Ein dreiminütiges Video auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg gab den Ton vor, unmittelbar vor Wladimir Putins zentraler Forumsrede am Freitag. Es illustrierte das neue – offizielle – Moskauer Selbstverständnis: tausend Jahre erfolgreicher russischer Widerstand gegen europäische Kolonisatoren, Ausbeuter und Eroberer, von den Deutschordensrittern über Napoleon und Hitler bis zum US-Dollar und den westlichen Werten.

Vor 25 Jahren noch frischgebackenes, stolzes Mitglied der führenden westlichen Industrieländer G8, präsentiert Russland sich heute unverrückbar an der Seite des globalen Südens. Man kann das als Laune des späten Putin abtun, als ein Russland auf Abwegen, das unter einer neuen Politikergeneration auf den Pfad des europäischen Fortschritts zurückfinden wird – oder als Phänomen einer nachhaltigen Entfremdung.

Jedenfalls führt Russland Krieg im Zeichen der russisch-westlichen Konfrontation, so das geltende Narrativ. Der globale Süden, um den die Moskauer Politiker so offensichtlich buhlen, verweigert sich auch nicht – oder gibt bestenfalls vor, es zu tun. In Asien, Afrika und Lateinamerika sieht man den Ukraine-Krieg als internen europäischen Konflikt. (Fast) niemand will es sich mit den USA verderben, doch das Sprichwort „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ hat an Gültigkeit nichts eingebüßt.

Insgesamt waren 130 Länder in St. Petersburg vertreten. Daher war es auch ein eurozentrischer Selbstbetrug, dass die englischsprachige „Moscow Times“ titelte: „Taliban, Brics und Familienwerte: Wirtschaftsforum macht Russlands Isolation offenkundig“. Auf die Taliban (eine Delegation aus Kabul ist nach St. Petersburg gekommen) mag das Wort „isoliert“ noch zutreffen, auf die Brics und die Vertreter von Familienwerten nicht. Die neun Brics-Staaten repräsentieren 45 Prozent der Weltbevölkerung und rund 35 Prozent der kaufkraftbereinigten Weltwirtschaftsleistung.

•gestern

•gestern

•gestern

Für Russland war das Forum auch eine Art Generalprobe vor dem Brics-Gipfel im Oktober in der Wolgastadt Kasan. Doch der westliche Einfluss reicht weit und, wie gesagt, niemand will es sich mit den USA verscherzen. So gaben nur zwei Staatschefs Putin in Petersburg die Ehre, der bolivianische Präsident Luis Alberto Arce Catacora und der Präsident Simbabwes, Emmerson Mnangagwa.

Das ZDF in den Händen Putins: Chronik einer Zermürbung

vor 5 Std.

Politiker entscheiden opportunistisch, wägen die wahrscheinlichen Kosten und den möglichen Gewinn. Die Zurückhaltung zeigt auch, dass niemand weiß, wie der Krieg enden wird. Ein Triumph der „Freien Welt“, ein Rückzug der geschlagenen russischen Armee, ein neues Regime in Moskau – das Ausland muss mit allen Szenarien rechnen.

Ohne Frage war die weitgehende Abwesenheit westlicher Vertreter beim 27. Petersburger Wirtschaftsforum unübersehbar. Vor 2022 bildeten Politiker, Unternehmer und Manager aus Europa und den USA das Gros der Tausende von Teilnehmern – erst recht in den Anfangsjahren bis etwa 2012, dem Zenit des westlich-russischen Wirtschaftsaustauschs.

Die Frage ist: Wird der Westen vermisst? Oder entstehen neue Strukturen, neue ökonomische Netzwerke, die kaum merklich die alten ersetzen – getrieben vom Krieg, von den westlichen Sanktionen und dem De-Coupling und De-Risking der westlichen Politiker?

Es ist diese Entwicklung, auf die der russische Präsident ganz offenkundig setzt. Siegessicher und selbstbewusst gibt er sich kampfbereit; den Westen sieht er als großen Verlierer. Und er weiß, wie man strategische Ambiguität aufrechterhält. Einen Anlass für den Einsatz von Nuklearwaffen sehe er für sein Land nicht: „Wir haben keine Notwendigkeit, über das Thema nachzudenken.“ Aber eben auch: Die russische Nukleardoktrin sei ein „lebendiges Instrument“, das sich entsprechend der Lage ändern könne.

Wollte er sich bewusst vom Moderator absetzen – dem Doyen der russischen Politikwissenschaft, Sergej Karaganow? Der als „Eurasier“ bekannte Experte wirbt für einen präventiven Atomschlag mit dem Ziel, die Abschreckung Richtung Westen wiederzubeleben. Auch bei der Veranstaltung am Freitag versuchte er, den Kremlchef darauf festzulegen.

Dafür säte Putin Zweifel am amerikanischen Atomschirm für die europäischen Verbündeten. Die USA würden sich, als Antwort auf russische Zweitschläge gegen Europa, kaum auf einen strategischen Atomkrieg einlassen. Putin wiederholte auch die Drohung, als Reaktion auf den Einsatz westlicher Waffen gegen russisches Territorium im Ukraine-Krieg russische Waffen an Gegner des Westens zu liefern.

