Stand: 08.12.2023, 16:26 Uhr

Von: Pitt von Bebenburg

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Die Geringschätzung für Menschenrechte wächst bedenklich. Wir müssen für sie kämpfen. Der Leitartikel.

Was für ein starker Satz: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 in Paris angenommen wurde.

Die Welt hatte gerade noch am Abgrund gestanden und trotzdem gelang es ihr, ein faszinierendes Dokument der gemeinsamen Werte zu verfassen. Europa war weitgehend zerstört, die Schrecken des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs waren kaum überwunden, die Welt teilte sich in Ost und West auf. Ausgerechnet in dieser Situation gelang es den Vereinten Nationen, einen ihrer wegweisenden Erfolge zu erzielen.

Es wäre zu wünschen, dass die Einhaltung der Menschenrechtscharta siebeneinhalb Jahrzehnte später selbstverständlich wäre. Das aber ist mitnichten der Fall. Eher erodieren die Gemeinsamkeiten, bröckeln ab, werden vernachlässigt oder abgerissen. Die Macht des Stärkeren setzt sich durch, die Geringschätzung für die Menschenrechte wächst in bedenklichem Ausmaß.

Kaum zu glauben, dass die Einigung auf ein solches Dokument heute noch möglich wäre, obwohl die Ost-West-Konfrontation vor gut 30 Jahren überwunden wurde. Könnten sich Xi Jinping, Wladimir Putin, der iranische Machthaber Ali Chamenei, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und demnächst womöglich Donald Trump verständigen auf „eine Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not“ genießen? Würden sie den „Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht“ garantieren?

Im theokratischen Regime des Iran, dessen Schergen den Kopftuchzwang mit Gewalt durchsetzen, kann keine Rede von Glaubensfreiheit sein. Von gerechten Verfahren weit entfernt ist der Umgang der russischen Justiz mit dem Regimekritiker Alexej Nawalny in Russland ebenso wie die juristische Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten in der Türkei, China und vielen anderen Ländern.

So vieles in der Charta liest sich wie eine Selbstverständlichkeit und ist es doch nicht. „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“ – die Debatten über die US-Verhörmethoden in Guantanamo haben gezeigt, dass selbst solche Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens infrage gestellt werden können. Von Foltergefängnissen in Libyen ganz zu schweigen.

Könnten sich die Regierungen der Welt heute noch darauf einigen, die „Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen“, zu verteidigen? Wohl kaum. Oder nur als Feigenblatt. Denn Rassismus gärt weltweit. Insbesondere geflüchtete Menschen haben darunter zu leiden. Die Toten im Mittelmeer mahnen.

Menschenrechte sind weltweit bedroht. Und ihre Verächterinnen und Verächter melden sich immer selbstbewusster zu Wort. Hass gegen Minderheiten, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt werden geschürt. All dies widerspricht den seinerzeit verankerten Menschenrechten.

Wie modern die Erklärung war, zeigt sich nicht zuletzt in den Sätzen zum Arbeits- und Sozialrecht. „Jeder Mensch, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit“, steht da zu lesen – ein Anspruch, der selbst in einem wohlhabenden Land wie Deutschland noch längst nicht erfüllt ist.

Was also hat im Jahre 1948 möglich gemacht, was heute fast wie ein Wunder erschiene? Die Menschheitskatastrophen des Kriegs und des Holocaust waren Antrieb dafür, eine andere, bessere Welt zu ersehnen. In den heutigen Kriegen, nicht nur beim andauernden Angriff Russlands auf die Ukraine, werden die Rechte der Menschen wieder grundlegend verletzt. Wer Menschenrechte sichern will, muss zuallererst Kriege verhindern.

Der 75. Jahrestag ist der richtige Zeitpunkt, um die Bewegungen für den Kampf um die Menschenrechte zu stärken. Es gibt sie ja, die staatlichen und vor allem nichtstaatlichen Akteurinnen und Akteure, die die Werte von Gleichheit, Freiheit und Frieden ernst nehmen.

Wir alle sind aufgefordert, sie zu verteidigen. Es gibt genug Ansatzpunkte, das zu tun. Der AfD und ihren Wortführerinnen und Wortführern laut widersprechen, wenn sie Menschen mit Migrationsgeschichte verächtlich machen. Hassreden im Internet entgegentreten. Aufstehen, wenn Jesidinnen aus Deutschland nach Irak abgeschoben werden, wo sie einem Völkermord entkommen sind.

Dass die Menschenrechte auf dem Papier stehen, ist gut und wichtig. Sie aber in der Praxis zu verteidigen, ist die Daueraufgabe, die uns bleibt – 75 Jahre nach jenem historischen Tag im Jahr 1948.

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Der Wert der Werte

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08.12.2023

Stand: 08.12.2023, 16:26 Uhr

Von: Pitt von Bebenburg

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Die Geringschätzung für Menschenrechte wächst bedenklich. Wir müssen für sie kämpfen. Der Leitartikel.

Was für ein starker Satz: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 in Paris angenommen wurde.

Die Welt hatte gerade noch am Abgrund gestanden und trotzdem gelang es ihr, ein faszinierendes Dokument der gemeinsamen Werte zu verfassen. Europa war weitgehend zerstört, die Schrecken des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs waren kaum überwunden, die Welt teilte sich in Ost und West auf. Ausgerechnet in dieser Situation gelang es den Vereinten Nationen, einen ihrer wegweisenden Erfolge zu erzielen.

Es wäre zu wünschen, dass die Einhaltung der Menschenrechtscharta siebeneinhalb Jahrzehnte später selbstverständlich wäre. Das aber ist mitnichten der Fall. Eher erodieren die Gemeinsamkeiten, bröckeln ab, werden vernachlässigt oder abgerissen. Die Macht des Stärkeren setzt sich durch, die Geringschätzung für die Menschenrechte........

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