Zeitgeschichte | Weihnachten 1914 und der Moment der Verbrüderung
„Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht, aus des Himmels goldenen Höhn ...“ Es mutet an wie surreales Theater, was am 24. Dezember 1914 an der Westfront passiert. Der Kammersänger Walter Kirchhoff beschwört mit heller Stimme, wie sich um diese Stunde „alle Macht väterlicher Liebe“ ergießt und „als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt“. Allerdings bleiben die gerade jeden Liebesbeweis schuldig. Die Heilige Nacht liegt über Schützengräben, Granattrichtern und den gebrochenen Augen der nicht geborgenen Toten zwischen den Linien. „Schlaf in himmlischer Ruh“ schwebt das Lied über zerwühlter Erde.
Kronprinz Wilhelm wollte es ausdrücklich, dass Kirchhoff, Ordonnanzoffizier der 5. Armee, im deutschen Graben sakrale Gesänge anstimmt. Dass daraus eine „Weihnachtsverbrüderung“ wird – das Wort macht später in den Stäben die Runde –, hat mit englischen Soldaten zu tun, die, von Kirchhoffs Vortrag ergriffen, die Deckung verlassen und applaudieren. Dem entgeht das nicht. Bald steht auch er auf der Schanze und wagt Schritte ins Niemandsland. Wenn nicht die Weihnachtsbotschaft, so muss er sich selbst für unverwundbar halten. Man kommt sich näher und geht aufeinander zu. Als deutsche Soldaten den Sänger zurückhalten wollen, geraten auch sie zwischen die Fronten. Keine Hand tastet nach dem Abzug, kein Maschinengewehr wird entsichert, kein Schuss fällt.
Das kleine Innehalten beim großen Sterben erweist sich als unantastbar für eine Stunde und mehr, bis zum nächsten Morgen, der ein sonniger, ungemein klarer sein wird, beseelt vom flüchtigen Frieden, über den Engel wachen – und den Ratten zerfressen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Mensch irre werden an seiner Natur. Die Umstände könnten günstiger nicht sein. Er sollte sich den Gefallen tun, aber er lässt es – seiner Natur zuliebe. „Die Trommel ruft zum Streite, er ging an meiner Seite. Gloria, Viktoria“. Das klingt zu gewaltig, um davon nicht erschlagen zu werden. Gewaltiger als jedes Ave Maria.
Zu blutleer ist die Vernunft, um Millionen davor zu bewahren, sich weiter opferfreudig in die Knochenmühle des Krieges zu werfen. Zu blutselig klingt das Pathos der Patrioten daheim, die........





















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