Wenn der Rand immer breiter wird, erreicht er irgendwann die Mitte.

Als ich 2010 in Den Haag Geert Wilders zu einem Interview traf, war der große Blondierte ein politischer Außenseiter. Er selbst sagte damals „Man liebt mich oder man hasst mich“ (profil Nr. 12/ 2010), aber er wusste, dass der Hass auf ihn die Liebe bei Weitem übertraf. Angeklagt wegen Volksverhetzung (das Verfahren endete mit einem Freispruch, weil die Meinungsfreiheit überwog), in Großbritannien mit einem Einreiseverbot belegt (das aus demselben Grund aufgehoben wurde), hatte er mit seinem Film „Fitna“ einen Skandal entfacht, weil er darin Koran-Suren mit nichts als Gewalt- und Terrorszenen verschmolz. Zum Ende des profil-Interviews sagte Wilders: „Meine Partei und ich stehen erst am Anfang eines Abenteuers. Wir wollen in den Niederlanden viel ändern.“

Lange Zeit sah es nicht danach aus. Doch 13 Jahre später, bei der Parlamentswahl am vergangenen Mittwoch, landet Wilders’ „Partei für die Freiheit“ auf Platz 1. Der Mann, der seine Feindschaft zum Islam zu seinem Markenzeichen und zum Inhalt seiner Politik gemacht hat, meldet die Anwartschaft auf das Amt des Ministerpräsidenten an. Aus Hass wurde Liebe, aus dem Rand die Mitte.

Die Aufregung über Wilders’ Erdrutschsieg wird sich wohl 2024 als wiederkehrende Emotion erweisen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni werden die Rechtsaußen-Parteien deutlich zulegen: In der jeweiligen Sonntags-

frage liegt in Frankreich Marine Le Pens „Nationale Versammlung“ deutlich in Führung, in Österreich die FPÖ, in Italien Giorgia Melonis „Brüder Italiens“, und in Deutschland kommt die AfD bereits regelmäßig auf Rang zwei … Wären die Rechtspopulisten im Europaparlament nicht in zwei Fraktionen gespalten, lägen sie nach den kommenden Wahlen voraussichtlich an zweiter Stelle hinter den Christdemokraten.

Die Welle rollt nach rechts.

Aber immer noch glauben allzu viele Leute, dass Grundrechte, Verfassung und Menschenrechtskonvention für alle rechtspopulistischen Bulldozer verlässlich ein unüberwindliches Hindernis darstellen. Das mag in manchen Fällen geklappt haben, etwa als Donald Trump den „Muslim Ban“ verhängt hat – ein Einreiseverbot für Personen aus bestimmten muslimisch dominierten Staaten. Die Justiz kippte das diskriminierende Gesetz. Doch darauf ist nicht ewig Verlass.

Das Recht hat der Politik zu folgen, und nicht die Politik dem Recht.

Herbert Kickl

Wenn die Zahl der rechtspopulistischen Regierungschefs eine kritische Masse erreicht, wird auch vermeintlich unumstößliches Recht unter Druck geraten, oder, wie FPÖ-Chef Herbert Kickl es formuliert: „Das Recht hat der Politik zu folgen, und nicht die Politik dem Recht.“ Gemeint ist: Auch Grundrechte können verwässert, uminterpretiert oder aufgehoben werden.

Die Stimmung in Europa gegenüber Muslimen wird immer aggressiver. Der Frust darüber, dass Abschiebungen rechtskräftig abgelehnter Asylwerber nicht vollzogen werden können, lässt den Wunsch nach rabiaten Maßnahmen aufkommen. „Wollt ihr in dieser Stadt und in den Niederlanden mehr oder weniger Marokkaner?“, rief Wilders 2014 seinen Anhängern in Den Haag zu (und wurde deshalb rechtskräftig verurteilt). Das Gebrüll „Weniger, weniger!“ erscholl – und wird seither auf dem ganzen Kontinent immer lauter.

