Auch wenn seit den EU-Wahlen am Wochenende ein „Rechtsruck“ in Europa beklagt wird – die Realität verdient eine differenzierte Betrachtung. So fallen die nur geringfügigen Veränderungen bei der Sitzverteilung im Parlament ins Auge – sollte es wirklich maßgebliche politische Verschiebungen geben, sind sie eher unterschwellig als offensichtlich.

Die Zentristen, also die Europäische Volkspartei EVP und die Fraktion der Sozialisten und Demokraten, konnten ihren Stimmenanteil bei minimaler Verschiebung zugunsten der EVP im Wesentlichen halten. Bei der linken Fraktion gab es geringe, bei den Grünen deutliche Verluste – verursacht nicht zuletzt durch das schwache Abschneiden der Grünen in Deutschland und Frankreich.

Doch auch im rechten Lager wachsen die Bäume nicht in den Himmel, jedenfalls nicht über alle 27 Mitgliedsländer hinweg. Die etablierten rechten Fraktionen EKR (+0,3 Prozent) und ID (+1,1 Prozent) haben nur leicht zugelegt. Hinzu kommen gut sechs Prozent Fraktionslose, darunter die von der ID ausgestoßenen AfD-Abgeordneten. Außerdem sind da 7,5 Prozent neu gewählte Abgeordnete, deren künftige Fraktionszugehörigkeit sich erst herausstellen muss.

Während der vermeintliche „Rechtsruck“ insgesamt eher ein Stimmungsbild widerspiegelt als reales Wählerverhalten, gibt es durchaus Verschiebungen innerhalb des rechten Lagers. Am augenfälligsten sind sie in Italien, wo die postfaschistischen (was immer das sein soll) Fratelli d’Italia der Ministerpräsidentin Georgia Meloni dem Koalitionspartner Lega ganze 14 EP-Sitze abgenommen haben.

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Melonis Triumph ist auch darin begründet, dass sie seit ihrem Regierungsantritt 2022 in mancherlei Hinsicht an den europäischen Mainstream angedockt hat. Meloni agiert transatlantisch und proeuropäisch, und das Konzept hat Zukunft. Nicht umsonst hat die in Machtbelangen talentierte Ursula von der Leyen ihre Fühler bereits Richtung Rom ausgestreckt.

Generell gilt: Mit dezidiert nationalistischen, antieuropäischen, prorussischen oder prochinesischen Positionen ist derzeit in Europa auch bei Konservativen kein Staat zu machen. Zwei Jahre Ukrainekrieg und die Brexit-Erfahrungen der Briten haben dazu ebenso beigetragen wie die Einsicht, dass außereuropäische Zuwanderung, wenn überhaupt, nur in gemeinsamer Anstrengung beherrscht und bewältigt werden kann.

Das hat auch die Grande Dame der europäischen Rechten verstanden, die Französin Marine Le Pen, die bei der EU-Wahl den größten Erfolg ihres politischen Lagers einfahren konnte. Die 31,4 Prozent des Rassemblement National verdanken sich auch der Existenz des rechtsextremen Bündnisses La France Fière. Ähnlich wie Meloni in Italien kann sich Le Pen in Frankreich halbwegs glaubwürdig von extrem rechten Positionen distanzieren und der Mitte Anschlussbereitschaft signalisieren.

Eine vergleichbare Situation herrscht in Polen. Dort hat zwar die rechtskonservative PiS gegenüber 2019 verloren und liegt knapp hinter der regierenden Bürgerkoalition auf dem zweiten Platz. Zugleich jedoch hat die rechtsextreme Konfederacja sechs zusätzliche Parlamentssitze gewonnen; sie landet mit 12,1 Prozent im zweistelligen Bereich. Addiert man die 36,2 PiS-Prozente, macht das konservative Lager fast die Hälfte der Wählerschaft aus. Damit aber sind die Spielräume der Bürgerkoalition des Ministerpräsidenten Donald Tusk – im Europaparlament Mitglied der EVP-Fraktion – in Richtung linke Mitte empfindlich beschnitten. Das Bekenntnis zur Europäischen Union ist gewissermaßen das höchste der Gefühle – im Übrigen folgt die Warschauer Politik den Vorgaben einer weitgehend konservativen Gesellschaft.

Die Deutschen merken‘s nicht: Olaf Scholz hat die „Postfaschistin“ Meloni zur Demokratin erklärt

23.11.2023

Italien: Regierung gerät über Umgang mit der deutschen AfD in Streit

07.05.2024

In den nordeuropäischen EU-Ländern Dänemark, Schweden und Finnland nahm der Wahltag eine ganz andere Richtung. Dort büßten die Rechtsaußen-Parteien teils erheblich an Zustimmung ein. In Finnland konnte das Linksbündnis gegenüber 2019 sogar massiv zulegen. Nach Auszählung aller Stimmen hat es seinen Stimmenanteil gegenüber 2019 auf 17,3 Prozent mehr als verdoppelt und wurde zweitstärkste Kraft hinter den Konservativen. Die rechte Partei Wahre Finnen verlor mit einem Ergebnis von 7,6 Prozent einen ihrer beiden Sitze im Europaparlament und landete auf Platz sechs hinter den finnischen Grünen.

