Ob Rheuma, Hashimoto, Lupus, Psoriasis oder Multiple Sklerose: Unter Autoimmunkrankheiten leiden vor allem Frauen. Bei solchen Krankheiten führt eine Fehlsteuerung des Immunsystems dazu, dass fälschlicherweise gesunde Zellen und Organe des Körpers angegriffen werden – etwa durch Autoantikörper.

Frauen sind mit einem Anteil von fast 80 Prozent weitaus häufiger als Männer von solchen Erkrankungen betroffen. Manche leiden sogar unter mehrfachen Problemen, haben zum Beispiel Rheuma, Schuppenflechte (Psoriasis) und Zöliakie.

Woran liegt das? Was sind die biologischen Ursachen dieser Häufung bei Frauen? Liegt es an der Produktion von Hormonen, etwa von Östrogen? Hat es damit zu tun, dass Frauen schwanger werden und Kinder gebären können und der Körper vielleicht gegen vermeintliche Gefahren überreagiert? Oder hat alles genetische Ursachen?

Eine neue Studie, erschienen Anfang Februar im Fachjournal Cell, erhärtet nun den Verdacht, dass eine Ursache bereits in den Chromosomen liegen könnte. Chromosomen befinden sich in den Zellkernen und sind Träger von Erbanlagen. Sie bestehen aus DNA und verschiedenen Proteinen. Und in den Chromosomen entscheidet sich auch, ob ein Fötus männlich oder weiblich wird. Neben 22 Paaren nicht-geschlechtlicher Chromosomen gibt es ein paar Geschlechts-Chromosomen. Frauen haben im Normalfall zwei X-Chromosomen (XX) und Männer ein X- und ein Y-Chromosom.

Was hat das mit Autoimmunkrankheiten zu tun? Hier verweisen die Forscher auf die sogenannte X-Inaktivierung bei Frauen. Bereits in der frühen Embryonalentwicklung soll in jeder Zelle eines der beiden X-Chromosomen abgeschaltet werden, damit von ihnen nicht zu viele Proteine produziert werden. Das stillgelegte X-Chromosom soll als eng gepackte Struktur weiter in der Zelle eingelagert bleiben.

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„In den letzten Jahren offenbarte sich allerdings, dass die X-Inaktivierung nicht ganz so vollständig abläuft wie zunächst vermutet“, heißt es in einem Beitrag des Wissenschaftsjournals Spektrum.de. „Laut Studien bleiben mindestens 15 Prozent der Gene auf dem vermeintlich stillgelegten X-Chromosom weiterhin aktiv; damit können diese Erbfaktoren bei Frauen für doppelt so viel Protein sorgen wie bei Männern.“

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So würden zum Beispiel bei Patientinnen, die unter Lupus erythematodes leiden, ganz bestimmte Gene auf beiden X-Kopien abgelesen. Je mehr von diesen aktiven X-chromosomalen Genen vorlägen, desto schlimmer seien die Symptome. Diese reichen von Hautrötungen auf den Wangen und der Nase (Schmetterlingserythem) und roten, schuppigen Flecken über Gelenkschmerzen, Abgeschlagenheit, Blutgefäßstörungen und Haarausfall bis hin zu schweren Organschäden. Am häufigsten sind jüngere Frauen im gebärfähigen Alter betroffen.

Die neue Studie eines Forscherteams aus den USA, Schweden und der Schweiz zeigt nun genauer die Vorgänge, die in den Zellen passieren und dazu führen, dass mehr Frauen unter Autoimmunkrankheiten leiden. Dabei geht es offenbar nicht nur um die „Gendosis“, sondern um einen ganz bestimmten Prozess in den Zellen selbst. An der erwähnten Stilllegung eines der X-Chromosome in der Embryonalentwicklung ist nämlich ein langes RNA-Molekül beteiligt, das die Forscher Xist nennen. Es werde von den X-Chromosomen erzeugt, sobald zwei davon in der Zelle präsent sind, heißt es. Bei Männern komme es nicht vor.

Zusammen mit vielen Proteinen bilde Xist einen sogenannten Ribonukleoproteinkomplex (RNP). Dieser docke an das stillzulegende X-Chromosom an und blockiere dort das Ablesen der Gene. Zugleich aber löse dieser RNP autoantigene Prozesse aus. Er sei „ein wichtiger Treiber der geschlechtsspezifischen Autoimmunität“. Das bedeutet, dass sich hier das Immunsystem gegen körpereigene Proteine richtet, die normalerweise eine wichtige Aufgabe erfüllen. Und zwar nur bei Frauen.

