Am Ende konnte die russische Wahlkommission es selbst nicht erwarten, ihrem Präsidenten die frohe Botschaft zu übermitteln. Fast 88 Prozent nach Auszählung von gut einem Drittel der Stimmen, und das bei einer Wahlbeteiligung von an die 75 Prozent. Das ist nicht nur zu schön, um wahr zu sein, das ist zu viel, zu früh und zu dick aufgetragen.

Zu den Errungenschaften der autoritären oder „gelenkten“ Demokratie gehörte die Erkenntnis, dass 99,9-Prozent-Ergebnisse kontraproduktiv sind. Solche Resultate sind Volksverhohnepipelung, kein feiner Zug der allzu Mächtigen. Nach 1990, nach dem Verschwinden der letzten großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, schien sich das weltweit herumzusprechen. Weniger ist mehr, und Mehrheit beginnt bei 50+ Prozent.

Russische Wahlergebnisse im 21. Jahrhundert sind das Ergebnis gegenläufiger Prozesse: Oben wird bestellt und unten wird geliefert. Das funktioniert nicht immer reibungslos. Zum einen gilt es den Schein zu wahren, zum anderen stolpern die beflissenen Erfüllungsgehilfen über ihre eigenen Füße. Das Ziel bei der Präsidentschaftswahl am Wochenende lautete: definitiv mehr als 2018, am besten 80+ Prozent. Die fast 88 Prozent sind daher sowohl eine Rückversicherung als auch das Signal der devoten Wahlhelfer an den da oben, frei nach Karl Valentin: Wir hätten auch über 90 Prozent liefern wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.

Noch hat der Kreml Zeit zu korrigieren. Wenn die 88 in Richtung 85 schrumpfen, war es Putin persönlich, der auf die Bremse trat. Bleibt es bei den 88 oder vermehren sie sich noch, fixiert das den Primat der nationalen Einheit als Wesen der russischen Politik. Ein uneuropäisches Konzept – staatsphilosophisch rückt das Land damit weiter Richtung Osten.

Russland: Putin dankt Bürgern für Wahlsieg und nennt Tod Nawalnys „traurigen Vorfall“

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Dass es gut so kommen kann, verdeutlichen Putins Äußerungen zu Alexej Nawalny. Neben dem „traurigen Ereignis“ seines Todes erwähnt er die Verhandlungen über einen möglichen Austausch des Inhaftierten. Er hat ihn schon 2020 gehen lassen, vergiftet und im Koma Richtung Berlin. Eigentlich will er, dass alle Oppositionellen das Land verlassen. Zuhause stören sie seine nationale Einheit, im Ausland werden sie zum stumpfen Schwert, von der heimischen Propaganda als billige Liebediener des Westens geschmäht.

Nawalny hat sich diesem Kalkül entgegengestellt und ist zurückgekehrt; der Preis war sein Leben. Wie verloren die im Land verbliebene Opposition derzeit ist, zeigen die Videos der Wahllokale am Sonntagmittag. Noch zu Lebzeiten hatte Nawalny seine Anhänger aufgerufen, an dem Tag um 12 Uhr zur Wahl zu gehen. Die Schlangen waren unübersehbar, aber gemessen an einem 143-Millionen-Volk mit einer angeblich breiten, unzufriedenen Basis waren es nicht einmal Tropfen auf einen heißen Stein.

Die prowestliche, prodemokratische Opposition ist am Ende. Sie ist einen langen Tod gestorben, für den nicht nur der Kreml verantwortlich ist. Die demokratische Vision der Neunziger zieht nicht mehr, und eine neue ist nicht in Sicht. Viele junge Russen sind hin und her gerissen zwischen nicht-westlicher Identität auf der einen und den westlichen Werten und Freiheiten auf der anderen Seite. Hinzu kommt: Die Zweifel und Umbrüche, die auch im Westen die Gegenwart markieren, machen vor Russland nicht halt.

Und welche Vision hat Putin zu bieten? Sechs Jahre Repression, Militarisierung und antiwestliche Bollwerk-Politik. Mit jeder Zementierung seiner Macht befördert der Präsident das Land tiefer in die Sackgasse. Zumal seine Politik der nationalen Einheit auf Dauer angelegt ist. Die urbane Opposition außer Landes, die mächtige Provinz im Rücken – diese Konstellation übersteht selbst eine Niederlage gegen den Westen im Ukraine-Krieg.

Nach der Wahl ist ausnahmsweise nicht vor der Wahl. Nicht bei diesem Land. Putin kann bis 2030 regieren und wenn er will, bis 2036. Da lohnt es, über den Ukraine-Krieg hinauszudenken. Ob er nun gewonnen, verloren oder eingefroren wird – das Russland, das wir kennen, wird ihn überleben.

Wer immer noch glaubt, ein militärischer Durchbruch der Ukraine würde in Moskau Regime-Change-Wunder bewirken, bitte sehr. Die Verständigen sollten daran gehen, den künftigen Charakter unserer eigenartigen Nachbarschaft zu definieren. Europa muss lernen, mit Russland zu leben, einem Russland, dessen durchaus aufrichtiger Versuch, nach 1991 in die europäische Staatenwelt zurückzukehren, gescheitert ist – was nicht nur an Russland lag. Dennoch ist das Land kein Monolith, es ist wie alle Länder multi-identitär, in diesem Fall zugleich Feind und Gegner, Nachbar und Freund. Wobei Putins Präsidentschaft das Miteinander nicht eben leichter macht. Aber einen anderen als Putin haben wir nicht.

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Weitere sechs Putin-Jahre: Europa muss über den Ukraine-Krieg hinaus denken

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18.03.2024

Am Ende konnte die russische Wahlkommission es selbst nicht erwarten, ihrem Präsidenten die frohe Botschaft zu übermitteln. Fast 88 Prozent nach Auszählung von gut einem Drittel der Stimmen, und das bei einer Wahlbeteiligung von an die 75 Prozent. Das ist nicht nur zu schön, um wahr zu sein, das ist zu viel, zu früh und zu dick aufgetragen.

Zu den Errungenschaften der autoritären oder „gelenkten“ Demokratie gehörte die Erkenntnis, dass 99,9-Prozent-Ergebnisse kontraproduktiv sind. Solche Resultate sind Volksverhohnepipelung, kein feiner Zug der allzu Mächtigen. Nach 1990, nach dem Verschwinden der letzten großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, schien sich das weltweit herumzusprechen. Weniger ist mehr, und Mehrheit beginnt bei 50 Prozent.

Russische Wahlergebnisse im 21. Jahrhundert sind das Ergebnis gegenläufiger Prozesse: Oben wird bestellt und unten wird geliefert. Das funktioniert nicht immer reibungslos. Zum einen gilt es den Schein zu wahren, zum anderen stolpern die beflissenen Erfüllungsgehilfen über ihre eigenen Füße. Das Ziel bei der Präsidentschaftswahl am Wochenende lautete: definitiv mehr als 2018, am besten 80 Prozent. Die fast 88 Prozent sind daher sowohl eine Rückversicherung als auch das........

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