Das Verhältnis zu China gehört zu den kompliziertesten Herausforderungen der europäischen Politik. Die Beziehungen sind vielschichtig: ein hoher Grad an wirtschaftlicher Verflechtung bei zugleich harter Konkurrenz um Technologieführerschaft; die zunehmende chinesisch-amerikanische Rivalität; ideologische Differenzen; wachsende chinesische Dominanz in Eurasien und Afrika; chinesische Kontrollansprüche mit Blick auf Chinesen im Ausland.

Die einfachen Lösungen erledigen sich im Vorhinein. Wer schlichtweg „De-Coupling“ fordert und nur noch mit Demokratien Handel treiben will, gibt Europa der Verarmung preis. Wer vorgibt, die Chinesen mit höheren Rüstungsausgaben, Selbstbewusstsein und Nato-Präsenz in der Straße von Taiwan eindämmen zu wollen, entlarvt sich als Träumer. Ging es nach 1990 darum, die Demokratie in die weite Welt zu tragen, geht es heute darum, ihren Bestand wenigstens in Europa und den USA zu sichern.

Zu den nicht so einfachen Lösungsansätzen gehört der Versuch, die chinesische Perspektive einzunehmen. Welche Ziele, welche Ängste dominieren die dortige Geopolitik? Eine zentrale Doktrin lautet: Das „Jahrhundert der Demütigungen“ (bǎinián guóchǐ) darf sich niemals wiederholen. Mit anderen Worten: Keine fremde Macht darf je wieder so mächtig werden wie die Europäer es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts waren.

Wenn der chinesische Präsident Xi Jinping jetzt Frankreich, Serbien und Ungarn besucht, reist er in die drei Länder, die derzeit auf unterschiedliche Weise für ein nicht (nur) transatlantisches Europa stehen. Der Zusammenhang mit der genannten Doktrin ist unübersehbar; als Chinese muss Xi verhindern, dass Europa sich geschlossen dem Erzrivalen USA andient.

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Die drei Länder sind strategisch klug gewählt. Frankreich ist die einzig verbliebene kontinentale Macht, die einerseits Weltgeltung beansprucht und andererseits den Ehrgeiz besitzt, den USA als mindestens ebenbürtig zu begegnen. Ungarn wiederum, das Rumpelstilzchen der EU, erinnert die Brüsseler Eliten daran, dass Europa nicht nur stromlinienförmig smart, sondern durchaus partikular und widerborstig ist. Das orthodoxe Serbien, kein EU-Mitglied, macht den Kohl buchstäblich fett – verkörpert es doch das anarchisch ungezähmte Erbe, das den Kontinent unter einem Firnis aus ökonomischer Vernunft stets begleitet.

Alle drei Länder sehen ihre China-Connection auch als Balance und Gegengewicht. So bringt Viktor Orban seine Nähe zu Russen und Chinesen gegen Brüsseler Zumutungen in Stellung – und navigiert zugleich Xi gegen Putin und umgekehrt. Ähnliches gilt für Serbien. Dort braucht Präsident Aleksandar Vučić China und Russland, um westliche Pläne für die Zukunft des Kosovo zu konterkarieren.

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Entscheidend für die europäische Chinapolitik sind Deutschland und Frankreich. Deutschland, das hat der jüngste Peking-Besuch des Bundeskanzlers deutlich gemacht, legt sein Augenmerk vornehmlich auf die Wirtschaftsbeziehungen – der Handel mit China beträgt immerhin rund 250 Milliarden Euro, gut acht Prozent des deutschen Außenhandels und in etwa so viel wie mit den USA. Darüber hinaus hofft Olaf Scholz auf eine konstruktive Rolle Pekings bei der Beendigung des Ukraine-Kriegs.

Bei den Franzosen kommt ein politisches Moment hinzu. Anders als in Berlin, wo man in Krisenzeiten fest auf die Sicherheitspartnerschaft mit den USA setzt, ist Paris auf der – bislang vergeblichen – Suche nach europäischer „strategischer Autonomie“. Emmanuel Macrons Ideal ist ein eigenständiger europäischer Kurs China, USA, Russland und allen anderen gegenüber – am besten unter französischem Dirigat. Damit kommt er den Chinesen entgegen, die sich im multipolaren Konzert eine eigenständige europäische Stimme wünschen.

An der Stelle liegt der Hund begraben. Aus der Sicht eingefleischter Transatlantiker ist nämlich die „multipolare Welt“ ein Propagandaprojekt anti-westlicher Ideologie. In der Wagenburg des Westens impliziert der Begriff so etwas wie Verrat. Zwei Sichtweisen prallen aufeinander: die eine liest „multipolare Welt“ als Attacke auf die regelbasierte Ordnung, die andere liest „globaler Westen“ als moderne Variante des alten europäischen Imperialismus.

