Liebe Frau Peirano,

ich (27, Medizinerin) habe vor ein paar Monaten einen Kollegen (Daniel) näher kennengelernt, der deutlich älter ist als ich. Er ist 46, verheiratet und hat 2 Kinder. Als er anfing, mir Avancen zu machen, habe ich erstmal gefragt, was mit seiner Frau ist. Er meinte, die beiden hätten eine offene Beziehung und es sei also ok. Wir haben uns dann weiterhin getroffen und auch starke Gefühle füreinander entwickelt. Er übernachtet öfter bei mir, wir gehen zusammen laufen und haben auch schon ein paar Kurzreisen zusammen gemacht.

Am Anfang hatte ich gedacht, dass er mit seiner Frau eher eine freundschaftliche Beziehung hat und deshalb beide andere Partner haben "dürfen". Aber als ich nachfragte, hat er mir erzählt, dass die beiden seit 20 Jahren zusammen sind und sich sehr lieben, und sie haben auch noch regelmäßig Sex miteinander. Sie schlafen eben auch mit anderen, weil sie sich beide von Anfang an einig waren, dass exklusive Beziehungen nichts für sie sind.

Ich wollte wissen, ob seine Frau (Katja) von mir weiß und er strahlte mich an und sagte: "Ich erzähle ihr alles." Anscheinend hat seine Frau sich am Anfang sogar für ihn gefreut, dass er mich gefunden hat. Sie hat selbst gerade etwas mit einer anderen Frau, was wohl etwas weiter geht, und manchmal auch kürzere Geschichten mit anderen Männern. Ich wollte wissen, ob die beiden auch darüber sprechen, was bei uns im Bett läuft, und er sagte, dass sie das so vereinbart haben und dass es ihre Beziehung "bereichert".

Ich war völlig verwirrt und wusste nicht, was ich davon halten soll, dass es sozusagen keine Geheimnisse oder Intimität zwischen uns beiden gibt, sondern dass alles von den beiden besprochen wird. Und ich habe zwischen den Zeilen gelesen, dass diese Erzählungen beide auch heiß machen, sodass sie dann wohl auch Sachen ausprobieren, die wir beide mal gemacht haben. Das hat sich nicht gut angefühlt.

Eigentlich bin ich ein offener Mensch und probiere Neues erst mal aus, bevor ich mir eine Meinung bilde. Aber hier habe ich das Gefühl, dass ich wenig Mitspracherecht habe, dass Daniel und Katja zusammen Dinge über meinen Kopf hinweg entscheiden und für mich heißt es nur: Take it or leave it.

Katja hat mir vor ein paar Tagen sogar eine Email geschrieben und gesagt, dass sie mich gerne mal kennenlernen würde und hat mich zu einer kleinen Party bei sich eingeladen. Anscheinend kommen da auch andere Frauen, mit denen Daniel mal was hatte und mit denen er jetzt befreundet ist.

So habe ich mir das irgendwie nicht vorgestellt. Ich dachte, es wäre eine Art Affäre mit Erlaubnis der Frau, aber dass wir mehr unser eigenes Ding machen würden und unabhängig wären. Jetzt habe ich das Gefühl, dass seine Frau die Fäden zieht und fühle mich ein bisschen wie ein Spielzeug. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, wie ein Spielzeug von beiden.

Übertreibe ich oder können Sie das verstehen? Gibt es andere Möglichkeiten, außer mich zu trennen? Wenn Daniel und ich alleine sind, ist es einfach wunderschön.

Viele Grüße
Marilyn G.

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Marilyn G.,

ja, Ihre Geschichte klingt schon sehr ungewohnt und fällt aus den Rastern der üblichen Kategorisierungen, die wir kennen wie "monogame Beziehung" oder "Affäre". Offene Beziehungen sind eine andere Art von Beziehung und folgen demnach anderen Spielregeln, die man erst einmal erkennen und ausprobieren muss.

Wie Sie sicher wissen, gibt es verschiedene Motive dafür, eine offene Beziehung zu führen, und es gibt in jeder offenen Beziehung unterschiedliche Spielregeln, wie genau ein Paar seine Beziehung öffnen will. Manche Paare, die eine offene Beziehung führen, machen das, weil es sexuell nicht (mehr) passt und sie trotzdem die Beziehung erhalten wollen. Dann lebt das Paar freundschaftlich zusammen und erlaubt sich gegenseitig sexuelle Erlebnisse mit anderen Partner:innen, über die entweder gesprochen wird oder die diskret gehandhabt werden.

Andere Paare, die sich für eine offene Beziehung entschieden haben, haben eine lebendige Sexualität, sind sich aber darüber im Klaren, dass sie gerne auch mit anderen Personen Sex haben möchten und das aus Respekt voreinander auf keinen Fall heimlich hinter dem Rücken des Partners oder der Partnerin tun wollen. Und wenn ein Paar die Beziehung öffnet, handeln die beiden miteinander aus, wie sie sich das vorstellen und was "erlaubt" ist und was nicht.

