Es steht sich äußerst unbequem: Die eiserne Mensurbrille schmerzhaft stramm um den Kopf gegürtet, eine feste Bandage um den Hals wie ein Schraubstock, vom Brustbein bis zum Unterkiefer und den Ohrläppchen. Der Oberkörper steckt in einem Kettenhemd, Arm und Fechthand in einem dickledernen Stulp. Die Fechthand hält den Schläger, die Fechtwaffe, hoch über dem Kopf. Die freie Hand hinter dem Rücken hält sich am Gürtel fest.

Nur schemenhaft erkennt man den Gegner, Gegenpaukant genannt, jenseits der vergitterten Brille. Gleichermaßen „eingepellt“ steht er kaum mehr als einen Meter entfernt. Kalter Schweiß rinnt das Rückgrat hinab, Angst und Aufregung jagen den Puls.

Kein Extremsport ist ähnlich umstritten wie das studentische Fechten. Und doch ist der Sprung aus vier Kilometern Höhe allein im Vertrauen darauf, dass der Fallschirm sich öffnen wird, nicht weniger herausfordernd als die Entscheidung, einem Gegner mit rasiermesserscharfer Klinge den größtenteils ungeschützten Kopf darzubieten. Wer beides durchgemacht hat, versteht die Reaktion seiner Mitmenschen: ein Wahnsinn, so was hätten sie nicht nötig.

Sie haben recht, die Mitmenschen. Nötig hat das niemand. Darin liegt der Reiz extremer Bewährung – die im Fall des studentischen Fechtens auch noch weitgehend folgenlos bleibt. Verglichen etwa mit dem Fallschirmsport ist die Zahl schwerer Verwundungen oder gar Todesfälle fast infinitesimal klein.

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Am Wochenende konnte man dem studentischen Fechten in Berlin nachspüren. Anlass war ein Ereignis von historischer Dimension. Mehr als 300 Spektanten, auf Deutsch Zuschauer, hatten sich schon morgens in einer Lankwitzer Lagerhalle versammelt. Die Anschrift war erst in der Nacht zuvor bekannt gegeben worden – aus Angst vor der Antifa? Berlin ist No-Go für Korporierte; an den Universitäten ist das Tragen von Couleur, den Verbindungsfarben, sogar offiziell verboten.

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17.03.2024

•vor 4 Std.

Die meisten Verbindungsstudenten – nicht alle gehören sogenannten schlagenden Bünden an – beenden ihr Studium mit einer einstelligen Zahl an Partien, den Begegnungen mit scharfer Klinge (eine Partie über 30 Gänge mit mehreren Hieben). Noch im 19. Jahrhundert waren Studenten mit 20 und mehr Partien keine Seltenheit. Damals galt die studentische Satisfaktion; wer auf sich gab, setzte für Ehre und Renommee auch den eigenen Leib aufs Spiel. Manche taten (und tun) es auch aus Spaß an der Freud. Um 1840 bezeugte ein Heidelberger Paukarzt – schon damals war die Anwesenheit eines Mediziners obligatorisch – für die 24 Jahre seines Wirkens 20.000 Partien.

Doch was am vergangenen Samstag in Berlin geschah, stellte selbst das 19. Jahrhundert in den Schatten. Eine 100. Partie – das hat es seit Menschengedenken nicht gegeben. Legendäre Namen werden gehandelt, die meisten noch im 18. Jahrhundert geboren, doch verglichen mit Alexander Kliesch sind es ferne Erinnerungen aus dem Schattenreich.

Kliesch ist 62 Jahre alt und real. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung posierte er schon 2013 im Kettenhemd mit seinen vier farbigen Bändern, den Symbolen der Zugehörigkeit zu vier Bünden. Maßgebend ist der Mutterbund, die erste erfochtene Identität. In Klieschs Fall ist es die Berliner Landsmannschaft Brandenburg. Dass er der berühmteste lebende Brandenburger ist, versteht sich von selbst. Vor elf Jahren kam er auf 66 Partien.

Mit Studentenverbindungen sei es „heute ein bisschen so wie mit Bibelgruppen oder Schützenvereinen“, schrieb der SZ-Journalist damals, „Menschen, die darin engagiert sind, gelten bestenfalls als schräg“. Ob man die am Samstag in Lankwitz Versammelten als „schräg“ bezeichnen würde – einige gewiss.

