Stand: 26.01.2024, 16:42 Uhr

Von: Pitt von Bebenburg

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Das Gedenken an die NS-Opfer verknüpft sich mit dem Protest gegen neue Nazis. Es gibt aber noch mehr Gründe für die besondere Brisanz dieses Tages in diesem Jahr. Der Leitartikel

Kaum jemand hätte sich vorstellen können, welche Aktualität der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus knapp 30 Jahre nach seiner Einführung haben würde. Noch nie sind an einem solchen Gedenktag Menschen in mehr als hundert Städten gegen neue Nazis auf die Straßen gezogen.

Die Menschen sind beunruhigt. Zu Recht. Es ist weniger der Gedenktag, der sie zum Demonstrieren veranlasst, als die aktuelle Gefahr, die viele an die historische Erfahrung erinnert. Doch es passt, dass das Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 und die Demonstrationen zusammenfallen.

Der Gedenktag solle nicht nur „Trauer über Leid und Verlust ausdrücken“, sondern auch „jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken“, formulierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 im Bundestag bei der ersten Gedenkstunde dieser Art. Damals erschien diese Gefahr eher theoretisch. Zwar hatten gewalttätige Neonazis zu Anfang der 90er-Jahre in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und an anderen Tatorten gezeigt, dass sie ganze Gruppen von Menschen vertreiben und sogar töten wollen. Und auch wenn führende CDU-Politiker das Treiben seinerzeit verharmlosten, erschien eine Mehrheit für einen völkisch motivierten Umsturz weit weg. Das hat sich mit dem Erstarken der AfD geändert.

Shoa-Überlebende warnt vor Faschismus

Sie greift nicht nur die freiheitliche Gesellschaft an, sondern auch die Erinnerungskultur. Führende AfD-Politiker:innen verharmlosen die NS-Verbrechen. Auf der anderen Seite wecken sie mit einer rassistischen Politik Erinnerungen an die historische Verfolgung von Jüdinnen und Juden, Angehörigen der Sinti und Roma, politisch missliebigen, behinderten und homosexuellen Menschen.

Die unübersehbare Aktualität des Gedenktags hat aber noch andere Gründe. Noch nie wurde die Diskussion darüber, wo Antisemitismus beginnt und wie er bekämpft werden muss, in Deutschland und weit darüber hinaus so intensiv geführt wie heute. In früheren Jahren war es unumstritten, die Solidarität Deutschlands mit Jüdinnen und Juden in aller Welt zu erklären und dem Staat Israel Beistand zuzusagen. Der Terrorangriff der Hamas auf Jüdinnen und Juden am 7. Oktober hat den völlig richtigen Impuls in Deutschland verstärkt, sich hinter das kontinuierlich in seiner Existenz bedrohte Israel zu stellen.

Dann allerdings folgte die Antwort des Regierungschefs Benjamin Netanjahu, den Gazastreifen zu bombardieren und dabei den Tod von Zehntausenden Zivilistinnen und Zivilisten in Kauf zu nehmen. Es ist nicht antisemitisch, dieses brutale Vorgehen Israels zu geißeln und ein Ende der Angriffe auf die Zivilbevölkerung einzufordern. Doch wenn als Reaktion auf das militärische Vorgehen Israels Jüdinnen und Juden auch in Deutschland angefeindet werden, ist das nicht hinnehmbar. Sie sind nicht verantwortlich für die ultrarechte israelische Regierung – und die Hetze gegen sie entspringt einem tief sitzenden Antisemitismus, der nicht durch Solidarität mit Palästinenserinnen und Palästinensern zu rechtfertigen ist.

Der Gedenktag wäre ein guter Anlass, sich in dieser überhitzten Debatte gegenseitig zuzuhören statt anzuklagen. Humanität muss dabei der Maßstab sein. Beim diesjährigen Gedenktag sollte besonders deutlich gemacht werden, dass der Schutz des jüdischen Lebens diesem Land ein Herzensanliegen ist. Die Bedrohung, unter der Jüdinnen und Juden leiden, betrifft alle. Das ist und bleibt eine der Lehren aus dem Nationalsozialismus.

Seit Jahren ändern die Gedenktage ihren Charakter. Noch leben Zeitzeug:innen, die aus eigener Erinnerung von den Schrecken berichten können. Doch ihre Zahl nimmt ab. In einigen Jahren werden nur noch die Nachgeborenen sprechen. Das eröffnet Verfälschungen der Geschichte Tür und Tor, die sich in sozialen Medien in Windeseile verbreiten.

Dabei liegen die historischen Fakten auf dem Tisch. Die Geschichte des nationalsozialistischen Terrors ist spät, aber letztlich umfangreich aufgearbeitet worden. Eine bemerkenswerte Rolle spielten dabei lokale Bürgerinitiativen, die den Verbrechen in ihren Städten und Dörfern nachspürten, den örtlichen Konzentrationslagern und der Zwangsarbeit – gegen alle Widerstände derjenigen, die nicht an der Geschichte rühren wollten. Diese Gruppen trauten sich auch, die Verharmlosung in der Nachkriegszeit aufzudecken, in der alte Nazis als scheinbar seriöse Bürgerinnen und Bürger Karriere machen konnten.

Die Zivilgesellschaft hat durch ihre Geschichtswerkstätten ihre Kraft gezeigt. Es ist bemerkenswert, dass auch jetzt, beim Kampf gegen autoritär-nationalistische Kräfte, die Zivilgesellschaft den Ton angibt. Es sind örtliche Klimaschutzorganisationen, Studierendengruppen und andere Initiativen, oft auch alteingesessene Netzwerke gegen rechts, von denen die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus ausgehen. Gemeinsam mit Sozialverbänden, Gewerkschaften, Kirchen und demokratischen Parteien zeigen sie, dass dieses Land gegen neue Nazis und ihre Vertreibungspläne aufsteht.

Sie werden langen Atem brauchen. Denn so, wie sich die politische Auseinandersetzung zuspitzt, muss jeder Tag ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus werden.

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Holocaust-Gedenktag – heute so aktuell wie nie

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26.01.2024

Stand: 26.01.2024, 16:42 Uhr

Von: Pitt von Bebenburg

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Das Gedenken an die NS-Opfer verknüpft sich mit dem Protest gegen neue Nazis. Es gibt aber noch mehr Gründe für die besondere Brisanz dieses Tages in diesem Jahr. Der Leitartikel

Kaum jemand hätte sich vorstellen können, welche Aktualität der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus knapp 30 Jahre nach seiner Einführung haben würde. Noch nie sind an einem solchen Gedenktag Menschen in mehr als hundert Städten gegen neue Nazis auf die Straßen gezogen.

Die Menschen sind beunruhigt. Zu Recht. Es ist weniger der Gedenktag, der sie zum Demonstrieren veranlasst, als die aktuelle Gefahr, die viele an die historische Erfahrung erinnert. Doch es passt, dass das Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 und die Demonstrationen zusammenfallen.

Der Gedenktag solle nicht nur „Trauer über Leid und Verlust ausdrücken“, sondern auch „jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken“, formulierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 im Bundestag bei der ersten Gedenkstunde dieser Art. Damals erschien diese Gefahr eher theoretisch. Zwar hatten gewalttätige Neonazis zu Anfang der 90er-Jahre in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und an anderen Tatorten gezeigt, dass sie ganze Gruppen von........

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