Das gegenseitige Misstrauen führt in die Gegnerschaft. Ungarn, TikTok und Huawei werden als chinesische U-Boote wahrgenommen, und in China läuft der dritte Flugzeugträger vom Stapel. Die Europäer werfen den Chinesen Dumping vor, die Chinesen den Europäern ihre Restriktionen auf Hightech-Exporte. Statt wie in der Vergangenheit Win-Win-Situationen zu schaffen, geht es jetzt darum, wer in einer Lose-Lose-Konstellation den größeren Schaden davonträgt.

Vorerst sind sowohl Scholz als auch Macron damit befasst, solche Schäden einzudämmen. Beide stemmen sich gegen neue Zölle auf Importe aus China. Sie befürchten reziproke Maßnahmen, die Europa empfindlicher treffen könnten als umgekehrt. Vor allem die Franzosen sind am Wachstum ihrer Ausfuhren interessiert. Der französische Chinahandel ist hochgradig defizitär, die Importe übersteigen die Exporte nach China um rund ein Drittel. Die Differenz belastet die französische Außenhandelsbilanz mit 25 Milliarden Euro.

Das deutsche Außenhandelsdefizit mit China beträgt rund 60 Milliarden Euro – bei einem fast dreieinhalb Mal so großen Handelsvolumen. Strukturell sind die Chinaexporte beider Länder, Deutschland und Frankreich, durchaus vergleichbar. Es ist das Premiumsegment, das überproportional chinesische Kunden anspricht. In Deutschland betrifft das die Kfz-Industrie, Mercedes-Benz, BMW und andere, in Frankreich die Luxuswaren von Kosmetik über Mode bis zu Alkoholika. Namen wie der des Luxuskonzerns Moët Hennessy Louis Vuitton (LVMH) sprechen für sich.

Frankreich fährt nicht nur ein prozentual höheres Defizit ein – der Chinahandel westlich des Rheins ist auch entschieden schmaler aufgestellt. Neben Luxusgütern ist vor allem die Luftfahrtindustrie von Bedeutung, während sich das deutsche Chinageschäft über eine Vielzahl von Branchen erstreckt. Ungeachtet dessen: Für alle Europäer gilt, dass Protektionismus und Zollkriege das letzte sind, was sie sich wünschen können.

Soll man den Chinesen verdenken, dass sie sich ihrer Wirtschaftsmacht bedienen, um politische Ziele durchzusetzen? Der Westen tut nichts anderes, wenn er Sanktionen verhängt. Nur dass es ihm schwerfällt, einen Kontrahenten auf Augenhöhe zu akzeptieren. Russland mag riesig sein und kann einen Atomkrieg anzetteln, doch ein Zusammenbruch der russischen Wirtschaft würde die Welt nicht in den Abgrund reißen. Bei China sieht das anders aus.

Ein weiterer Aspekt der chinesischen Strategie in Europa ist der Wunsch nach Kontrolle der Auslandschinesen. Studenten, Exilanten und sogar Touristen – der Kaiser in Peking möchte wissen, was sie denken, was sie sagen, mit wem sie reden und was sie tun. Dazu gehört der Wunsch, chinesische Polizeibeamte in europäischen Ländern zu stationieren und auf gemeinsame Patrouille mit einheimischen Kollegen zu schicken.

Ein erstes solches Abkommen wurde schon 2015 mit Italien unterzeichnet. Bis zur Pandemie 2020 waren chinesische Polizisten südlich der Alpen auf Streife unterwegs. 2022 wurde die Vereinbarung ausgesetzt. Als eigentlicher Grund galten Berichte über inoffizielle chinesische Polizeistationen, die es auch in Italien gegeben haben soll. Die spanische Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders hatte darauf aufmerksam gemacht; in der Folge wurden mehr als hundert ähnliche Einrichtungen in ganz Europa entdeckt, auch in Kanada, den USA und Nigeria.

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Den Behörden in Peking zufolge handelte es sich nicht um Polizeistationen, sondern um Freiwilligenzentren, die Auslandschinesen im Kontakt mit lokalen Behörden helfen. Kritiker sehen darin illegale Agenturen – Ideologiepolizei und verlängerter Arm des kommunistischen Staats.

Auch mit Serbien hat China ein vergleichbares Abkommen geschlossen. Im September 2023 kamen neun chinesische Polizisten ins Land und patrouillierten mehrere Wochen gemeinsam mit lokalen Polizisten in Belgrad, Novi Sad und Smederevo - Hotspots des chinesischen Balkan-Tourismus.