Es ist eine Subkultur von erstaunlicher Diversität. Was sie verbindet, ist das männliche Geschlecht, die Liebe zum Bier und das verschiedenfarbige Band quer über Brust und Schulter. Bei den Kopfbedeckungen (die Wenigsten erscheinen barhäuptig) beginnen die Unterschiede. Beim Kleidungsstil tut sich dann echte Vielfalt auf. Da sind die Österreicher mit ihren Lederhosen und Kniestrümpfen, dazwischen wilde Gesellen, schwarz gekleidet mit langen Haaren und Bärten, wieder anderen thront ein gezwirbelter Schnauzer unter der Nase. Unübersehbar auch die Snobs mit ihren Barbour-Jacken, roten Cordhosen und Bootsschuhen von Timberland. Die Anzugsfraktion repräsentiert mit dunklem Binder und gezogenem Scheitel.

Verglichen damit wirkt eine Pro-Demokratie-Demo der Ampelanhänger geradezu uniform. Und überhaupt: Zu glauben, schlagende Verbindungsstudenten wählten unisono AfD, wäre so ahnungslos wie zu glauben, alle 18-Jährigen seien Grünen-Anhänger. Partien-Jubilar Kliesch bekannte der Süddeutschen Zeitung, SPD-Mitglied zu sein. Offensichtlich gibt es da Affinitäten – was den Parteioberen gar nicht schmeckt. Schon 2005 hat der SPD-Bundesparteitag die Mitgliedschaft in einer studentischen Burschenschaft oder in einem der ohnehin unpolitischen Corps „grundsätzlich für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD“ erklärt.

2012 wurde der Berliner CDU-Staatssekretär und Neuköllner Kreisvorsitzende Michael Büge gezwungen, sich zwischen Amt und Bund zu entscheiden. Er war Mitglied der Zehlendorfer Burschenschaft Gothia, die dem als politisch weit rechts geltenden Dachverband Deutsche Burschenschaft (DB) angehört. Dem damals 47-jährigen Büge wurde ein Ultimatum gestellt; er entschied sich für seine Burschenschaft.

Die leuchtend orangen Mützen der „Goten“ sind bei der Veranstaltung in Lankwitz, Mensurboden genannt, unübersehbar. Die vierte Partie des Tages ficht einer der Ihren, Bundesbruder B***. Es ist seine insgesamt vierte, und sie ist als Tiefpartie annonciert. Das bedeutet: die Hiebe werden auch seitlich gegen den Kopf geführt, nicht nur dorthin, wo der Haarwuchs zumindest einige Jahrzehnte lang die Narben bedeckt.

Der vernarbte „Schmiss“ – am besten sichtbar quer über die Wange gezogen – galt bis zum Zweiten Weltkrieg als Ausweis wahrer Männlichkeit. Manche legten Pferdehaare in die frische Wunde, damit sie nicht sauber und unsichtbar verheilt. Noch aus der Weimarer Zeit wird berichtet, dass Verbindungsstudenten, die trotz mehrerer Partien keinen geeigneten Treffer einfingen, heimlich einen Arzt beauftragten.

Erst vor wenigen Tagen meldete das Neue Deutschland, dass einige der Berliner DB-Burschenschaften vom Verfassungsschutz beobachtet würden. Angeblich akzeptiert der Dachverband keine Deutschen mit Migrationshintergrund. Das gilt aber nicht für alle in Lankwitz vertretenen Verbindungen. Die Vielfalt der Herkünfte ist unübersehbar. Wenn man die Qualität des studentischen Fechters daran misst, wie unbewegt er die gegnerischen Hiebe empfängt, steht ein Paukant mit offensichtlich afrikanischem Hintergrund, ebenfalls ein Brandenburger, von allen am besten.

Auch aus Polen sind Zuschauer anwesend, Mitglieder der Warschauer Korporacja Akademicka Sarmatia, 1908 in Sankt Petersburg gegründet, unter dem Kommunismus verboten und 1992 in Warschau reaktiviert. 41 Sarmaten fielen im Krieg gegen Deutschland, neun weitere gehörten zu den Opfern der Massaker der Roten Armee in Katyn.

