Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und nicht nur das. Starke Bilder wirken unmittelbar auf unser limbisches System, den Sitz der Emotionen. Sie umschiffen den analysierenden und filternden Verstand, wecken Mitleid, Abscheu, Ekel, den ganzen Regenbogen positiver und negativer Gefühle, und das in Sekundenbruchteilen. Sie nehmen ein oder stoßen ab, mobilisieren zur Parteinahme.

Schon 1853, die Technologie der chemischen Bildfixierung war keine zwei Jahrzehnte alt, schickte die britische Regierung vier hauptamtliche Fotografen in den Krimkrieg. An der Heimatfront sank damals der Enthusiasmus für den fernen, teuren Militäreinsatz. Von den Bildern, ästhetisch noch an die Tableaus der Schlachtenmaler angelehnt, erhoffte man sich gesteigerte Aufmerksamkeit.

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte der Blick der Sieger, gipfelnd 1945 in den beiden symbolstärksten Siegesfotos überhaupt: dem Hissen der US-Flagge auf der Pazifikinsel Iwojima und der Sowjetflagge auf dem Reichstag in Berlin. Beide Bilder waren nachgestellt und damit eigentlich „fake“; der sowjetische Fotograf musste obendrein die zwei Armbanduhren am Handgelenk eines der Soldaten retuschieren. Die Ausdruckskraft der Bilder als Inbegriff eines Jahrhunderttriumphs schmälert das nicht.

Als dann im März 1968 der Fotograf Ron Haeberle mit den Hubschraubern des 20. US-Infanterieregiments in dem südvietnamesischen Dorf My Lai landet, wird er Zeuge des größten je dokumentierten Massakers der US-Armee. Seine Kameraden foltern, vergewaltigen und morden rund 500 Zivilisten, alte Männer, Frauen, Kinder. Haeberles Bilder, die 1969 schwarz-weiß in US-Zeitschriften erscheinen, initiieren einen Gezeitenwechsel in der Kriegsfotografie. Seither stehen die Opfer im Zentrum, die Geschändeten, Schwachen, Unschuldigen, Hilflosen.

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Napalm girl“, die schreiende, nackte, neunjährige Phan Thi Kim Phuc, wird 1972 zur ersten großen Ikone der neuen Perspektive. 17 Jahre später dann „Tank man“, der namenlose junge Chinese, der sich im Juni 1989 während der Pekinger Studentenunruhen vier Kampfpanzern in den Weg stellt. Die einzigen Siegerfotos, die es nach 1968 zu ikonischer Bedeutung bringen, sind die Berliner Mauertänzer vom 10. November 1989 – in ihrem seligen Frieden exemplarisch für die kurze, von heißen und kalten Kriegen ermattete Epoche um die Jahrtausendwende.

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Heute wecken die Mauerbilder nostalgische Erinnerungen an Eintracht und Hoffnung. Auch an eine Zeit des authentischen Optimismus, eine Zeit vor dem Internet mit seinen machiavellisch-manipulativen Algorithmen. Inzwischen sind auch die Opferbilder zum Geschäftsmodell verkommen, zum Geschäft mit Politik und Kalkül. Bilder wie die des zweijährigen Alan Kurdi, bäuchlings ertrunken 2015 am Strand des türkischen Badeorts Bodrum. Ihr Mitleidswert befeuert die Spendenkampagnen der Menschenrettungs-NGOs, die Europa – gegen den Willen eines Großteils der Europäer – zum sicheren Hafen aller weltweit Schutzsuchenden machen wollen.

Dauerte es 1968 noch ein ganzes Jahr, bis die Bilder des Massakers in My Lai die amerikanische Öffentlichkeit erreichten, nimmt die globale Netzgemeinde heute im Livestream teil. Am 7. Oktober 2023 durfte sie mit anhören, wie ein siegestrunkener Hamas-Kämpfer seiner Mutter telefonisch vom Judenschlachten vorschwärmte. Triumphe der Hasszerfressenen. Gleichzeitig streamten die Horrorvideos mit der Todesangst junger Israelis durch den Äther.

Auch die politischen Auswirkungen der Bilderflut folgen heute auf dem Fuß. Videosequenzen vom unsäglichen Leid der Palästinenser in einem verbrannten Flüchtlingslager bei Rafah – drei Tage später diskutiert der UN-Sicherheitsrat Resolutionen gegen Israel. Bilder eines zerbombten Baumarkts im ukrainischen Charkiw – der Westen erörtert die nächste Eskalationsstufe gegen Russland. Immer kürzer die Rhythmen, ein gellendes Stakkato nach dem anderen: Bild – Emotion – Parteinahme – Aktion.

