Es gab im viktorianischen England ab etwa 1860 eine gruselige Sitte. Man ließ sich mit seinen gerade verstorbenen Liebsten fotografieren – und zwar so, als ob diese noch lebten. Als letzte Gelegenheit, denn damals waren Fotos noch sehr selten. Die Liebsten wurden hübsch angezogen, zwischen die anderen gelegt oder gesetzt. So blieben sie unsterblich, zumindest auf Bildern.

Heute kann man so etwas mit Künstlicher Intelligenz (KI) erreichen – immer wieder neu. Wie gut so etwas geht, zeigt der neue Beatles-Song „Now And Then“. In dem Video dazu agieren die Beatles, als ob alle von ihnen noch lebten. Nur, dass John und George – die Verblichenen – eben auf ewig jünger bleiben werden als Paul und Ringo, die längst die 80 überschritten haben. Man spielt, hopst umher, lacht, macht Faxen. Halt so wie früher.

Begeisterung, Rührung, Nostalgie, Wehmut wabert seit Tagen durchs Internet. Denn die KI hat auch Johns Stimme aus einer alten Aufnahme extrahiert, sozusagen aufgehübscht neben die der anderen Familienmitglieder gesetzt. So entstand der neue – angeblich letzte! – Beatles-Song, 53 Jahre nach dem Ende der Band.

Die Beatles „könnten in meine Handtasche scheißen, ich würde immer noch meine Polo-Mints darin verstecken“, schreibt der britische Musiker Liam Gallagher. Für mich hat dieser Satz zwei Haken. Erstens: Es gibt „die Beatles“ nicht mehr. Und zweitens würde ich meine Handtasche nicht für alles hergeben, wenn ich eine hätte. Obwohl ich einer der größten Beatles-Fans bin – und auch schon war, als kaum noch jemand an die Beatles dachte, damals, Mitte der 1970er-Jahre.

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Das Radio war voller Glamrock und Disco-Sound. Mich aber hatte „She Loves You“ angefixt. Originale Beatles-Platten gab es nicht in meinem DDR-Berlin. Also nahm ich mit meinem Kassettenrecorder alles auf, was doch noch im Radio gespielt wurde. Manchmal fehlten die Anfänge der Songs, weil ich nicht schnell genug hochgekommen war, um auf die Tasten zu drücken. Irgendwann erstand ich dann in Polen für umgerechnet 110 Mark das Album „Abbey Road“. Was war ich glücklich! Ein echter Schatz! Als dann an meinem 19. Geburtstag John Lennon erschossen wurde, war für mich klar: Die Beatles würden nie mehr was zusammen machen! Doch für mich waren sie unsterblich, ein Gesamtkunstwerk, perfekt – so wie sie waren.

Irgendwann nach dem Ende der DDR bekam ich über einen Freund viele Stunden unveröffentlichtes Beatles-Material. Fazit meines inneren Berliners: „Cooles Zeuch, aber die ham sich ooch verspielt, versungen, die Demo-Uffnahmen verschrammelt. Wie dit ehm so is, wenn man arbeetet.“ Es war so, als ob Zeus einen auf den Olymp einlädt, einem die etwas rostige Maschine zeigt, aus der er seine Blitze schleudert, und sagt: „Konstruiert hat sie Ella, unsere Praktikantin.“

Aber bringt man so was in die Öffentlichkeit? Genau auf diese Idee kam jemand. War es Paul? Nach und nach ergoss sich alles auf den Markt. Schon in den 1990er-Jahren erschienen neue, „echte“ Beatles-Songs aus alten Lennon-Aufnahmen („Free as a Bird“ und „Real Love“). Alles war etwas breiig, verzerrt durch Jeff-Lynne-Gitarrengegniedel, im Grunde nicht Beatles-typisch. Lennons Stimme klang wie aus dem Eimer. Noch nicht KIisiert. Was hätte er wohl zu dem Ganzen gesagt? Vielleicht: „What a shit!“

Ich glaube, dass die KI künftig noch einiges mit den Beatles machen wird. So bleiben sie immer präsent. Doch zu welchem Preis? Gründet sich echte Unsterblichkeit nicht auch immer auf eine Legende? Auf ein Geheimnis? Die alten Songs sind inzwischen perfekt remastered, zum Teil neu abgemischt – das trägt viel mehr zur Unsterblichkeit bei als alle KI-Experimente mit Verblichenen. Zumindest noch für ein paar Generationen. Und was will man mehr?

QOSHE - Shit in der Handtasche: Wie die Rest-Beatles ihre Legende zerstören - Torsten Harmsen
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Shit in der Handtasche: Wie die Rest-Beatles ihre Legende zerstören

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09.11.2023

Es gab im viktorianischen England ab etwa 1860 eine gruselige Sitte. Man ließ sich mit seinen gerade verstorbenen Liebsten fotografieren – und zwar so, als ob diese noch lebten. Als letzte Gelegenheit, denn damals waren Fotos noch sehr selten. Die Liebsten wurden hübsch angezogen, zwischen die anderen gelegt oder gesetzt. So blieben sie unsterblich, zumindest auf Bildern.

Heute kann man so etwas mit Künstlicher Intelligenz (KI) erreichen – immer wieder neu. Wie gut so etwas geht, zeigt der neue Beatles-Song „Now And Then“. In dem Video dazu agieren die Beatles, als ob alle von ihnen noch lebten. Nur, dass John und George – die Verblichenen – eben auf ewig jünger bleiben werden als Paul und Ringo, die längst die 80 überschritten haben. Man spielt, hopst umher, lacht, macht Faxen. Halt so wie früher.

Begeisterung, Rührung, Nostalgie, Wehmut wabert seit Tagen durchs Internet. Denn die KI hat auch Johns Stimme aus einer alten Aufnahme extrahiert, sozusagen........

© Berliner Zeitung


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