Der Eindruck festigt sich: Die Ukraine schafft es nicht, ihr gesamtes Territorium zu befreien. Auch die Lieferung der weittragenden Taurus-Raketen, so ein ehemaliger US-Präsidentenberater, würde daran nichts ändern.

Die Ukrainer besäßen dann zwar eine Ressource, um den Gegner in seinem Aufmarschgebiet empfindlich zu treffen – allerdings verbunden mit dem Risiko (aus westlicher Sicht) eines Kiewer Verzweiflungsschlags gegen Moskau oder ein anderes Ziel weit im russischen Hinterland. Vor diese Wahl gestellt entscheidet der Westen frei nach Wladimir Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Auch das 61-Milliarden-Dollar-Paket aus Washington würde den Sieg nicht herbeizaubern. Dabei ist es nicht endgültig vom Tisch. Der Senat hat Mitte Februar zugestimmt, und im Repräsentantenhaus diskutieren Republikaner und Demokraten eine Kompromissvorlage. So könnten die Demokraten sich zu weitgehenden Zugeständnissen bei der Grenzsicherung im Süden der USA bereit erklären. Gleichzeitig sinkt unter den pro-ukrainischen Abgeordneten die Zahl derjenigen, die zugleich für eine Fortführung des israelischen Kriegs im Gazastreifen sind. Das Paket bündelt aber Militärhilfen für beide Länder. Das Schicksal der 61 Milliarden ist also offen.

Man muss momentan davon ausgehen, dass die Amerikaner sich in beiden Kriegen neu positionieren. Dass ihre kriegführenden Verbündeten Ukraine und Israel vor den Präsidentschaftswahlen am 5. November glatte Siege einfahren, wird von Monat zu Monat unwahrscheinlicher. Allem Anschein nach hat Benjamin Netanjahu die Hamas ähnlich unterschätzt wie Wladimir Putin vor zwei Jahren die Ukraine.

Joe Biden hat Netanjahu im Oktober vertraut und sich rückhaltlos hinter seinen Krieg gegen die Hamas gestellt. Monate später muss er mit ansehen, wie dieser Krieg eine inzwischen ungeheure – und täglich wachsende – Zahl ziviler palästinensischer Opfer im Gazastreifen fordert. Die USA zahlen für ihre Unterstützung mit einem enormen Verlust an politischem und moralischem Kapital – desselben Kapitals, mit dem Washington seit zwei Jahren versucht, den globalen Süden in eine solidarische Phalanx gegen Russland zu bewegen.

09.03.2024

•vor 3 Std.

•gestern

08.03.2024

•heute

In der Ukraine liegen die Dinge anders. Um die festgefressene Front aufzurollen, bräuchte es eine mehrfache Überlegenheit an Menschen und Material. Oder als Plan B den Willen, den Krieg über mindestens zwei bis drei Jahre am Laufen zu halten – mit allen Unwägbarkeiten, nicht zuletzt einem ständigen Eskalationsrisiko.

Mit den Wahlen im November ist Plan B hinfällig. Obendrein genießt der Nahe Osten unter jedem denkbaren US-Präsidenten Priorität. Dort lässt sich eine Eskalation noch weniger ausschließen, dort sind die Risiken noch deutlich größer.

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vor 4 Std.

Islamforscher El-Maazouz: In zehn Jahren gibt es in Frankreich Bürgerkrieg

gestern

Vor allem haben die USA ihr Ziel in Osteuropa de facto erreicht: Russland ist geschwächt, und auf absehbare Zeit kehrt die Ukraine nicht in den russischen Orbit zurück. Der Schönheitsfleck ist, dass sie knapp ein Fünftel ihres Territoriums derzeit nicht zurückerobern kann. Dem steht auf der Habenseite entgegen, dass die europäischen Führungen bereit und willig sind, die Restukraine – immer noch das flächenmäßig größte Land in Europa – in die Nato und die EU zu integrieren.

Im Moment ist die Lage sogar besonders vorteilhaft. In Polen stehen Atlantiker am Ruder, die italienische Ministerpräsidentin agiert angepasst, und in Frankreich und Deutschland sind die Rechtspopulisten, immer mögliche Störenfriede, noch weit von der Macht. In wenigen Jahren mag das anders aussehen – aus Washingtoner Sicht lauter gute Gründe, den Ukrainekonflikt trotz des besagten Schönheitsflecks noch 2024 ad acta zu legen.

Warum dann aber das Gepluster des französischen Hahns, warum Macrons plötzliches Säbelrasseln? Der Präsident erkennt die Gunst der Stunde. Gerade weil momentan kein großer Krieg droht, wirft er sich in Positur. Ein Dienst unter Freunden: Die Amerikaner wollen sich verabschieden (früher hätte man „auf Französisch“ gesagt). Und im Wissen um ein Europa, das über eigene Truppen für die Ukraine nachdenkt, fällt das Sich-Verabschieden viel leichter.

