Es wird Zufall sein – am diesjährigen Internationalen Frauentag beginnt in der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku eine Veranstaltung, die sich der Diskriminierung von Muslimen widmet – die zweite „Internationale Konferenz zur Islamophobie“. Doch der Zufall bietet auch Assoziationen. Kongresse zum Thema Christenverfolgung gibt es seit langem. Da ist es ein Indiz wachsenden Selbstbewusstseins, wenn die muslimische Welt thematisiert, dass sie seitens anderer Kulturen, Religionen und Weltanschauungen auch Abneigung begegnet.

Der Frauentag passt dazu, weil es Parallelitäten gibt: konkret in der Erfahrung gläserner Decken und Wände durch Muslime in der nicht-islamischen und durch Frauen in der patriarchalischen Welt. Hinzu kommt, dass Frauen im Islam das gleich doppelt erfahren. Da ist zum einen die Macht der innerislamischen Ausgrenzung– verglichen damit ist das europäische Patriarchat aus biegsamem Rohr geflochten. Und da ist etwas anderes, nämlich die Frage, inwieweit man unser europäisches Modell der Überwindung solcher Strukturen – individuelle Rechte und Freiheiten, Selbstverwirklichung – außerhalb der westlich-europäischen Gesellschaften schließlich rezipiert.

Eins steht außer Frage. Die Globalisierung hat die Produktionsverhältnisse weltweit grundlegend verändert. „Objektive“ Gründe für eine Arbeitsteilung der Geschlechter sind hinfällig geworden, etwa Muskelkraft oder Kinderaufzucht. Industrialisierung, Urbanisierung, das Ende der Großfamilie, sinkende Geburtenzahlen (einzige Ausnahme noch: Subsahara-Afrika) – rund um den Globus werden soziale Rollen neu verhandelt und neu definiert, einschließlich der sogenannten Genderrollen.

Das bedeutet als Erstes, dass sich starke und intelligente Frauen unabhängig von ihrem ethnischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund auf den Weg machen und tradierte Rollenbilder hinterfragen. Die Diskussion wird geführt, und das quer durch alle Länder, in Demokratien wie in Autokratien, sogar in den wenigen Gottesstaaten. Im Iran und in Saudi-Arabien ist sie nicht weniger lebendig als in China, Kanada oder Nigeria. Und überall wird sie auf partikulare, auf eigene Weise geführt, mit eigenen Schwerpunkten und eigenen Erwartungen.

Man sollte das vor Augen haben, wenn man den Frauentag seiner Internationalität wegen preist. Ein in Deutschland beliebter Fehler, wenn es um das fortschrittliche Denken geht, ist nämlich die frohlockende Gewissheit „Heißa, jetzt wollen endlich alle so werden, wie wir schon sind.“

06.03.2024

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Internationaler Frauentag: Euer selektiver Feminismus widert mich an!

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Frauen ohne Grundrecht: Was die Bundesrepublik von Frankreich – und der DDR – lernen muss

vor 2 Std.

Die Islamophobie-Konferenz in Baku behandelt das Thema auf ihrer Abschlussveranstaltung: „Die Matrix der geschlechtsspezifischen Islamophobie: Repression und Widerstand muslimischer Frauen, Geschlecht und Gesellschaft“. Nun ist es nichts Neues: Solche Konferenzen dienen dem Verankern von Narrativen, der Usurpation von Deutungshoheit. Ganz sicher geht es den Programmgestaltern nicht um innerislamische Repressionserfahrungen. Das Ziel ist schließlich, dem europäischen Emanzipations- und Befreiungsmythos einen eigenen gegenüberzustellen, ihn zumindest anhand von Heuchelei und Doppelmoral zu entlarven.

Dazu gehören die Einschränkungen beim Tragen religiöser Symbole, etwa des Kopftuchs. Auch westliche Menschenrechtler distanzieren sich davon. Die Universitäts-Vereinigung Global Campus of Human Rights schreibt, solche Einschränkungen behinderten „nicht nur das Recht muslimischer Frauen, ihren Glauben und ihre Identität zum Ausdruck zu bringen, sondern schränken auch ihren Zugang zu anderen Menschenrechten ein“, etwa dem Recht auf Arbeit, Bildung oder gesellschaftliche Teilhabe.

Die Kritik zielt vernehmbar Richtung Frankreich, wo Verschleierung und Kopftuch besonders reglementiert sind. Doch andere Länder sind nicht minder gemeint. Die ganze Diskussion zeigt: Der neue Wettbewerb der Narrative, Systeme und Ideen, maßgeblich ausgelöst durch den europäischen Bedeutungsverlust, ist in vollem Gang. Wer ihn als Desinformation oder hybride Kriegsführung dunkler Mächte abtut, offenbart sich als Parteigänger des eurozentrischen Universalismus. Das ist nur ehrenwert, schließlich reden wir über die Ablösung einer jahrhundertelang vorherrschenden Denktradition von höchstem Verdienst.

Zu der epochalen Zeitenwende, in die wir eintreten, gehört die Neuverhandlung der Geschlechterrollen. Daher geht es am Frauentag auch um viel mehr als um Frauenrechte. Damit begann es, vor hundert Jahren und mehr. Inzwischen leben wir in der post-industriellen, post-globalisierten Ära. Die wiederum rüttelt an den Grundfesten aller traditionellen Welt- und Lebensbilder, auch der islamischen. Die globale Auseinandersetzung der Geschlechter, sei sie nun im Einzelnen konstruktiv oder destruktiv, ist nur ein Teil davon.

QOSHE - Post-industrielle, post-globale Welt: Keine Tradition, kein Lebensbild bleibt ungeprüft - Thomas Fasbender
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Post-industrielle, post-globale Welt: Keine Tradition, kein Lebensbild bleibt ungeprüft

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08.03.2024

Es wird Zufall sein – am diesjährigen Internationalen Frauentag beginnt in der aserbeidschanischen Hauptstadt Baku eine Veranstaltung, die sich der Diskriminierung von Muslimen widmet – die zweite „Internationale Konferenz zur Islamophobie“. Doch der Zufall bietet auch Assoziationen. Kongresse zum Thema Christenverfolgung gibt es seit langem. Da ist es ein Indiz wachsenden Selbstbewusstseins, wenn die muslimische Welt thematisiert, dass sie seitens anderer Kulturen, Religionen und Weltanschauungen auch Abneigung begegnet.

Der Frauentag passt dazu, weil es Parallelitäten gibt: konkret in der Erfahrung gläserner Decken und Wände durch Muslime in der nicht-islamischen und durch Frauen in der patriarchalischen Welt. Hinzu kommt, dass Frauen im Islam das gleich doppelt erfahren. Da ist zum einen die Macht der innerislamischen Ausgrenzung– verglichen damit ist das europäische Patriarchat aus biegsamem Rohr geflochten. Und da ist etwas anderes, nämlich die Frage, inwieweit man unser europäisches Modell der Überwindung solcher Strukturen – individuelle Rechte und Freiheiten, Selbstverwirklichung – außerhalb der westlich-europäischen Gesellschaften schließlich rezipiert.

Eins steht außer Frage. Die Globalisierung hat........

© Berliner Zeitung


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