Hier wird immer über große Dinge diskutiert. Aber was ist mit den vielen kleinen Dingen des Lebens? Vor allem auch mit den tragikomischen? Etwa den langen Unterhosen. An diese musste ich beim eisigen Start des neuen Jahres immer wieder denken. Denn ich gehörte zu den Kindern, die einst im Winter diese Dinger anziehen mussten, ob sie wollten oder nicht. „Junge, du verkühlst dir ganz schnell den Darm“, sagte meine Mutter zur Begründung. „Da kann man direkt zugucken.“ Und mein Schulweg war lang.

Wenn ich dann mit zwei Hosen übereinander in der Klasse saß, schwitzte ich wie blöde. Ich hatte es versäumt, sie vor der Stunde auszuziehen. Wohin sollte ich sie auch tun? Beim Umziehen vor dem Sport wurde ich von den anderen Jungs ausgelacht. Deren Müttern schien es offenbar egal zu sein, dass ihren Söhnchen auf dem Schulweg der Erfrierungstod drohte.

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Was all diese Ignoranten – und auch ich selbst – nicht wussten: Ich verkörperte Tausende Jahre menschlicher Kulturgeschichte, und niemand feierte mich dafür. Man muss ja nur mal zurückgucken: Über lange Phasen der Geschichte trugen die Menschen „unten drunter nüscht“, jedenfalls nicht mehr als eine Art Hemd oder einen Schurz aus Fell oder Leder, den man notfalls zwischen den Beinen durchschlagen und feststecken konnte.

Die alten Römer liefen meist mit längeren Gewändern umher, genannt Tunika. Drunter trugen sie eine „Tunica Intima“. Der Hintern war nackt, aber man sah ihn nicht. Es war super praktisch für die Gemeinschafts-Latrine. Man konnte alles lüpfen, sich hinsetzen und dann stundenlang tratschen. Ging es dagegen zum Sport oder zum Kampf, dann verschnürte man ein Stück Leder oder Stoff zur Unterhose. Man nannte es „Subligaculum“, und es sah ein bisschen so aus wie eine Windel.

Im Mittelalter hieß die Vorläuferin der Unterhose „Bruoch“. An diese wurden die sogenannten Beinlinge mit Nestelbändern rangeknüppert. Das dauerte seine Zeit. Der Wind pfiff gewiss auch ordentlich hindurch. Erst um 1860 wurde die moderne Urform der heutigen Baumwoll-Unterhose entwickelt. Einige Jahre danach marschierte schon die preußische Armee damit umher. Kaiser Wilhelm I. hatte sich überzeugen lassen, dass man so etwas einführen müsse, vor allem wegen der Hygiene. „Ich habe mein Leben lang Unterhosen für überflüssig gehalten“, sagte der Kaiser. „Ich sehe wohl, dass das jetzt anders ist.“

Für Frauen gab es übrigens da bereits die „Stehbrunzhose“, die zum Beispiel Bäuerinnen unterm Rock trugen. Wenn man auf dem Feld mal musste, konnte man sich schnell hinhocken, weil die weite Unterhose einen Schlitz hatte.

Ein Jahrhundert lang hatte die moderne Textilindustrie dann Zeit, alles weiterzuentwickeln. Für Männer entstanden modernste Varianten mit „Feinripp“ und „Eingriff“. Dass ich als Kind sozusagen als echtes Model menschlicher Hochkultur herumlief, interessierte keinen. Mir war es am Ende auch egal. Später, bei der Armee, musste man die grauen Unterhosen dann sogar den ganzen Tag tragen – sommers wie winters. Die Dinger nervten nur noch.

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Wenn man jedoch heute so durchs Internet schaut, sieht man: Die Kulturgeschichte hat sich rasant fortbewegt. Inzwischen kann man alles Mögliche drunter tragen: enge, gemusterte Thermohosen, schwarze oder bunte „Long Johns“. Sogar Fetisch-Dinger kann man kaufen, mit ausgespartem Hinterteil. Die braucht man aber eher nicht, wenn’s kalt ist. Egal, ich jedenfalls bin bis heute kein Fan von langen Unterhosen. Der Erfrierungstod soll ja auch gar nicht so schlimm sein.

QOSHE - Opfer der langen Unterhosen: Vom Wandel eines Kulturguts - Torsten Harmsen
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Opfer der langen Unterhosen: Vom Wandel eines Kulturguts

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18.01.2024

Hier wird immer über große Dinge diskutiert. Aber was ist mit den vielen kleinen Dingen des Lebens? Vor allem auch mit den tragikomischen? Etwa den langen Unterhosen. An diese musste ich beim eisigen Start des neuen Jahres immer wieder denken. Denn ich gehörte zu den Kindern, die einst im Winter diese Dinger anziehen mussten, ob sie wollten oder nicht. „Junge, du verkühlst dir ganz schnell den Darm“, sagte meine Mutter zur Begründung. „Da kann man direkt zugucken.“ Und mein Schulweg war lang.

Wenn ich dann mit zwei Hosen übereinander in der Klasse saß, schwitzte ich wie blöde. Ich hatte es versäumt, sie vor der Stunde auszuziehen. Wohin sollte ich sie auch tun? Beim Umziehen vor dem Sport wurde ich von den anderen Jungs ausgelacht. Deren Müttern schien es offenbar egal zu sein, dass ihren Söhnchen auf dem Schulweg der Erfrierungstod drohte.

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