In Schweden sicherten die Sozialdemokraten ihren Spitzenplatz mit 24,8 Prozent. Zweitstärkste Kraft wurden die konservativen Moderaten mit 17,6 Prozent. Dort stieg sogar der Stimmenanteil der Grünen um mehr als zwei Prozent gegenüber 2019 auf 13,8 Prozent. Den größten Zuwachs mit 4,2 Prozent verzeichnete die linke Vänsterpartiet; sie erreicht im Ergebnis 11 Prozent. Die rechtskonservativen Schwedendemokraten landeten knapp hinter den Grünen als viertstärkste Kraft mit 13,2 Prozent – ein Verlust von 2,1 Prozent verglichen mit der Wahl vor fünf Jahren.

In Dänemark wurde die Sozialistische Volkspartei mit einem Stimmenanteil von 18,4 Prozent stärkste Kraft; sie erreichte 5,2 Prozentpunkte mehr als 2019. Die regierenden Sozialdemokraten errangen nur 15,4 Prozent. Die liberale Venstre-Partei, bei der Wahl 2019 noch stärkste Partei, verlor knapp 9,4 Prozent und liegt hinter der Sozialistischen Volkspartei und den Sozialdemokraten auf dem dritten Platz. Die dänischen Rechtspopulisten der DF erreichten 6,4 Prozent und verloren somit mehr als vier Prozentpunkte. Im rechten Spektrum sicherten sich außerdem die erst 2022 gegründeten Dänemarkdemokraten aus dem Stand 7,4 Prozent.

„Macron ist verrückt“: Riskanter Schritt öffnet Le Pen den Weg zur Machtübernahme

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Europäische Migrationspolitik: Braucht es ein Umdenken?

13.08.2023

Die Verschiebungen zeigen, dass die europäischen Wähler weniger von festen, ideologischen Denkmustern beherrscht werden als von der Suche nach pragmatischen Lösungen. Beispiel Dänemark: Dort favorisieren auch die Mitte-links-Parteien eine restriktive Einwanderungspolitik, was Umfragen zufolge bei einer Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung stößt. In Schweden und Finnland wiederum steht die unzweideutige Sicherheitspolitik der Regierung hoch im Kurs – Verteidigungsbereitschaft und die Mitgliedschaft im westlichen Bündnis.

Die langfristigen Trends sind unübersehbar. Was fälschlicherweise „Rechtsruck“ genannt wird, ist in Wirklichkeit eine Pendelverschiebung vom Mitte-links-Fokus der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte zu einem Mitte-rechts-Fokus der mittelfristigen Zukunft. Das belegt nachhaltig die neue Offenheit der Jugendkohorte für „rechte“ Positionen – solche Generationenphänomene sind keine Modeerscheinungen.

Nicht ohne Grund werden die deutschen Grünen, die diesen Trend völlig verschlafen haben, derzeit für ihre ideologische Borniertheit abgestraft. Aber auch die AfD wird sich, wenn sie politische Relevanz anstrebt, entscheiden müssen: zwischen der reinen rechten Lehre und dem Anschluss an die pragmatische Mitte. Die „Melonisierung“ der europäischen Rechten steht erst am Anfang, und sie wird aller Voraussicht nach erfolgreich sein.

QOSHE - Wahlergebnisse in den EU-Ländern: Weder Rechtsruck noch Polarisierung - Thomas Fasbender
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Wahlergebnisse in den EU-Ländern: Weder Rechtsruck noch Polarisierung

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11.06.2024

Auch wenn seit den EU-Wahlen am Wochenende ein „Rechtsruck“ in Europa beklagt wird – die Realität verdient eine differenzierte Betrachtung. So fallen die nur geringfügigen Veränderungen bei der Sitzverteilung im Parlament ins Auge – sollte es wirklich maßgebliche politische Verschiebungen geben, sind sie eher unterschwellig als offensichtlich.

Die Zentristen, also die Europäische Volkspartei EVP und die Fraktion der Sozialisten und Demokraten, konnten ihren Stimmenanteil bei minimaler Verschiebung zugunsten der EVP im Wesentlichen halten. Bei der linken Fraktion gab es geringe, bei den Grünen deutliche Verluste – verursacht nicht zuletzt durch das schwache Abschneiden der Grünen in Deutschland und Frankreich.

Doch auch im rechten Lager wachsen die Bäume nicht in den Himmel, jedenfalls nicht über alle 27 Mitgliedsländer hinweg. Die etablierten rechten Fraktionen EKR ( 0,3 Prozent) und ID ( 1,1 Prozent) haben nur leicht zugelegt. Hinzu kommen gut sechs Prozent Fraktionslose, darunter die von der ID ausgestoßenen AfD-Abgeordneten. Außerdem sind da 7,5 Prozent neu gewählte Abgeordnete, deren künftige Fraktionszugehörigkeit sich erst herausstellen muss.

Während der vermeintliche „Rechtsruck“ insgesamt eher ein Stimmungsbild widerspiegelt als reales Wählerverhalten, gibt es durchaus Verschiebungen innerhalb des rechten Lagers. Am augenfälligsten sind sie in Italien, wo die postfaschistischen (was immer das sein soll) Fratelli d’Italia der Ministerpräsidentin Georgia Meloni dem Koalitionspartner Lega ganze 14 EP-Sitze abgenommen haben.

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Melonis Triumph ist auch darin begründet, dass sie seit ihrem Regierungsantritt 2022 in mancherlei Hinsicht an den europäischen Mainstream........

© Berliner Zeitung


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