Nach rund 780 Kriegstagen ist es an der Zeit, dem Geschehen in der Ostukraine mit Wirklichkeitssinn zu begegnen. Seit Spätherbst 2022, also seit eineinhalb Jahren, gibt es kaum Bewegung entlang der über tausend Kilometer langen Front. Nach der großteils gescheiterten russischen Invasion und zwei ukrainischen Gegenoffensiven in den ersten Kriegsmonaten reiben sich beide Armeen im Stellungskrieg auf.

Keine der Kriegsparteien, da sind sich die Experten einig, verfügt über die Ressourcen, um raumgreifende Offensiven erfolgreich umzusetzen. Die Befreiung der durch Russland annektierten (und größtenteils besetzten) ostukrainischen Oblaste durch die ukrainische Armee ist genauso illusorisch wie ein erfolgreicher russischer Vorstoß auf Kiew.

Für die erfolgreiche Umsetzung einer solchen Operation, egal durch welche Seite, wären mehrere hunderttausend erfahrene Soldaten plus Ausrüstung, Waffen, Fahrzeuge und Munition unabdingbar. Das gilt auch im Fall der angeblich für Mai oder Juni geplanten Umzingelung der ostukrainischen Großstadt Charkiw durch die russische Armee. Die derzeit beidseits der Front stationierten vielleicht 700.000, jedenfalls nicht mehr als 800.000 Mann geben derartige Ressourcen nicht her.

Theoretisch können beide Seiten neue Wellen der Mobilmachung starten. Das behebt jedoch nicht den – ebenfalls beidseitigen – Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und Munition. Selbst wenn man die gesamte europäische Industrie auf Kriegswirtschaft umstellte und en masse Waffen produzieren ließe – die großflächige Vertreibung der Russen aus der Ostukraine (und von der Krim!) vor 2026/27 wäre irreal. Nicht zu vergessen: Im Zweiten Weltkrieg erreichte die deutsche Rüstungsproduktion erst 1944, also im fünften Kriegsjahr, ihren Höchststand – trotz jahrelanger Ausrichtung aller Facetten der Volkswirtschaft auf das Endsieg-Ziel.

12.04.2024

gestern

•gestern

Trotz knapper Bestände: Deutschland liefert weiteres Patriot-System an Ukraine

•gestern

Angeblicher Putin-Plan: Marschiert die russische Armee auf Charkiw?

05.04.2024

Hinzu kommt noch etwas, und zwar die Rückkehr des Stellungskriegs als Folge des technischen Fortschritts. Zu Lande, zu Wasser und in der Luft ist die Dynamik der beweglichen Kriegsführung gebrochen. Die Macht frontbrechender Panzerspitzen und Sturzkampfbomber, Landungsoperationen wie 1943/44 auf Sizilien und in der Normandie, in Vietnam die Truppentransporte per Helikopter-Shuttle – alles heute undenkbar.

Moderne Fire-and-Forget-Abwehrwaffen wie die amerikanischen Javelin vernichten Panzer und Hubschrauber, und zwar gleichermaßen kostengünstig wie effektiv. Patriot-Flugabwehrraketen holen Kampfflugzeuge, Raketen und Marschflugkörper vom Himmel. Weite Teile des Schwarzen Meers wurden seit dem erfolgreichen Einsatz ukrainischer Schwimmdrohnen, jeweils mit einigen hundert Kilogramm Sprengstoff beladen, für die russische Marine zu No-go-Areas.

In der Kriegskunst ist eine neue Ära angebrochen; Masse und Erfolg stehen nicht mehr im gewohnten Verhältnis. Waffenlieferungen an die Kriegsparteien steigern die Intensität des Tötens, haben aber kaum mehr Einfluss auf den Frontverlauf. Die vieldiskutierten Taurus-Marschflugkörper würden der Ukraine Angriffe weit hinter der Grenze auf russisches Territorium ermöglichen, bis hin zur Zerstörung des Moskauer Kremls, würden aber weder die russische Befehlsstruktur noch den russischen Nachschub lahmlegen.

Selbstverständlich bleibt die Fortführung des Krieges eine Option, ähnlich wie vor 110 Jahren, als die Westfront trotz des millionenfachen Sterbens fast vier Jahre lang nicht von der Stelle kam. Aber wird Russland am Ende ähnlich zu Boden gehen, ökonomisch und mental ausgelaugt, wie im Herbst 1918 das Deutsche Reich? Und selbst wenn das 40-Millionen-Volk der Ukrainer eine ganze Generation junger Männer opfert – wird ganz Westeuropa sich deshalb zur Kriegsschmiede wandeln?