Den Autoritäten in Staat und Universität sind die Verbindungen seit dem Mittelalter ein Dorn im Auge. Staatstragend wirkten sie nur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik; unter den Nazis wurden sie wie alle unabhängigen Vereinigungen verboten. Die übrige Zeit war man den Verbindungen gegenüber ähnlich eingestellt wie heute – als Geheimbünde und politisch latent unzuverlässig gelten sie dem „vernünftigen Bürger“ als suspekt. Die geheimdienstliche Aufmerksamkeit steht also in bester Tradition.

Ob der Verfassungsschutz in Lankwitz zur Stelle war? Wenn, dann hat es die Stimmung nicht getrübt. Zehn ganze Stunden vergingen, bis es am Abend zum Höhepunkt kommt: der Brandenburger Kliesch gegen Hass, Landsmannschaft Vittebergia-Halle. Zwei Männer in den besten Jahren, der eine in seiner 100., der andere in seiner 61. Partie. Beide stehen sie wie eine Eins; selbst die Jungen nicken voll Hochachtung. Am Ende rinnen einige Fäden Blut über Klieschs linke Schläfe, doch da oben spürt er schon lange nichts mehr.

Jeder in der schmucklosen Lagerhalle weiß: So etwas kommt zu Lebzeiten nicht wieder, nicht in Lankwitz und nicht anderswo. Wie bei einer Hochzeit im Clanmilieu feiert eine Subkultur sich selbst. Gerade weil der Stolz, dabei zu sein, so unzeitgemäß ist, gerade weil fließt, was doch, ach!, nicht vergossen werden darf – warmes, rotes Blut –, brennt sich das Erlebte ins Gedächtnis ein. Der Anachronismus „schlagender Student“ bewährt sich als Relikt höchst unvernünftiger Romantik in einem Jahrhundert kalter Ratio und Künstlicher Intelligenz.

QOSHE - Schlagende Verbindungen: Blutige Zweikämpfe locken Hunderte nach Berlin - Thomas Fasbender
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Schlagende Verbindungen: Blutige Zweikämpfe locken Hunderte nach Berlin

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19.03.2024

Es steht sich äußerst unbequem: Die eiserne Mensurbrille schmerzhaft stramm um den Kopf gegürtet, eine feste Bandage um den Hals wie ein Schraubstock, vom Brustbein bis zum Unterkiefer und den Ohrläppchen. Der Oberkörper steckt in einem Kettenhemd, Arm und Fechthand in einem dickledernen Stulp. Die Fechthand hält den Schläger, die Fechtwaffe, hoch über dem Kopf. Die freie Hand hinter dem Rücken hält sich am Gürtel fest.

Nur schemenhaft erkennt man den Gegner, Gegenpaukant genannt, jenseits der vergitterten Brille. Gleichermaßen „eingepellt“ steht er kaum mehr als einen Meter entfernt. Kalter Schweiß rinnt das Rückgrat hinab, Angst und Aufregung jagen den Puls.

Kein Extremsport ist ähnlich umstritten wie das studentische Fechten. Und doch ist der Sprung aus vier Kilometern Höhe allein im Vertrauen darauf, dass der Fallschirm sich öffnen wird, nicht weniger herausfordernd als die Entscheidung, einem Gegner mit rasiermesserscharfer Klinge den größtenteils ungeschützten Kopf darzubieten. Wer beides durchgemacht hat, versteht die Reaktion seiner Mitmenschen: ein Wahnsinn, so was hätten sie nicht nötig.

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Am Wochenende konnte man dem studentischen Fechten in Berlin nachspüren. Anlass war ein Ereignis von historischer Dimension. Mehr als 300 Spektanten, auf Deutsch Zuschauer, hatten sich schon morgens in einer Lankwitzer Lagerhalle versammelt. Die Anschrift war erst in der Nacht zuvor bekannt gegeben worden – aus Angst vor der Antifa? Berlin ist No-Go für Korporierte; an den Universitäten ist das Tragen von Couleur, den Verbindungsfarben, sogar offiziell verboten.

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Die meisten Verbindungsstudenten – nicht alle........

© Berliner Zeitung


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