Eine Kollegin hat jüngst im Zusammenhang mit den Bauernprotesten geschrieben, sie fühle sich durch die jetzigen Ereignisse und Stimmungen im Lande an eine „revolutionäre Situation“ erinnert. Das, was gerade passiere, sei „anders, größer, gefährlicher“, als man es bisher kannte: „ein Volkszorn, der einen Staat zum Sturz bringen könnte“. Wie einst in der DDR.

Doch könnte das wirklich passieren? Zumindest gibt es heute große Unterschiede zur DDR. Damals musste jeder echte Volkszorn, der sich ausbreitete, irgendwann das monolithische System zum Einsturz bringen. Zumal die Unterstützer von außen – die Sowjets – das System nicht mehr mit Gewalt retten wollten und konnten. Die heute oft gehörte Forderung „Weg mit der Ampel!“ würde dagegen zunächst mal zu einem Regierungswechsel führen.

Die Frage wäre allerdings, ob sich grundsätzlich etwas änderte, wenn etwa Friedrich Merz regierte. Das große „Bauernsterben“ zum Beispiel hält schon lange an. Zwischen 2010 und 2020 mussten 36.100 Betriebe aufgeben. Schon unter Merkel gab es Bauernproteste mit Traktoren und „Agrargipfel“.

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Also steckt noch etwas anderes hinter dem heutigen Volkszorn. Und zwar ein angestautes Gefühl aus einer Zeit nicht aufhörender Krisen, die Angst erzeugen: Corona-Pandemie, Massenmigration, Ukraine-Krieg, Klimawandel. All diese Unsicherheit verbindet sich mit dem Wunsch: Ach, könnte es doch für uns wieder besser werden! Vor allem: Könnte es wieder eine sichere, planbare Zukunft geben!

Leider nimmt die Regierung dieses Gefühl von Wut und Angst nicht wirklich ernst. Sie überschätzt die Bereitschaft, zum Teil dringend notwendige Veränderungen (Energiewende!) und ihre Folgen mitzutragen. Sie erzeugt ein Bild, das Sahra Wagenknecht „neuen linksgrünen Autoritarismus“ nennt. Von einem „furchtbar schlecht bis gar nicht kommunizierten, sich selbst zerfleischenden Politikstil“, schreibt der Pianist Igor Levit auf X (vormals Twitter). Und das betrifft alle, auch die zündelnde CDU.

Das demokratische System könnte am Mangel an Demokratie kaputtgehen. Davor warnte schon vor Jahrzehnten der alte SPD-Haudegen Herbert Wehner. Man sollte sich lieber verbal die Köpfe einschlagen, als sich noch einmal gegenseitig mundtot zu machen, meinte er. Inzwischen sind jedoch Generationen aufgewachsen, die das Wirken von Nazis und Stalinisten nicht mehr erlebt haben. Manche sehen das demokratische System in der Bundesrepublik als etwas Selbstverständliches an, nicht mehr als zu behütendes „zartes Pflänzchen“.

Vor allem im Westen scheint eine Haltung verbreitet zu sein, die man so zusammenfassen könnte: „Die Demokratie ist unser angeborener Naturzustand. Wir sind viel besser als alle anderen. Wir zeigen der Welt, wie man richtig regiert und lebt!“ In den Parlamenten herrschen Berufspolitikerarroganz, Parteiengezänk und gegenseitiges Blockieren. Auch die Korrektivfunktion großer Teile der Medien ist verloren gegangen.

Es gibt hier nur zwei mögliche Wege. Der erste: Man besinnt sich wieder darauf, dass Demokratie vom Widerspruch lebt, am Streit wächst und auch noch weiterfunktionieren muss, wenn es wirklich wehtut. Niemand darf den anderen als „undemokratisch“ beschimpfen, wenn seine Aussagen, sein Handeln im Rahmen der Verfassung bleiben. Vielleicht muss man in bestimmten Fällen auch Formen direkter Bürgerbeteiligung stärken. Oder der zweite Weg: Man landet in einer Autokratie.