Drohender Krieg zwischen Iran und Israel: Containerschiff im Golf von Oman attackiert

gestern

Klima, Fleisch und Frieden: Bundeskanzler Olaf Scholz beginnt heute dreitägige Chinareise

gestern

Hinzu kommt, dass es dem Westen nicht gelungen ist, große Schwellenländer wie die Brics (ohne Russland) auf seine Seite zu ziehen. Aus verschiedenen Gründen will der Nicht-Westen in der Ukraine keinen westlichen Sieg – verstanden als die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 und damit der völkerrechtlichen Ordnung in Europa. Rivalitäten, alte Rechnungen und Ressentiments: Es gibt viele Erklärungen dafür.

Die Ukraine und ihre Unterstützer haben die Wahl: Sie können auf die (immer unwahrscheinlicher werdende) Wiederherstellung der alten Ordnung setzen und jahrelang weiterkämpfen – oder die alte Ordnung auf dem Weg zu einer neuen überwinden. Für die Verfechter der alten Ordnung (der Stärke des Rechts) sind solche Worte Ketzerei: Alles unterhalb eines ukrainischen Siegs würde den Aggressor belohnen, argumentieren sie, wäre also ein Kniefall vor dem Recht des Stärkeren.

Vom Ansatz her ist das korrekt. Die Verfechter der Stärke des Rechts übersehen nur, dass diese nicht im Recht selbst liegt. Das Recht beweist seine Stärke, indem ein Starker es erfolgreich verteidigt. Das gilt innerhalb der Staaten wie in ihrem Verhältnis untereinander; es gehört zum Wesen des Staats, dass er sein Recht durchsetzen kann.

Nun wird argumentiert, die moderne Menschheit verfüge über Instrumente, die das Spannungsverhältnis von Ordnung und Macht (Recht und Stärke) zugunsten einer objektivierten Vernunft aufbrechen: universale Rechte, Konventionen und Chartas, multilaterale Strukturen und dergleichen mehr. Doch das ist nur der Versuch, eine gegenwärtige Ordnung als zeitlos auszugeben. Die Wahrheit ist: Die Vorstellung legitimer Macht- oder Rechtsansprüche ist dieselbe wie zu Beginn der Zivilisation vor 5000 Jahren. Legitim ist, was authentisch und nach den je gegenwärtigen Vorstellungen gerecht und richtig erscheint. Somit gibt es auch keine ewigen Ordnungen – nur gegenwärtige und vergangene.

Dem ukrainischen Außenminister fehlt die Melnyk-Diplomatie: Wie verzweifelt ist er?

12.04.2024

Scholz in China – Experte: Peking vernimmt „chaotische Stimmen“ aus deutscher Regierung

gestern

An dieser Stelle kommen Pragmatismus und Realismus ins Spiel. Die ersten Anzeichen für einen Kurswechsel in der Ukraine-Frage kamen zum Jahresende 2023 aus den USA. Damals berichtete die über jede Russlandnähe erhabene Zeitung Politico: Die Biden-Administration plane weniger einen ukrainischen Sieg als eine möglichst starke Kiewer Ausgangsposition für Friedensverhandlungen. Wörtlich hieß es, solche Verhandlungen würden wahrscheinlich die Abtretung von Teilen der Ukraine an Russland bedeuten.

Seither gewinnt das Thema an Momentum. Die Brics-Staaten Südafrika und Brasilien positionieren sich. Auch China ist engagiert; schon ist die Rede von einer neuen sino-amerikanischen Rivalität: Wer bringt der Ukraine Frieden? Binnen weniger Tage reisen die amerikanische Finanzministerin, der russische Außenminister und der deutsche Bundeskanzler nach Peking. In derselben Woche kündet die Schweizer Regierung eine Friedenskonferenz in Bern für Mitte Juni an. Russland wird dort nicht dabei sein, könnte sich aber durch China inoffiziell vertreten lassen. Für Moskau kein risikoloses Spiel; mit jedem Schritt geraten die Russen tiefer in die Pekinger Abhängigkeit.

Welche Möglichkeiten einer beidseits gesichtswahrenden Lösung jenseits von Krieg und Sieg gibt es? Eine propagiert der dänische Ex-Nato-Chef Anders Fogh Rasmussen: Einfrieren der Kriegshandlungen und Nato-Beitritt der nichtbesetzten Ukraine. Fraglich ist, ob Russland da mitspielt – eine mögliche Variante wären bilaterale Beistandsgarantien.