Es klingt alles recht kompliziert und muss auch nicht im Detail verstanden werden. Entscheidender ist, dass das Forscherteam seine These im Experiment mit transgenen Mäusen bestätigte. Männliche Mäuse produzierten unter dem Einfluss von Xist Autoantikörper und entwickelten schwere Formen von Lupus. Die T- und B-Zellen ihres Immunsystems würden „in weibliche Muster“ umprogrammiert, heißt es.

Mäuse sind keine Menschen. Aber die Forscher fanden zugleich heraus, dass menschliche Lupus-Patienten deutlich Autoantikörper gegen den Xist-Ribonukleoproteinkomplex zeigten. Allerdings soll es bei Menschen nur zu Autoimmunerkrankungen kommen, wenn bestimmte genetische Veranlagungen dafür vorliegen. Die Wirkung von Xist ist also kein Automatismus. Studien mit eineiigen Zwillingen hätten gezeigt, dass unter anderem auch Umweltfaktoren beteiligt seien, schreiben die Forscher.

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In der Folge sollen nun neue Möglichkeiten für die Diagnose und Therapie gesucht werden. „Es gibt mehr als 100 bekannte Autoimmunerkrankungen, von denen insgesamt 50 Millionen Amerikaner betroffen sind und die zu den zehn häufigsten Todesursachen bei Frauen unter 65 Jahren gehören“, schreiben die Autoren. Gemeint sind sicher die USA, nicht ganz Amerika. Bei geschätzt 340 Millionen US-Amerikanern leidet fast jeder siebte unter einer Autoimmunerkrankung. Auf Deutschland bezogen wären das etwa 12,4 Millionen, in der Mehrzahl Frauen. „Besorgniserregend ist, dass die Zahl der Fälle weltweit jährlich zunimmt“, so die Forscher.

Im Wettlauf um die Entwicklung neuer, wirksamer Therapien gehe es um das Verständnis der Risikofaktoren und Treiber der Autoimmunität, schreiben die Autoren der Studie. Mit der Entdeckung der Antikörper gegen mehrere „Xist-assoziierte Proteine“ stehe ein neuartiges Antigenset für die Früh-Diagnose zur Verfügung, „da Autoantikörper oft vor oder früh im Ausbruch der Krankheit nachgewiesen werden“.

Derzeit gebe es nur wenige zielgerichtete Therapien für Autoimmunerkrankungen, erklären die Forscher. Mit ihrer Studie könnten sie einen neuen Ansatz gefunden haben, und zwar mit „atypischen B-Zellen als eine Population von Immunzellen, die sich als Folge der Xist-RNP-Expression anreichern“. Zukünftige Studien sollten sich damit befassen, ob und wie solche und andere Zelltypen zur Autoimmunität beitragen.

Neben der Rolle der Chromosomen werden noch andere mögliche Ursachen dafür diskutiert, dass das Immunsystem fälschlicherweise gesunde Zellen und Gewebe des Körpers angreift – vor allem bei Frauen. So hätten Forscher festgestellt, dass die Krankheiten oft in wichtigen körperlichen Übergangsphasen beginnen, heißt es in dem Beitrag von Spektrum.de. Gemeint sind die Pubertät, der Beginn des gebärfähigen Alters, Schwangerschaften und Wechseljahre. In jeder Phase verändert sich die Produktion der Sexualhormone erheblich.

So könnten etliche Autoimmunkrankheiten durch Östrogen gesteuert werden, wie Forscher annehmen – und zwar über den Einfluss auf die Aktivität der Erbfaktoren, die Immunfunktionen regulieren. Östrogen soll auch B-Zellen des Immunsystems aktivieren, die im Knochenmark reifen und als einzige Zellen Antikörper produzieren können. Möglicherweise entstehen dabei auch vermehrt Autoantikörper. Auch das Schwangerschaftshormon Progesteron könne die Balance verschieben. Die Sexualhormone sollen auch die Aktivität von Schlüsselgenen des Immunsystems beeinflussen.