All eyes on #Rafah 🇵🇸 pic.twitter.com/bg3bAtl3dQ

Mit der Künstlichen Intelligenz beginnt nun ein ganz neues Zeitalter. Wo Photoshop die Wahrheit nur schminkt, setzt die KI das Messer an. Sie verleiht der Wahrheit ihr neues Gesicht, eine perfekte Maske. Sie braucht auch nicht zu lügen, um erfolgreich zu sein.

Dieser Tage geht ein Kunstbild viral. Eine endlose, bräunliche Zeltstadt in einem weiten, flachen Wüstental, in der Mitte weiße Zelte, die Wörter formen: ALL EYES ON RAFAH. Wie der Teaser zu einem Sci-Fi-Film. Kunst – kein Fake. Ein Mem in the making.

Israel hält auf X, ehemals Twitter, dagegen: WHERE WERE YOUR EYES ON OCTOBER 7? Ein vermummter Terrorist mit grünem Stirnband und Kalaschnikow breitbeinig vor einem nackten Baby mit Windel. Blutspritzer ringsum und auf der Windel, eine brennende Flagge mit dem Davidstern, zerstörte Häuser und Sand.

We will NEVER stop talking about October 7th.

We will NEVER stop fighting for the hostages. pic.twitter.com/XoFqAf1IjM

Naive deutsche Journalisten bitten wirklich darum, solche Bilder nicht zu teilen. Das triggere erst die Algorithmen, eine selbsterfüllende Prophezeihung. Als ob die Menschheit mithilfe des Verstands noch zu retten wäre. Der Londoner Politikwissenschaftler William A. Callahan, Autor von „Sensible Politics. Visualizing International Relations“, weiß es besser. Er argumentiert: Gerade weil die westliche politische Kultur Emotionen diskriminiert und tabuisiert, sind wir der Wirkmacht der starken Bilder, die sich an unserem Verstand vorbeimogeln, so hilflos ausgeliefert.

Die Lösung ist auch nicht der „Faktencheck“. Fakten sind selbst bereits gemacht, konstruiert (lateinisch facere = machen, herstellen, tun). Die Lösung liegt allein im geübten Umgang mit Emotionen. Etwa darin, vom Opfer nicht gleich auf die Täter zu schließen. Vom Rauch nicht aufs Feuer. Nicht in Kategorien wie schwarz oder weiß, gut oder böse zu denken. Oder auch, sehr aktuell in einer zunehmend KI-gesättigten Zeit, in einem gesunden Misstrauen allen angeblichen Bildern, Fakten, Wahrheiten und Behauptungen gegenüber.

QOSHE - Wo Rauch ist, ist auch Feuer: Von der Macht der Bildbotschaften - Thomas Fasbender
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Wo Rauch ist, ist auch Feuer: Von der Macht der Bildbotschaften

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31.05.2024

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und nicht nur das. Starke Bilder wirken unmittelbar auf unser limbisches System, den Sitz der Emotionen. Sie umschiffen den analysierenden und filternden Verstand, wecken Mitleid, Abscheu, Ekel, den ganzen Regenbogen positiver und negativer Gefühle, und das in Sekundenbruchteilen. Sie nehmen ein oder stoßen ab, mobilisieren zur Parteinahme.

Schon 1853, die Technologie der chemischen Bildfixierung war keine zwei Jahrzehnte alt, schickte die britische Regierung vier hauptamtliche Fotografen in den Krimkrieg. An der Heimatfront sank damals der Enthusiasmus für den fernen, teuren Militäreinsatz. Von den Bildern, ästhetisch noch an die Tableaus der Schlachtenmaler angelehnt, erhoffte man sich gesteigerte Aufmerksamkeit.

Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte der Blick der Sieger, gipfelnd 1945 in den beiden symbolstärksten Siegesfotos überhaupt: dem Hissen der US-Flagge auf der Pazifikinsel Iwojima und der Sowjetflagge auf dem Reichstag in Berlin. Beide Bilder waren nachgestellt und damit eigentlich „fake“; der sowjetische Fotograf musste obendrein die zwei Armbanduhren am Handgelenk eines der Soldaten retuschieren. Die Ausdruckskraft der Bilder als Inbegriff eines Jahrhunderttriumphs schmälert das nicht.

Als dann im März 1968 der Fotograf Ron Haeberle mit den Hubschraubern des 20. US-Infanterieregiments in dem südvietnamesischen Dorf My Lai landet, wird er Zeuge des größten je dokumentierten Massakers der US-Armee. Seine Kameraden foltern, vergewaltigen und morden rund 500 Zivilisten, alte Männer, Frauen, Kinder. Haeberles........

© Berliner Zeitung


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