Im 21. Jahrhundert benötigen auch Diktaturen ein Mehrheitsmandat. Ganz ohne Unterstützung des Demos, des Staatsvolks, lassen sich vielleicht Sklavenstaaten wie Nordkorea regieren. Doch davon ist Russland weit entfernt. Das erklärt die vielen Umfragen, die der Kreml seit Jelzins Tagen in Auftrag gibt – man ist an den echten Zahlen, den echten Stimmungen interessiert. Und es erklärt die annähernd totale Mobilmachung der politischen Willensbildung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Wobei es zwei Ziele gibt: Erstens, das Volk soll seine Zufriedenheit bestätigen, und zweitens, es soll sie eindrücklich bestätigen.

Beide Ziele werden erreicht, wenn die reale Wahlbeteiligung und die realen Ergebnisse reale Zufriedenheit bezeugen – und wenn die reale Zufriedenheit durch, sagen wir, administratives Aufhübschen, zu einer eindrücklich bestätigten wird. Anders ausgedrückt: Ein Wahlergebnis von fast 50 Prozent, aus dem dann 87 Prozent werden, wäre Stümperei und blamabel. Hingegen reale 58 Prozent, die sich, nur als Beispiel, in 73 Prozent verwandeln – damit lässt sich schon was machen.

Opponierende Minderheiten, die sich dem System nicht nur verweigern, sondern es bloßstellen und karikieren, stören da nur. Dabei sah das ursprüngliche Konzept der „lenkbaren Demokratie“ neben einer mehrheitsbeschaffenden Kremlpartei auch eine liberale, prowestliche Opposition vor. Mit Putins „autoritärer Wende“ nach 2012 war damit bald Schluss.

2024 steht Putin erstmals vor der Situation, dass er eine schweigende Mehrheit gegen sich hat. Die russische Bevölkerung will ein Ende seines Ukraine-Kriegs. Natürlich hängt es davon ab, wie man die Frage formuliert. Nicht ohne Grund wiederholt die TV-Propaganda wie in einer Schleife: „Wollt ihr euch dem Westen unterwerfen?“ Die Antwort darauf ist offenkundig und mehrheitlich Nein.

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Würde man hingegen fragen: „Wir haben die Krim und den Donbass. Was wollt ihr noch?“ – die Antwort wäre: Frieden. Deshalb durfte Boris Nadeschdin nicht antreten, der Oppositionskandidat, der den Krieg beenden will. Als Kandidat wäre er zum Kondensationskeim der Friedenssehnsucht geworden. Ein zweistelliges Ergebnis hätte er locker heimgeholt, möglicherweise eines über 20 Prozent.

Die Verzweiflungsakte einzelner Putin-Gegner – Tinte in Wahlurnen, Molotowcocktails, entflammte Wahlkabinen – bestätigen zwar dem Westen, was er von der russischen Demokratie zu halten hat. Im Land selbst beeindruckt das jedoch die Wenigsten. Die Menschen kennen ihr politisches System seit mehr als zwei Jahrzehnten, und die Menschen sind nicht dumm.

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Der Kreml wird auch wissen, dass es ihm bei aller Repression nicht gelingen wird, solche Aktionen wirksam einzudämmen. Russland ist immer auch gelebte Anarchie, nicht annähernd so diszipliniert wie China oder wie Deutschland zur Corona-Zeit. Umso dankbarer kann Putin den Ukrainern sein, dass sie vor und während der Wahltage russisches Territorium angreifen, etwa im Gebiet Belgorod. Nichts schweißt Russland ähnlich fest zusammen wie ein äußerer Feind – und dann noch einer, den die USA unterstützen.

Anders sieht es mit der Friedenshoffnung aus. Ihre Unterdrückung in Politik und Öffentlichkeit könnte Putin gefährlicher werden als alle Exil-Oppositionellen zusammen. Noch kann er Beistand und Schweigen erkaufen. Freiwillige kassieren hohe Einstandsprämien und Hinterbliebene zehntausende Euro Entschädigung für den gefallenen Sohn, Vater oder Ehemann. Doch das Murren wird lauter.

Wie es heißt, hat man dem Präsidenten ein Wahlergebnis von 81 Prozent versprochen. Was immer es wird, alle wissen, wie es zustande kommt. Siehe oben. Damit beginnt seine fünfte Amtszeit, sechs Jahre bis 2030. Noch setzt er auf Krieg, bereitet möglicherweise eine Offensive vor. Krieg ist aber kein Rezept für alle Zeiten. Und gegen das eigene Volk hat noch kein russischer Herrscher lange regiert.

QOSHE - Putins Wahlsieg steht außer Frage – aber das Volk will ein Ende des Krieges - Thomas Fasbender
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Putins Wahlsieg steht außer Frage – aber das Volk will ein Ende des Krieges

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17.03.2024

Im 21. Jahrhundert benötigen auch Diktaturen ein Mehrheitsmandat. Ganz ohne Unterstützung des Demos, des Staatsvolks, lassen sich vielleicht Sklavenstaaten wie Nordkorea regieren. Doch davon ist Russland weit entfernt. Das erklärt die vielen Umfragen, die der Kreml seit Jelzins Tagen in Auftrag gibt – man ist an den echten Zahlen, den echten Stimmungen interessiert. Und es erklärt die annähernd totale Mobilmachung der politischen Willensbildung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Wobei es zwei Ziele gibt: Erstens, das Volk soll seine Zufriedenheit bestätigen, und zweitens, es soll sie eindrücklich bestätigen.

Beide Ziele werden erreicht, wenn die reale Wahlbeteiligung und die realen Ergebnisse reale Zufriedenheit bezeugen – und wenn die reale Zufriedenheit durch, sagen wir, administratives Aufhübschen, zu einer eindrücklich bestätigten wird. Anders ausgedrückt: Ein Wahlergebnis von fast 50 Prozent, aus dem dann 87 Prozent werden, wäre Stümperei und blamabel. Hingegen reale 58 Prozent, die sich, nur als........

© Berliner Zeitung


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