„Die Autoimmunität könnte ein unerwünschter Nebeneffekt der komplexen Immunprozesse sein, auf die der weibliche Organismus angewiesen ist, um Kinder auf die Welt zu bringen“, heißt es. Forscher befassten sich aber auch mit den Unterschieden in der Darmflora zwischen den Geschlechtern. So sollen zum Beispiel die Darmbakterien bei Männern den Testosteronspiegel erhöhen – was vorbeugend gegen bestimmte Autoimmunkrankheiten wirken könnte.

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Die erhöhte Anfälligkeit von Frauen für Autoimmunkrankheiten ist nicht zuletzt wichtig für die Corona-Debatte. Es sei dringend notwendig, die biologischen Ursachen zu erkennen, meint zum Beispiel die kanadische Immunologin Shannon Dunn – auch um möglicherweise „die geschlechtlich unterschiedlichen Reaktionen auf Infektionen, Impfungen und Verletzungen sowie bei Krebserkrankungen“ aufzuklären.

So leiden zum Beispiel mehr Frauen als Männer unter Long Covid, der neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS und Impffolgen, genannt Post-Vac-Syndrom. All dies sind keine typischen Autoimmunkrankheiten wie Rheuma, Hashimoto, Morbus Crohn, Multiple Sklerose oder Lupus. Aber Autoimmunprozesse – also überschießende und den eigenen Körper angreifende Reaktionen des Immunsystems – sind offenbar meist beteiligt.

Vor einem Jahr haben Fachleute bei einem virtuellen Panel der Leopoldina über den Stand der Forschung zu Long Covid diskutiert. Ein Forscherteam der Yale University um die Immunologin Akiko Iwasaki definierte vier Hauptursachen dafür, dass Menschen noch viele Monate nach Covid-19 unter den Folgen leiden: 1. Das Virus Sars-CoV-2 steckt länger im Körper, vermehrt sich weiter und verursacht eine chronische Infektion. 2. Menschen, die in der Akutphase schwer erkrankt waren, leiden noch länger unter Gewebeschäden und -fehlfunktionen. Auch Vorerkrankte haben oft langwierige Verläufe. 3. Die Covid-Erkrankung „triggert“ im Körper eine Autoimmunität, so wie das auch bei anderen Viren wie etwa dem Epstein-Barr-Virus zu beobachten ist. 4. Andere Viren, die man bereits im Körper trägt, werden reaktiviert. Das können zum Beispiel Herpes-Viren sein.

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Frauen im erwerbsfähigen Alter sollen von Long Covid häufiger betroffen sein als Männer. Ihr Risiko, daran zu erkranken, sei etwa anderthalbmal so hoch wie das von Männern. Das ergab unter anderem eine Metaanalyse verschiedenster Studien von Ende 2022. Vor allem Frauen sind es auch, die von einer extremen Folge von Covid-19 betroffen sind, genannt Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS).

Darüber wird in jüngerer Vergangenheit immer öfter berichtet. „Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer“, heißt es in einer Darstellung zu dieser oft sehr schweren neuroimmunologischen Erkrankung, die mit einer ausgeprägten „Belastungsintoleranz“ und schweren „Crashs“, also Einbrüchen des Energielevels, einhergeht. Etwa 60 Prozent der Betroffenen sind dauerhaft arbeitsunfähig. Den Darstellungen zufolge gibt es zwei Altersgipfel des Erkrankungsbeginns: in der Jugend (10 bis 19 Jahre) und im mittleren Erwachsenenalter (30–39 Jahre).

In den meisten Fällen geht dem eine Infektion voraus, wie eine Studie 2022 bestätigte, die unter anderem von der Charité-Forscherin Carmen Scheibenbogen erarbeitet wurde. Das können zum Beispiel Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, Herpesviren, Grippe- oder Coronaviren sein. In seltenen Fällen kann ME/CFS auch nach Impfungen auftreten, etwa gegen Grippe oder Corona. Bereits vor der Corona-Pandemie sollen bundesweit mehr als 250.000 Menschen an ME/CFS gelitten haben.

Die Charité-Studie bestätigte, dass einem erkrankten Mann zwei bis drei erkrankte Frauen gegenüberstehen. ME/CFS könnte „eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems zugrunde liegen“, heißt es in einer Darstellung der Uni Wien. Auch das Gefäßsystem und der zelluläre Energiestoffwechsel sind betroffen. Im Kern der Forschung steht unter anderem die Frage, wie es zu der „Immundysregulation“ kommt, warum zum Beispiel Autoantikörper bei einem Drittel der Betroffenen eine bestimmte Klasse von Rezeptoren des Gefäß‑, Immun- und Nervensystems angreifen. Dabei geht es auch um mögliche Therapieansätze.

