In der Familie meines indischen Schwiegersohns gab es einen Trauerfall. Die Eltern luden uns aus der Ferne dazu ein, über einen YouTube-Kanal gemeinsam mit ihnen und anderen „Nam-Myoho-Renge-Kyo“ zu singen, ein Mantra, das das gesamte Universum umfasst. Beim buddhistischen Chanting geht es um den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod. Es geht um den ständigen Wechsel zwischen der Phase, in der das Leben manifestiert ist und seinem latenten Zustand.

Ich bin kein Buddhist. Ich bin ein atheistischer Preuße. Aber ich spürte, dass es helfen kann, mit anderen zu singen. Es entsteht ein gemeinsamer Klang, man gerät in einen meditativen Zustand.

Doch, Moment mal, ist das nicht kulturelle Aneignung? Wie oft hat man in den vergangenen Jahren gehört, ein weißer Europäer habe keine Rastalocken zu tragen, sich nicht als Pocahontas zu verkleiden, keine indigene Kunst zu imitieren und vieles andere mehr. Was ist es dann anderes, sich plötzlich hinzusetzen und Mantras zu singen?

Es geht aber auch umgekehrt: Als die Mama meines indischen Schwiegersohns einmal in Berlin war, gerieten wir in einen alt-preußischen Umzug mit viel Bufftataaa und dem Hauptmann von Köpenick mit seiner Garde. Sie war hellauf begeistert. Ein Leierkastenspieler bot ihr an, auch mal an der Orgel zu drehen. Sie machte das mit Bravour, ganz perfekt. Und sie hätte am liebsten noch viel mehr davon gehabt.

Als wir neulich bei unserem Inder um die Ecke waren, einem Tamilen, saß dort eine hiesige Frau mittleren Alters, die es mit der Aneignung auswärtiger Esskulturen besonders ernst nahm. Sie aß den Reis mit der Hand, ditschte ab und zu damit in die Masala-Sauce, blickte kritisch auf die anderen Gäste, die mit Messer und Gabel aßen und sagte – für jeden im Raum hörbar – zu ihrem Partner: „Die machen das alle falsch hier.“ Denn „die Inder“ äßen alle ganz anders. Das bedeutete in diesem Fall: mit der Hand.

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Dazu muss man wissen, dass „die Inder“ ein Universum für sich sind. Jede Region des Subkontinents hat ihre eigene Küche; das „Curry“ ist ohnehin eine Erfindung der Engländer. Wer zum Beispiel sehr gern das „typische“ indische Gericht „Chicken tikka masala“ isst, der mampft in Wirklichkeit eine Kreation, die nach dem Krieg in Großbritannien entstand. Die würzige Masala-Soße kannte bis dahin in Indien niemand. Die ditschende Frau hätte also auch ruhig mit Messer und Gabel essen können.

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Ich habe den Chef des indischen Restaurants mal gefragt, woher seine Köche kämen. Er sagte, es seien Spezialitätenköche aus verschiedenen Regionen in Indien, die für vier Jahre in Deutschland bleiben dürften. Dann müssten sie wieder zurückfahren. Viele Auflagen, viel Papierkram seien damit verbunden. Das Restaurant besorge den Köchen auch eine Wohnung, organisiere alles. Man merke sofort am Essen, wenn sich jemand hier wohlfühle und seine Arbeit gern mache, sagte der Restaurant-Chef. Und das stimmt.

Was wäre denn, wenn man mal einen kulinarischen Kulturaustausch machte? Was würde passieren, wenn ich als Koch nach Indien ginge und dort einen Laden mit heimischen Gerichten eröffnete, die ich so aus meiner Kindheit kenne: „Hunter-Schnitzel“ (Jägerschnitzel), „Ice Leg“ (Eisbein), „Tight Max“ (Strammer Max), „Curry-Wörst“, „Dead Grandma“. Spätestens bei letzterer, der toten Oma, würde sicher so einiges Befremden auftreten, wenn nicht sogar Fluchtverhalten. So ist das mit dem kulturellen Austausch. Er hat so seine Tücken.

QOSHE - Kulturelle Aneignung: Darf ich als alter Preuße buddhistische Mantras singen? - Torsten Harmsen
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Kulturelle Aneignung: Darf ich als alter Preuße buddhistische Mantras singen?

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14.03.2024

In der Familie meines indischen Schwiegersohns gab es einen Trauerfall. Die Eltern luden uns aus der Ferne dazu ein, über einen YouTube-Kanal gemeinsam mit ihnen und anderen „Nam-Myoho-Renge-Kyo“ zu singen, ein Mantra, das das gesamte Universum umfasst. Beim buddhistischen Chanting geht es um den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod. Es geht um den ständigen Wechsel zwischen der Phase, in der das Leben manifestiert ist und seinem latenten Zustand.

Ich bin kein Buddhist. Ich bin ein atheistischer Preuße. Aber ich spürte, dass es helfen kann, mit anderen zu singen. Es entsteht ein gemeinsamer Klang, man gerät in einen meditativen Zustand.

Doch, Moment mal, ist das nicht kulturelle Aneignung? Wie oft hat man in den vergangenen Jahren gehört, ein weißer Europäer habe keine Rastalocken zu tragen, sich nicht als Pocahontas zu verkleiden, keine indigene Kunst zu imitieren und vieles andere mehr. Was ist es dann anderes,........

© Berliner Zeitung


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