Das ist aber nicht der einzige Grund. Zeitenwende bedeutet auch eine Neuordnung der europäischen Verhältnisse. Seit langem wirbt Macron für seine Vision: die strategische Autonomie der Europäer. Viel Zeit hat er nicht mehr, nur noch drei Präsidentenjahre. Mit den Deutschen will es nicht klappen, das galt unter Merkel und das gilt unter Scholz. Beiden Kanzlern fehlte bzw. fehlt der Mut, bei Macrons großem Wurf dabei zu sein. Vielleicht fehlt den Deutschen auch der Ehrgeiz, oder die imperiale Nostalgie, oder das güldene Gepränge einer Grande Nation.

Doch ohne Verbündeten geht es nicht. Seit den großen Dynastien ist Staatskunst in Europa mit Achsen verbunden. Anderes ist unvorstellbar auf dem Kontinent der vielen Gewichte, der großen und der kleinen. Dass es zu Wiederholungen kommt, liegt in der Natur der Sache. Macrons Achsenpartner sind die Polen, deren neu-alter Außenminister Radosław Sikorski die Initiative des Franzosen ausdrücklich begrüßt. „Die Präsenz von Nato-Kräften in der Ukraine ist nicht undenkbar“, schrieb er am vergangenen Freitag auf X, vormals Twitter. Putin solle Angst haben – „nicht wir vor Putin“.

Polens Außenminister: Soldaten aus Nato-Ländern sind bereits in der Ukraine

•gestern

Deutschland zwischen Frankreich und Polen, das klingt wie ein Déjà-vu. Allerdings ist diese Entente nur mittelbar, gewissermaßen psychologisch, gegen Deutschland gerichtet. Unmittelbar geht es gegen Russland. Nur wie soll das Bangemachen funktionieren mit einem kriegsunlustigen Deutschland in der Mitte? Auch dafür bietet sich eine Lösung an. Die Bundesrepublik übernimmt die Rolle von Dr. Dolittles Stoßmich-Ziehdich, oder besser des Leibes dieses sagenhaften Wesens. Die beiden Köpfe sind mit Paris und Warschau ja schon personifiziert; damit sie agieren können, muss jedoch ein Leib sie verbinden.

Das Fabelwesen vermittelt eine bildhafte Vorstellung von europäischer Autonomie und deutscher Teilhabe. Mehr Köpfe als Leiber, ein Sinnbild Europas im 21. Jahrhundert. Das europäische Stoßmich-Ziehdich ist sogar multivektoral aufgestellt; Afrika und das Mittelmeer sind ebenso im Blick wie der große Antagonist im Osten. Und ob der russische Präsident Putin vor ihm Angst haben wird, ist irrelevant. Mit Nato-Europa wird er sowieso keinen Krieg beginnen. Das walte Artikel 5.

QOSHE - Nato-Truppen für die Ukraine? So üben Paris und Warschau strategische Autonomie - Thomas Fasbender
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Nato-Truppen für die Ukraine? So üben Paris und Warschau strategische Autonomie

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11.03.2024

Der Eindruck festigt sich: Die Ukraine schafft es nicht, ihr gesamtes Territorium zu befreien. Auch die Lieferung der weittragenden Taurus-Raketen, so ein ehemaliger US-Präsidentenberater, würde daran nichts ändern.

Die Ukrainer besäßen dann zwar eine Ressource, um den Gegner in seinem Aufmarschgebiet empfindlich zu treffen – allerdings verbunden mit dem Risiko (aus westlicher Sicht) eines Kiewer Verzweiflungsschlags gegen Moskau oder ein anderes Ziel weit im russischen Hinterland. Vor diese Wahl gestellt entscheidet der Westen frei nach Wladimir Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Auch das 61-Milliarden-Dollar-Paket aus Washington würde den Sieg nicht herbeizaubern. Dabei ist es nicht endgültig vom Tisch. Der Senat hat Mitte Februar zugestimmt, und im Repräsentantenhaus diskutieren Republikaner und Demokraten eine Kompromissvorlage. So könnten die Demokraten sich zu weitgehenden Zugeständnissen bei der Grenzsicherung im Süden der USA bereit erklären. Gleichzeitig sinkt unter den pro-ukrainischen Abgeordneten die Zahl derjenigen, die zugleich für eine Fortführung des israelischen Kriegs im Gazastreifen sind. Das Paket bündelt aber Militärhilfen für beide Länder. Das Schicksal der 61 Milliarden ist also offen.

Man muss momentan davon ausgehen, dass die Amerikaner sich in beiden Kriegen neu positionieren. Dass ihre kriegführenden Verbündeten Ukraine und Israel vor den Präsidentschaftswahlen am 5. November glatte Siege einfahren, wird von Monat zu Monat unwahrscheinlicher. Allem Anschein nach hat Benjamin Netanjahu die Hamas ähnlich unterschätzt wie Wladimir Putin vor zwei Jahren die........

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