Kriegsrhetorik: Belarus und Polen sprechen von „Vorkriegszeit“

11.04.2024

Schweiz: Termin für Ukraine-Friedenskonferenz ohne Russland steht fest

11.04.2024

Das völkerrechtliche Schicksal der Ostukraine steht jedenfalls in den Sternen. Der Westen wird die Zugehörigkeit zu Russland nicht anerkennen – er hatte auch das Baltikum als Teil der Sowjetunion nie anerkannt. Russland wiederum wird keiner UN-Verwaltung zustimmen, möglicherweise aber Volksbefragungen nach einigen Jahren.

Ähnliches gilt für die Krim. Eine Variante: Um die eingefrorenen 300 russischen Zentralbank-Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen, könnte Russland sie als Kaufpreis für die Halbinsel zahlen. Für Moskau wäre es ein ähnlich teures Geschäft wie 1867 der Verkauf Alaskas für nur 7,2 Millionen Dollar an die Amerikaner – doch am Ende siegt immer die Kreativität.

Fragt sich, warum solch konstruktive Fantasie in Deutschland Seltenheitswert hat. Stattdessen reproduziert man die immer gleichen, gestanzten Formeln: „Russland darf nicht gewinnen. Die Ukraine darf nicht verlieren.“ Darf. Muss. Als ob Deutschland mitzureden hätte. Interessiert man sich überhaupt noch für die Realität? Warum wird nicht offen debattiert, dass Zeitenwende auch den Abschied von alten und die Suche nach neuen Ordnungen bedeuten kann – wenn das Recht seine Stärke verliert? Oder glaubt wirklich jemand, unsere Ordnungs- und Wertvorstellungen hätten ewigen Bestand?

QOSHE - Höchste Zeit, dem Ukraine-Krieg mit Realismus zu begegnen - Thomas Fasbender
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Höchste Zeit, dem Ukraine-Krieg mit Realismus zu begegnen

18 17
14.04.2024

Nach rund 780 Kriegstagen ist es an der Zeit, dem Geschehen in der Ostukraine mit Wirklichkeitssinn zu begegnen. Seit Spätherbst 2022, also seit eineinhalb Jahren, gibt es kaum Bewegung entlang der über tausend Kilometer langen Front. Nach der großteils gescheiterten russischen Invasion und zwei ukrainischen Gegenoffensiven in den ersten Kriegsmonaten reiben sich beide Armeen im Stellungskrieg auf.

Keine der Kriegsparteien, da sind sich die Experten einig, verfügt über die Ressourcen, um raumgreifende Offensiven erfolgreich umzusetzen. Die Befreiung der durch Russland annektierten (und größtenteils besetzten) ostukrainischen Oblaste durch die ukrainische Armee ist genauso illusorisch wie ein erfolgreicher russischer Vorstoß auf Kiew.

Für die erfolgreiche Umsetzung einer solchen Operation, egal durch welche Seite, wären mehrere hunderttausend erfahrene Soldaten plus Ausrüstung, Waffen, Fahrzeuge und Munition unabdingbar. Das gilt auch im Fall der angeblich für Mai oder Juni geplanten Umzingelung der ostukrainischen Großstadt Charkiw durch die russische Armee. Die derzeit beidseits der Front stationierten vielleicht 700.000, jedenfalls nicht mehr als 800.000 Mann geben derartige Ressourcen nicht her.

Theoretisch können beide Seiten neue Wellen der Mobilmachung starten. Das behebt jedoch nicht den – ebenfalls beidseitigen – Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und Munition. Selbst wenn man die gesamte europäische Industrie auf Kriegswirtschaft umstellte und en masse Waffen produzieren ließe – die großflächige Vertreibung der Russen aus der Ostukraine (und von der Krim!) vor 2026/27 wäre irreal. Nicht zu vergessen: Im Zweiten Weltkrieg erreichte die deutsche Rüstungsproduktion erst 1944, also im fünften Kriegsjahr, ihren Höchststand – trotz jahrelanger Ausrichtung aller Facetten der Volkswirtschaft auf das Endsieg-Ziel.

12.04.2024

gestern

•gestern

Trotz knapper Bestände: Deutschland liefert weiteres Patriot-System an Ukraine

•gestern

Angeblicher Putin-Plan: Marschiert die russische Armee auf Charkiw?

05.04.2024

Hinzu kommt noch etwas, und zwar die Rückkehr des Stellungskriegs als Folge des technischen Fortschritts. Zu Lande, zu Wasser und in der Luft ist die Dynamik der beweglichen Kriegsführung gebrochen. Die Macht........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play