit sowohl in meiner Praxis als auch in meinem privaten Umfeld viele Menschen getroffen, denen es ähnlich geht wie Ihnen. Und ich habe mich bei Freunden erkundigt, ob sie in ihrem Umfeld auch so viele Menschen haben, die kraftlos, erschöpft und verzweifelt sind und sich mit viel Mühe von Woche zu Woche schleppen. Es scheint zurzeit wirklich weit verbreitet zu sein, und das liegt nicht nur am Winter.

Deshalb habe ich mir noch einmal intensive Gedanken gemacht, wie man sich wieder zu positiver Energie und in Schwung bringen kann.

1. Finden Sie heraus, was Sie wirklich gerne machen in Ihrem Leben und räumen Sie dem Zeit ein

Wenn Ihnen nichts einfällt, hilft es, sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Was haben Sie in Ihrer Kindheit freiwillig und ohne Ermahnung gemacht? Wovon konnten Sie nicht genug bekommen? Wenn es ein bestimmter Sport oder eine Aktivität wie........

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