Der Rücktritt von Claudine Gay als Präsidentin von Harvard ist nur ein kleiner Schritt im Kampf gegen den systemischen Antisemitismus, der sich in den letzten drei Monaten ungehalten über unseren Campus hier in Harvard, aber auch in etlichen anderen Universitäten in den USA und auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. Ihn wieder einzugrenzen, ist nun die Aufgabe einer neuen Harvard-Führung, die sich daran messen lassen muss, ob der Campus für alle Studenten – auch für jüdische Studenten – wieder zu einem sicheren Ort wird.

Als Jude in Harvard habe ich die letzten Monate selbst erlebt, wie meine Universität für mich, und wohl jeden, der in irgendeiner Verbindung zu Israel stand, zu einer feindseligen Umgebung wurde. Unmittelbar nach den Verbrechen durch die Hamas am 7. Oktober 2023 gaben über 30 Studentenorganisationen in Harvard eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie Israel allein für den Terror der Hamas verantwortlich machten und das Massaker als »Widerstand« der Palästinenser rechtfertigten.

Für Harvard bedeutete dies, dass eine bedrohliche Menge von Studenten sich für den Terror der Hamas aussprachen, der wiederum etliche anderen Studenten empfindlich getroffen hatte: Sie sind Israelis, haben Verwandte und Freunde in Israel, oder begreifen als Juden Israel als ihren sicheren Hafen. Sie alle kannten wohl jemanden, der durch die Verbrechen, die auf unserem Campus gerechtfertigt wurden, sein Leben verlor.

Doch selbst in diesen ersten Tagen des absoluten Schocks und der erneuten Traumatisierung, verurteilte unsere Präsidentin Claudine Gay weder diese Aktion noch die Hamas, sondern ließ zu, dass diese antisemitische Stimmung auf dem Campus wuchs und sich ausbreitete, in Harvard allgegenwärtig und inhärent wurde.

Unsere Realität, unsere Angst, unsere Trauer als jüdische und israelische Studenten wurden von unseren Kommilitonen verleugnet – und dies nach dem größten Mord an Juden seit dem Holocaust. Derweil blieb die Harvard-Führung untätig, lenkte von dem wahren Geschehen ab und konzentrierte sich darauf, »Islamophobie« zu verhindern.

In dieser Zeit sah ich regelmäßig Kundgebungen auf dem Campus, bei denen aggressive Anti-Israel-Sprechchöre gerufen wurden. Die Demonstranten forderten, »die Intifada zu globalisieren« und Palästina »vom Fluss bis zum Meer« zu befreien.

Claudine Gay sollte – als Person, die angibt, während ihrer gesamten Laufbahn mit Rassismus zu tun gehabt zu haben – die Bedeutung dieser Gesänge verstehen: »Globalisierung der Intifada« heißt nichts anderes, als die weltweite Ermordung von Juden befürworten, und »vom Fluss bis zum Meer« meint, Israel zu vernichten und seine jüdische Bevölkerung von diesem Stück Land zu vertreiben.

Mit jedem Tag, an dem ich auf dem Weg in meine Seminare diese gewaltvollen Botschaften ertragen musste, wuchs meine Enttäuschung über meine Universität und ihre Verwaltung, die es zuließ, dass dieser abgrundtiefe Hass, der in Israel Menschenleben kostet, hier fortbesteht. Auch wenn der zutiefst antisemitische Charakter jener Sprüche einigen Teilnehmern dieser Kundgebungen nicht von vornherein klar gewesen sein sollte, so war er doch sicherlich denen klar, die das Recht besaßen, die Demonstrationen auf dem Campus zu unterbinden.

Spätestens als es im Anschluss der Kundgebungen zu Schikanen gegen jüdische und israelische Studenten kam, offenbarte sich der eindeutige Charakter dieser Aktionen.

Die Präsidentin von Harvard hat nicht nur die Pflicht, die Sicherheit und das Wohlbefinden ihrer Studenten zu garantieren – sie spielt auch eine wichtige Rolle im öffentlichen Diskurs, und kann diesen in dunklen Zeiten in eine positive, aufgeklärte Richtung lenken. Die Anhörung vor dem US-Kongress Anfang Dezember wäre eine solche Möglichkeit gewesen.