Es geht dann um Fragen wie zum Beispiel: Erzählen wir uns alles, oder nur das, was Bedeutung hat? Ist es in Ordnung, auch mit jemandem aus dem Freundeskreis (oder der Familie) etwas anzufangen, oder sollten es eher Fremde sein? Hat der Partner, die Partnerin eine Art Vetorecht, wenn Interessen kollidieren? Darf man andere Sexpartner auch zum Sex nach Hause bringen, wenn der andere verreist ist oder ist das tabu?

Eine offene Beziehung braucht mehr Verhandlungen und Absprachen als die typische monogame Beziehung, damit sie gelingt. Ganz offensichtlich haben Daniel und Katja sich viele Gedanken über ihre offene Beziehung gemacht und scheinen damit wunderbar klarzukommen. Das ist für die beiden ein großer Erfolg!

Man muss es erst einmal schaffen, sich über die Jahre hinweg zu lieben, den Sex lebendig zu halten und gleichzeitig dem anderen die Freiheit zu gewähren, mit anderen Menschen Sex zu haben. Und Daniel und Katja tauschen sich darüber aus, ohne dass es zu Zerwürfnissen oder gar einer Trennung kommt. Da ist anscheinend viel Vertrauen im Spiel. Gleichzeitig scheint es ihnen ziemliche Lust zu bereiten, sich den anderen beim Sex mit einer anderen Person vorzustellen oder Details darüber zu hören. Das feuert die Leidenschaft wieder an.

So bekommen die beiden alles, was sie sich wünschen: Eine feste Bindung, eine Familie, gleichzeitig sexuelle Abwechslung sowie die Freiheit sich auszuleben – und damit auch noch die Leidenschaft zu Hause wieder anzufachen.

Wenn ich mich in Daniel und Katja hineinversetze, haben die beiden viel dafür getan, um ihre Beziehung nach ihren Wünschen zu gestalten und sie werden deshalb wahrscheinlich nicht bereit sein, etwas an diesem für sie befriedigenden Modell zu verändern.

Und deshalb ist es für Sie schwierig.

Ihre Situation hört sich so an, als hätten Sie einen Untermietvertrag für ein Zimmer im Einfamilienhaus eines Paares. Das Paar hat alles entschieden: Wie das Haus eingerichtet ist, wer welche Pflichten (Putzen) und Rechte (Partys feiern) hat, wie langfristig der Untermietvertrag ist und welchen Freiraum Sie haben, Ihr Zimmer zu gestalten. Dürfen Sie Ihre Gäste mit ins Wohnzimmer oder in den Garten bringen oder sollten Sie sich nur in Ihrem Zimmer aufhalten? Als Untermieterin haben Sie da kein Mitspracherecht, sondern müssen sich fügen.

Es sieht nach Ihrer Beschreibung so aus, dass auch in dem Beziehungsgefüge zwischen Daniel, Katja und Ihnen keine gleichberechtigten Entscheidungen getroffen werden. Die Spielregeln wurden lange vor Ihrer Zeit vereinbart und zwar von Daniel und Katja. Und für Sie gibt es jetzt nur noch die Wahl, das zu akzeptieren oder zu gehen. Wie Sie schreiben: Take it or leave it.

Es scheint Sie zu treffen, dass es keine Geheimnisse oder Privatsphäre zwischen Daniel und Ihnen gibt, denn die beiden erzählen sich alles. Und das fühlt sich für Sie merkwürdig an, was ich gut verstehen kann. Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie sich wie die Untermieterin in meinem Beispiel oft unterlegen fühlen und sich denken: "Ich habe hier nichts zu sagen." Das wird sicher auch dadurch verstärkt, dass die beiden deutlich älter als Sie und schon seit Jahrzehnten zusammen sind.

Eine Beziehung auf Augenhöhe ist das nicht, sondern eine Hierarchie. Und so viel Wert wie die beiden auf ihre eigene Freiheit legen, wird Ihre durch das Arrangement etwas eingeschränkt. Und gleichzeitig wirken Sie auf mich auch irritiert und verärgert.

Gerade die neue Herausforderung, dass Katja Sie kennenlernen will, kommt mir unter diesen Umständen auch nicht gleichberechtigt vor. Sie werden zu beiden nach Hause eingeladen, an deren sicheren Ort, an dem Sie fremd sind. Auch hier wieder: My home, my rules. Als Gast haben Sie sich zu fügen. An dem Abend, an dem Sie Katja kennenlernen sollen, die Daniel liebt und mit der er regelmäßig Sex hat, begegnen Sie noch weiteren Ex-Freundinnen von Daniel. Wird da nicht auch der Gedanke geschürt: Andere Frauen kommen und gehen, aber Katja bleibt? Diese Herausforderungen an einem einzigen Abend würde reichen, um die meisten Menschen ordentlich nervös zu machen oder sogar aus der Fassung zu bringen. Wollen Sie sich das antun?