Schon 2019 hatte die Installation chinesischer Huawei-Überwachungskameras mit Gesichtserkennungsfunktion in Belgrad begonnen. Bereits im ersten Jahr wurde berichtet, dass die Behörden sie eingesetzt hätten, um Bußgelder gegen Teilnehmer eines nicht genehmigten Protests zu verhängen. Andere serbische Städte haben angeblich Überwachungssysteme des chinesischen Unternehmens Dahua installiert, das seit 2019 auf der US-Sanktionsliste steht.

In Ungarn wird ebenfalls ein solcher Deal diskutiert. Auch dort ist vorgesehen, dass chinesische und ungarische Polizisten Seite an Seite patrouillieren. Dem Vernehmen nach wurde die Vereinbarung bei einem Besuch des chinesischen Ministers für öffentliche Sicherheit im Februar unterzeichnet; der Minister traf auch Premier Orbán. Wie in anderen Ländern bemängeln Kritiker die Möglichkeit, in Ungarn chinesischen Einfluss und direkte Kontrolle über Chinesen auszuüben.

Die Präsenz chinesischer Polizisten in der Europäischen Union ist auch in Brüssel ein Thema. Im April äußerte die Kommission entsprechende Bedenken. Mit Blick auf die bevorstehenden Patrouillen chinesischer Polizisten an ungarischen Touristenorten sagte die ungarische EP-Abgeordnete Katalin Cseh (Renew Europe): „Wenn das keine ausländische Einmischung in EU-Angelegenheiten ist, dann weiß ich nicht, was es ist.“

QOSHE - Xi wünscht sich ein eigenständiges Europa – und Kontrolle über Auslandschinesen - Thomas Fasbender
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Xi wünscht sich ein eigenständiges Europa – und Kontrolle über Auslandschinesen

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07.05.2024

Das Verhältnis zu China gehört zu den kompliziertesten Herausforderungen der europäischen Politik. Die Beziehungen sind vielschichtig: ein hoher Grad an wirtschaftlicher Verflechtung bei zugleich harter Konkurrenz um Technologieführerschaft; die zunehmende chinesisch-amerikanische Rivalität; ideologische Differenzen; wachsende chinesische Dominanz in Eurasien und Afrika; chinesische Kontrollansprüche mit Blick auf Chinesen im Ausland.

Die einfachen Lösungen erledigen sich im Vorhinein. Wer schlichtweg „De-Coupling“ fordert und nur noch mit Demokratien Handel treiben will, gibt Europa der Verarmung preis. Wer vorgibt, die Chinesen mit höheren Rüstungsausgaben, Selbstbewusstsein und Nato-Präsenz in der Straße von Taiwan eindämmen zu wollen, entlarvt sich als Träumer. Ging es nach 1990 darum, die Demokratie in die weite Welt zu tragen, geht es heute darum, ihren Bestand wenigstens in Europa und den USA zu sichern.

Zu den nicht so einfachen Lösungsansätzen gehört der Versuch, die chinesische Perspektive einzunehmen. Welche Ziele, welche Ängste dominieren die dortige Geopolitik? Eine zentrale Doktrin lautet: Das „Jahrhundert der Demütigungen“ (bǎinián guóchǐ) darf sich niemals wiederholen. Mit anderen Worten: Keine fremde Macht darf je wieder so mächtig werden wie die Europäer es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts waren.

Wenn der chinesische Präsident Xi Jinping jetzt Frankreich, Serbien und Ungarn besucht, reist er in die drei Länder, die derzeit auf unterschiedliche Weise für ein nicht (nur) transatlantisches Europa stehen. Der Zusammenhang mit der genannten Doktrin ist unübersehbar; als Chinese muss Xi verhindern, dass Europa sich geschlossen dem Erzrivalen USA andient.

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Die drei Länder sind strategisch klug gewählt. Frankreich ist die einzig verbliebene kontinentale Macht, die einerseits Weltgeltung beansprucht und andererseits den Ehrgeiz besitzt, den USA als mindestens ebenbürtig zu begegnen. Ungarn wiederum, das Rumpelstilzchen der EU, erinnert die Brüsseler Eliten daran, dass Europa nicht nur stromlinienförmig smart, sondern durchaus partikular und widerborstig ist. Das orthodoxe Serbien, kein EU-Mitglied, macht den Kohl buchstäblich fett – verkörpert es doch das anarchisch ungezähmte Erbe, das den Kontinent unter einem Firnis aus ökonomischer Vernunft stets begleitet.

Alle drei Länder sehen ihre........

© Berliner Zeitung


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