Spielen auch hier als „Treiber der Autoimmunität“ hormonelle und genetische Besonderheiten von Frauen eine Rolle? Das ist sicher eine wichtige Frage angesichts des so auffälligen Überwiegens weiblicher Erkrankter, die sich in einem ganz bestimmten Alter befinden.

QOSHE - Angriff auf den eigenen Körper: Vor allem Frauen leiden an Autoimmunkrankheiten - Torsten Harmsen
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Angriff auf den eigenen Körper: Vor allem Frauen leiden an Autoimmunkrankheiten

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21.02.2024

Ob Rheuma, Hashimoto, Lupus, Psoriasis oder Multiple Sklerose: Unter Autoimmunkrankheiten leiden vor allem Frauen. Bei solchen Krankheiten führt eine Fehlsteuerung des Immunsystems dazu, dass fälschlicherweise gesunde Zellen und Organe des Körpers angegriffen werden – etwa durch Autoantikörper.

Frauen sind mit einem Anteil von fast 80 Prozent weitaus häufiger als Männer von solchen Erkrankungen betroffen. Manche leiden sogar unter mehrfachen Problemen, haben zum Beispiel Rheuma, Schuppenflechte (Psoriasis) und Zöliakie.

Woran liegt das? Was sind die biologischen Ursachen dieser Häufung bei Frauen? Liegt es an der Produktion von Hormonen, etwa von Östrogen? Hat es damit zu tun, dass Frauen schwanger werden und Kinder gebären können und der Körper vielleicht gegen vermeintliche Gefahren überreagiert? Oder hat alles genetische Ursachen?

Eine neue Studie, erschienen Anfang Februar im Fachjournal Cell, erhärtet nun den Verdacht, dass eine Ursache bereits in den Chromosomen liegen könnte. Chromosomen befinden sich in den Zellkernen und sind Träger von Erbanlagen. Sie bestehen aus DNA und verschiedenen Proteinen. Und in den Chromosomen entscheidet sich auch, ob ein Fötus männlich oder weiblich wird. Neben 22 Paaren nicht-geschlechtlicher Chromosomen gibt es ein paar Geschlechts-Chromosomen. Frauen haben im Normalfall zwei X-Chromosomen (XX) und Männer ein X- und ein Y-Chromosom.

Was hat das mit Autoimmunkrankheiten zu tun? Hier verweisen die Forscher auf die sogenannte X-Inaktivierung bei Frauen. Bereits in der frühen Embryonalentwicklung soll in jeder Zelle eines der beiden X-Chromosomen abgeschaltet werden, damit von ihnen nicht zu viele Proteine produziert werden. Das stillgelegte X-Chromosom soll als eng gepackte Struktur weiter in der Zelle eingelagert bleiben.

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„In den letzten Jahren offenbarte sich allerdings, dass die X-Inaktivierung nicht ganz so vollständig abläuft wie zunächst vermutet“, heißt es in einem Beitrag des Wissenschaftsjournals Spektrum.de. „Laut Studien bleiben mindestens 15 Prozent der Gene auf dem vermeintlich stillgelegten X-Chromosom weiterhin aktiv; damit können diese Erbfaktoren bei Frauen für doppelt so viel Protein sorgen wie bei Männern.“

Unter Krankheit Lupus leiden schon junge Frauen

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So würden zum Beispiel bei Patientinnen, die unter Lupus erythematodes leiden, ganz bestimmte Gene auf beiden X-Kopien abgelesen. Je mehr von diesen aktiven X-chromosomalen Genen vorlägen, desto schlimmer seien die Symptome. Diese reichen von Hautrötungen auf den Wangen und der Nase (Schmetterlingserythem) und roten, schuppigen Flecken über Gelenkschmerzen, Abgeschlagenheit, Blutgefäßstörungen und Haarausfall bis hin zu schweren Organschäden. Am häufigsten sind jüngere Frauen im gebärfähigen Alter betroffen.

Die neue Studie eines Forscherteams aus den USA, Schweden und der Schweiz zeigt nun........

© Berliner Zeitung


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