Immer wieder propagierte der 71-Jährige den Aufbau einer neuen Weltordnung – ohne Hegemon und ohne Vormachtstellung der USA. Das Ziel spiegelte sich auch im Motto der Veranstaltung: „Grundlagen der multipolaren Welt – neue Wachstumsnischen bilden.“ Mit sichtlicher Genugtuung zitierte Putin eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Weltbank-Studie, derzufolge die russische Wirtschaft im vergangenen Jahr sowohl Japan als auch Deutschland überholt hat. Kaufkraftbereinigt rangiert das russische Bruttoinlandsprodukt demnach an vierter Stelle hinter China, den USA und Indien.

Auch die Wachstumszahlen legitimieren die gute Laune der in St. Petersburg aufmarschierten russischen Politik- und Wirtschaftselite. Während Deutschland nicht mehr als eine schwarze Null zu erwarten hat (Putin vergaß nicht, das zu erwähnen), liegt das russische Wachstumspotential 2024 bei drei Prozent. Im ersten Quartal waren es demnach 5,4 Prozent.

Wachstumstreiber sind eindeutig die Rüstungsindustrie und der Krieg. 38,6 Prozent des Staatshaushalts – acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts – entfallen auf die Bereiche nationale Sicherheit und Sicherheitsorgane. Erstmals gibt der russische Staat für die innere und äußere Sicherheit mehr Geld aus als für Soziales.

Ungeachtet der politischen Spannungen waren auch solche Europäer und Amerikaner an die Newa gekommen, die bewusst ein Zeichen für Verständigung und Austausch setzen wollten. Bei Veranstaltungen traten der deutsche Dirigent und Pianist Justus Frantz, der Dokumentarfilmer und Publizist Hubert Seipel und die frühere österreichische Außenministerin Karin Kneissl auf. Frantz und Seipel warben mit der Formel „Kultur statt Waffen“ für Kontakte auch in Krisenzeiten.

Deutsche Waffen gegen Russland: Wer stoppt uns?

01.06.2024

Ukraine-Krieg trifft Ostdeutschland: „Hier läuft etwas aus dem Ruder“

28.05.2024

Kneissl, die seit 2023 in St. Petersburg lebt und auf dem Forum ihr Buch „Requiem für Europa“ präsentierte, meinte bei einer Diskussionsrunde unter dem Titel „‘Das Imperium des Bösen‘: Hat der Westen Russland erfolgreich dämonisiert?“: Sie sei froh, mit ihrem Leben in Russland eine neue Chance zu haben. Europa habe seine Seele verloren. Drei Amerikaner beklagten, die Menschen in den USA würden zu Russlandhassern erzogen. Aus den USA zugeschaltet war der frühere US-Offizier Scott Ritter. Er erzählte, dass er zum Töten von Russen ausgebildet worden sei – nun aber gegen Russophobie kämpfen wolle.

Der deutsche Unternehmer Alexander von Bismarck bedauerte, dass der einst von Putin und Gerhard Schröder ins Leben gerufene Petersburger Dialog zur Verständigung von Russen und Deutschen aufgelöst wurde. Er warb dagegen für seinen „Bismarck-Dialog“ – und plädierte für eine Wiederannäherung trotz Krieg. Russland solle visafreies Reisen für junge Europäer einführen, damit sie sich selbst ein Bild machen könnten, regte er an.

QOSHE - Putin buhlt um den globalen Süden: Alles für die multipolare Weltordnung - Thomas Fasbender
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Putin buhlt um den globalen Süden: Alles für die multipolare Weltordnung

11 1
08.06.2024

Ein dreiminütiges Video auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg gab den Ton vor, unmittelbar vor Wladimir Putins zentraler Forumsrede am Freitag. Es illustrierte das neue – offizielle – Moskauer Selbstverständnis: tausend Jahre erfolgreicher russischer Widerstand gegen europäische Kolonisatoren, Ausbeuter und Eroberer, von den Deutschordensrittern über Napoleon und Hitler bis zum US-Dollar und den westlichen Werten.

Vor 25 Jahren noch frischgebackenes, stolzes Mitglied der führenden westlichen Industrieländer G8, präsentiert Russland sich heute unverrückbar an der Seite des globalen Südens. Man kann das als Laune des späten Putin abtun, als ein Russland auf Abwegen, das unter einer neuen Politikergeneration auf den Pfad des europäischen Fortschritts zurückfinden wird – oder als Phänomen einer nachhaltigen Entfremdung.

Jedenfalls führt Russland Krieg im Zeichen der russisch-westlichen Konfrontation, so das geltende Narrativ. Der globale Süden, um den die Moskauer Politiker so offensichtlich buhlen, verweigert sich auch nicht – oder gibt bestenfalls vor, es zu tun. In Asien, Afrika und Lateinamerika sieht man den Ukraine-Krieg als internen europäischen Konflikt. (Fast) niemand will es sich mit den USA verderben, doch das Sprichwort „Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ hat an Gültigkeit nichts eingebüßt.

Insgesamt waren 130 Länder in St. Petersburg vertreten. Daher war es auch ein eurozentrischer Selbstbetrug, dass die englischsprachige „Moscow Times“ titelte: „Taliban, Brics und Familienwerte: Wirtschaftsforum macht Russlands Isolation offenkundig“. Auf die Taliban (eine Delegation aus Kabul ist nach St. Petersburg gekommen) mag das Wort „isoliert“ noch zutreffen, auf die Brics und die Vertreter von........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play