Eine Frage ist ja, ob Sie Katja kennenlernen wollen oder nicht. Die andere Frage ist, ob Sie sich in diesen Rahmen begeben, in dem Sie die schlechteren Karten haben. Dabei beschleicht mich der Eindruck, dass Daniel und Katja sich selbst sehr in Ihrer Offenheit und Experimentierfreudigkeit gefallen. Sie geben sich so lässig, eine offene Beziehung zu führen und sogar die Sexpartner des eigenen Partners nach Hause einzuladen. Alles kein Problem, alles ganz locker und ohne Eifersucht! Und jeder, der dabei eben doch eifersüchtig wird oder sich nicht wohlfühlt, kommt sich im Vergleich zu den beiden etwas verklemmt und engstirnig vor. Aber jeder Mensch ist anders, und diese Art von Beziehung passt nicht zu jedem. Bei weitem nicht jeder findet es erregend, solche Spielchen zu spielen und sich anzuhören, was der Partner mit anderen im Bett macht!

Wenn Sie mir hier folgen können und beim Lesen meiner persönlichen Sicht auf die Lage zustimmen, dann empfehle ich Ihnen, sich erst mal Zeit für sich zu nehmen und wieder in Kontakt mit Ihren eigenen Werten und Grenzen zu kommen. Fragen Sie sich doch, was im Moment überwiegt: Neugier, Lust auf Abenteuer, Experimentierfreude – oder das Bedürfnis, gleichberechtigt und auf Augenhöhe zu leben und die Spielregeln selbst entscheiden zu dürfen.

Also: Zur Untermiete wohnen oder ein eigenes Reich haben? Sie entscheiden. Und beides ist vollkommen in Ordnung. Es muss nur zu Ihnen passen.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

QOSHE - Ich bin in eine offene Beziehung hineingeraten und komme mir vor wie ein Spielzeug - Dr. Julia Peirano
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Ich bin in eine offene Beziehung hineingeraten und komme mir vor wie ein Spielzeug

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21.11.2023

Liebe Frau Peirano,

ich (27, Medizinerin) habe vor ein paar Monaten einen Kollegen (Daniel) näher kennengelernt, der deutlich älter ist als ich. Er ist 46, verheiratet und hat 2 Kinder. Als er anfing, mir Avancen zu machen, habe ich erstmal gefragt, was mit seiner Frau ist. Er meinte, die beiden hätten eine offene Beziehung und es sei also ok. Wir haben uns dann weiterhin getroffen und auch starke Gefühle füreinander entwickelt. Er übernachtet öfter bei mir, wir gehen zusammen laufen und haben auch schon ein paar Kurzreisen zusammen gemacht.

Am Anfang hatte ich gedacht, dass er mit seiner Frau eher eine freundschaftliche Beziehung hat und deshalb beide andere Partner haben "dürfen". Aber als ich nachfragte, hat er mir erzählt, dass die beiden seit 20 Jahren zusammen sind und sich sehr lieben, und sie haben auch noch regelmäßig Sex miteinander. Sie schlafen eben auch mit anderen, weil sie sich beide von Anfang an einig waren, dass exklusive Beziehungen nichts für sie sind.

Ich wollte wissen, ob seine Frau (Katja) von mir weiß und er strahlte mich an und sagte: "Ich erzähle ihr alles." Anscheinend hat seine Frau sich am Anfang sogar für ihn gefreut, dass er mich gefunden hat. Sie hat selbst gerade etwas mit einer anderen Frau, was wohl etwas weiter geht, und manchmal auch kürzere Geschichten mit anderen Männern. Ich wollte wissen, ob die beiden auch darüber sprechen, was bei uns im Bett läuft, und er sagte, dass sie das so vereinbart haben und dass es ihre Beziehung "bereichert".

Ich war völlig verwirrt und wusste nicht, was ich davon halten soll, dass es sozusagen keine Geheimnisse oder Intimität zwischen uns beiden gibt, sondern dass alles von den beiden besprochen wird. Und ich habe zwischen den Zeilen gelesen, dass diese Erzählungen beide auch heiß machen, sodass sie dann wohl auch Sachen ausprobieren, die wir beide mal gemacht haben. Das hat sich nicht gut angefühlt.

Eigentlich bin ich ein offener Mensch und probiere Neues erst mal aus, bevor ich mir eine Meinung bilde. Aber hier habe ich das Gefühl, dass ich wenig Mitspracherecht habe, dass Daniel und Katja zusammen Dinge über meinen Kopf hinweg entscheiden und für mich heißt es nur: Take it or leave it.

Katja hat mir vor ein paar Tagen sogar eine Email geschrieben und gesagt, dass sie mich gerne mal kennenlernen würde und hat mich zu einer kleinen Party bei sich eingeladen. Anscheinend kommen da auch andere Frauen, mit denen Daniel mal was hatte und mit denen er jetzt befreundet ist.

So habe ich mir das irgendwie nicht vorgestellt. Ich dachte, es wäre eine Art Affäre mit Erlaubnis der Frau, aber dass wir........

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