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Nur noch eine Minderheit interessiert sich übrigens für den Weg, ein ökonomisches System gründlich umzugestalten, in dem sich die einen schamlos auf Kosten der anderen bereichern – als Ursache vieler Probleme. Dafür hat sich bei vielen ein eher dumpfes Gefühl ausgebreitet, das man mit dem Slogan „Unser Land zuerst!“ (auf dem AfD-Portal gefunden) zusammenfassen kann – so wie es in Krisenzeiten immer ist. Dass ein neuer Nationalismus auch Antrieb von Regierungen werden kann, zeigte sich unter anderem in Großbritannien, den USA, Polen und Ungarn. So könnte es auch bei uns passieren.

Populismus bietet oft nur Scheinlösungen. Man kann zum Beispiel sehr leicht eine Rückkehr zur D-Mark, den starken Nationalstaat, ein radikales Umsteuern der bisherigen Europa-, Migrations- und Klimapolitik fordern. Aber welches Chaos etwa ein Ausstieg aus der EU bringen kann, zeigt das Beispiel Großbritanniens. Deutschland zahlt zwar sehr viel in die EU ein, profitierte aber als Exportnation bisher auch am meisten vom EU-Binnenmarkt. Zweites Beispiel: Wer keine Subventionen will, zugleich aber auf Atomkraft setzt, der sollte sich darüber im Klaren sein, dass Atomkraftwerke vom Staat mit hohen Milliardensummen subventioniert werden müssen. Allein Bau und Sanierung von Atommüllendlagern kosten Milliarden.

Alle Probleme müssen demokratisch verhandelt werden, und zwar offen, im lösungsorientierten Streit, nicht im Parteiengezänk. Allerdings besteht natürlich auch in Deutschland die Gefahr einer Autokratie, mit einem Abbau der Gewaltenteilung (unabhängige Justiz!), repressiven Mediengesetzen, der Beschneidung von Spielräumen für die Opposition. Auch radikale Rechte könnten nach oben kommen, die mit Leuten aufräumen wollen, deren Herkunft und Meinungen ihnen nicht passen.

Gerade in Polen und Israel hat man aber gesehen, dass sich viele Leute, vor allem junge, gegen Angriffe auf die Demokratie wehren. Das macht Hoffnung darauf, dass auch wir einen Weg finden, das „zarte Pflänzchen“ am Leben zu erhalten und zum Wachsen zu bringen.

QOSHE - Ein System in Gefahr: Herrscht im Land eine revolutionäre Situation? - Torsten Harmsen
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Ein System in Gefahr: Herrscht im Land eine revolutionäre Situation?

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16.01.2024

Eine Kollegin hat jüngst im Zusammenhang mit den Bauernprotesten geschrieben, sie fühle sich durch die jetzigen Ereignisse und Stimmungen im Lande an eine „revolutionäre Situation“ erinnert. Das, was gerade passiere, sei „anders, größer, gefährlicher“, als man es bisher kannte: „ein Volkszorn, der einen Staat zum Sturz bringen könnte“. Wie einst in der DDR.

Doch könnte das wirklich passieren? Zumindest gibt es heute große Unterschiede zur DDR. Damals musste jeder echte Volkszorn, der sich ausbreitete, irgendwann das monolithische System zum Einsturz bringen. Zumal die Unterstützer von außen – die Sowjets – das System nicht mehr mit Gewalt retten wollten und konnten. Die heute oft gehörte Forderung „Weg mit der Ampel!“ würde dagegen zunächst mal zu einem Regierungswechsel führen.

Die Frage wäre allerdings, ob sich grundsätzlich etwas änderte, wenn etwa Friedrich Merz regierte. Das große „Bauernsterben“ zum Beispiel hält schon lange an. Zwischen 2010 und 2020 mussten 36.100 Betriebe aufgeben. Schon unter Merkel gab es Bauernproteste mit Traktoren und „Agrargipfel“.

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Scholz und Baerbock in Potsdam bei Demo: Dabei sind sie doch Teil des Problems

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gestern

14.01.2024

Also steckt noch etwas anderes hinter dem heutigen Volkszorn. Und zwar ein angestautes........

© Berliner Zeitung


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