Mit Kickl, Wilders, Meloni, Orbán und Le Pen im Europäischen Rat, einer starken Rechts-Fraktion im Parlament und einer anschwellenden Muslime-raus-Atmosphäre in der Bevölkerung wäre das Europa, das wir kennen, Geschichte.

Seit Jahrzehnten schicken Wilders und seinesgleichen die Bevölkerung durch eine Islam-Geisterbahn. Minarette! Ehrenmorde! Zwangsehen! Burkas! Scharia-Gerichte! Keines der Phänomene erreichte in Europa je ernsthafte Bedeutung, doch die Feindschaft zum Islam erklomm die ideologischen Charts.

Ewiger Dauerbrenner bleibt die ungebremste Einwanderung über das Asylsystem. Hier müssen die Regierungen eine vernünftige, praktikable Lösung für rechtlich gedeckte Abschiebungen finden. Der bloße Hinweis, dass diese nicht durchführbar seien, ist nicht akzeptabel. Mehr Druck auf die Herkunftsländer, ihre Migranten zurückzunehmen, und die Suche nach sicheren, menschenrechtlich unbedenklichen Drittländern sind zwei mögliche Wege.

Wenn der Zeitgeist einmal weht, ist er schwer zu drehen. Was kann getan werden, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Muslime – und auch muslimische Einwanderer – rechtschaffene Bürgerinnen und Bürger sind?

Seltsamerweise bleiben die Muslime, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, in der Gesellschaft unsichtbar. So wie innerhalb erstaunlich kurzer Zeit die winzige Gruppe non-binärer Personen präsent gemacht wurde, sollte auch die unvergleichlich größere Gruppe von Muslimen ins allgemeine Bewusstsein rücken. Derzeit wird sie fast ausschließlich mit Gewaltakten, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit assoziiert. Das ist ein unfaires Zerrbild, das politisch ausgeschlachtet wird.

„Wenn die Muslime bei uns noch mehr werden, werden sie andere Töne anschlagen“, warnte Geert Wilders im profil-Interview.

Ersetzen Sie „Muslime“ durch „Rechtspopulisten“.

QOSHE - Wilders und die Muslime-raus!-Fraktion - Robert Treichler
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Wilders und die Muslime-raus!-Fraktion

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25.11.2023

Wenn der Rand immer breiter wird, erreicht er irgendwann die Mitte.

Als ich 2010 in Den Haag Geert Wilders zu einem Interview traf, war der große Blondierte ein politischer Außenseiter. Er selbst sagte damals „Man liebt mich oder man hasst mich“ (profil Nr. 12/ 2010), aber er wusste, dass der Hass auf ihn die Liebe bei Weitem übertraf. Angeklagt wegen Volksverhetzung (das Verfahren endete mit einem Freispruch, weil die Meinungsfreiheit überwog), in Großbritannien mit einem Einreiseverbot belegt (das aus demselben Grund aufgehoben wurde), hatte er mit seinem Film „Fitna“ einen Skandal entfacht, weil er darin Koran-Suren mit nichts als Gewalt- und Terrorszenen verschmolz. Zum Ende des profil-Interviews sagte Wilders: „Meine Partei und ich stehen erst am Anfang eines Abenteuers. Wir wollen in den Niederlanden viel ändern.“

Lange Zeit sah es nicht danach aus. Doch 13 Jahre später, bei der Parlamentswahl am vergangenen Mittwoch, landet Wilders’ „Partei für die Freiheit“ auf Platz 1. Der Mann, der seine Feindschaft zum Islam zu seinem Markenzeichen und zum Inhalt seiner Politik gemacht hat, meldet die Anwartschaft auf das Amt des Ministerpräsidenten an. Aus Hass wurde Liebe, aus dem Rand die Mitte.

Die Aufregung über Wilders’ Erdrutschsieg wird sich wohl 2024 als........

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