Claudine Gay hat sie nicht genutzt. Im Gegenteil. Auf die Frage einer Abgeordneten, ob Aufrufe auf dem Campus zum Völkermord an Juden gegen Verhaltensregeln der Universitäten verstießen, entgegnete sie, das hänge vom Kontext ab.

Es stimmt, alles hängt vom Kontext ab. Und im Kontext der Präsidentschaft von Harvard hat Gays Untätigkeit nicht nur Judenhass zugelassen, sondern ihn dadurch auch in aller Öffentlichkeit gerechtfertigt. Auch wenn Gays Rücktritt als erste schwarze Präsidentin von Harvard ein entmutigendes Zeichen sein mag, beweist er, wie sensibel und bedeutend diese Rolle nun mal ist: Als Leiterin einer der einflussreichsten Universitäten der Welt trägt sie die Verantwortung, die Institution und ihre Gemeinschaft vom Hass wegzuführen, wenn dieser den Campus in den Würgegriff nimmt.

Obwohl Gay ihre Rolle als Präsidentin von Harvard aufgibt, wird sie weiterhin als Professorin mit festem Vertrag an der Universität angestellt bleiben, mit demselben Gehalt, das sie als Präsidentin erhielt, nämlich fast eine Million Dollar im Jahr.

Ähnlich irritierend ist, dass Gay in ihrem kürzlich erschienenen Kommentar in der New York Times ihren wohl erzwungenen Rücktritt auf rassistische Animositäten zurückführt, wobei sie jegliche Fehler von sich weist, betrifft es den Antisemitismus auf dem Campus oder die mehrfachen Plagiatsvorwürfe. Selbst nach ihrem Rücktritt als Präsidentin zeigt Gay keinen Willen, echte Verantwortung zu übernehmen.

Der neue Interimspräsident von Harvard, der jüdische Professor Alan Garber, muss diese nun schultern. Er hat in den ersten Tagen bereits gezeigt, dass er den Antisemitismus, der auf dem Campus um sich gegriffen hat, auch als das weltweite und systemische Problem anerkennt, das es ist.

Es bleibt zu hoffen, dass die gesamte neue Universitätsführung nun gemeinsam daran arbeitet, ihn zumindest hier wieder einzugrenzen. Und in einer Zeit, in der der einzige jüdische Staat der Welt sich gegen ständige Angriffe verteidigen muss, sich endlich geschlossen hinter seinen jüdischen Studierenden versammelt.

Der Autor studiert Learning Design, Innovation and Technology an der Harvard University.

QOSHE - Unter ihrer Führung wurde Harvard für uns zum Feindesland - Mascha Malburg
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Unter ihrer Führung wurde Harvard für uns zum Feindesland

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08.01.2024

Der Rücktritt von Claudine Gay als Präsidentin von Harvard ist nur ein kleiner Schritt im Kampf gegen den systemischen Antisemitismus, der sich in den letzten drei Monaten ungehalten über unseren Campus hier in Harvard, aber auch in etlichen anderen Universitäten in den USA und auf der ganzen Welt ausgebreitet hat. Ihn wieder einzugrenzen, ist nun die Aufgabe einer neuen Harvard-Führung, die sich daran messen lassen muss, ob der Campus für alle Studenten – auch für jüdische Studenten – wieder zu einem sicheren Ort wird.

Als Jude in Harvard habe ich die letzten Monate selbst erlebt, wie meine Universität für mich, und wohl jeden, der in irgendeiner Verbindung zu Israel stand, zu einer feindseligen Umgebung wurde. Unmittelbar nach den Verbrechen durch die Hamas am 7. Oktober 2023 gaben über 30 Studentenorganisationen in Harvard eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie Israel allein für den Terror der Hamas verantwortlich machten und das Massaker als »Widerstand« der Palästinenser rechtfertigten.

Für Harvard bedeutete dies, dass eine bedrohliche Menge von Studenten sich für den Terror der Hamas aussprachen, der wiederum etliche anderen Studenten empfindlich getroffen hatte: Sie sind Israelis, haben Verwandte und Freunde in Israel, oder begreifen als Juden Israel als ihren sicheren Hafen. Sie alle kannten wohl jemanden, der durch die Verbrechen, die auf unserem Campus gerechtfertigt wurden, sein Leben verlor.

Doch selbst in diesen ersten Tagen des absoluten........

© Juedische Allgemeine


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