Deutschland und Frankreich, das bleibt eine europäische Schicksalsgemeinschaft – künftig allerdings nicht mehr im Zeichen wachsenden, sondern schwindenden Einflusses. Schon 2009 schrieb der amerikanische Geostratege George Friedman in „Die nächsten 100 Jahre“ vom bevorstehenden Machtverlust beider Länder. Er prophezeite auch die Abwendung Großbritanniens vom Kontinent.

Beide Nationen, Deutschland und Frankreich, stehen vor massiven inneren Herausforderungen: Deindustrialisierung und Stagnation, die rapide Alterung der ansässigen Bevölkerung und die wachsende nichteuropäische Zuwanderung. In der Folge richtet sich das Augenmerk mehr und mehr nach innen; die Verluste an Wohlstand und gesellschaftlicher Homogenität zehren am politischen und wirtschaftlichen Kapital.

Die nagende Schwächung ist den politischen Eliten bewusst, und das beiderseits des Rheins. Treu der herrschenden Mentalität reagiert man in Paris und Berlin auf je eigene Weise – strategisch offensiv die historisch selbstbewussteren Franzosen, strategisch defensiv die historisch eingeschüchterten Deutschen. Emmanuel Macron, der immer noch jung-dynamische französische Präsident, fordert strategische Autonomie für Europa (ohne sie im Detail auszubuchstabieren). Die kollektive Führung in Berlin, wo kein Amt mit vergleichbarer Machtfülle existiert, sucht den Schulterschluss mit der westlichen Führungsmacht (ohne dessen Auswirkungen auf die eigene Handlungsfähigkeit zu bedenken).

Doch die unterschiedlichen Reaktionen erklären nicht das Stottern der deutsch-französischen Europa-Lokomotive. Die rostet seit vielen Jahren. In der „alten“ EU vor der Osterweiterung bildeten Deutschland und Frankreich das Scharnier zwischen Europa-Nord und Europa-Süd. Es gab keinen Osten (der war bis um 1990 Feind) und keine gemeinsame Währung. Das Bindeglied und auch die Ur-Motivation der westeuropäischen Einigung war die Überwindung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“. Sie war der Humus für die emotionale Fraternisierung der Staatschefs de Gaulle und Adenauer, später Kohl und Mitterrand. Deren symbolisches Zusammentreffen vor 40 Jahren, Hand in Hand über den Schützengräben von Verdun, ist seither ein Mem für die brüderliche Versöhnung der so verschiedenen Erben des einen, gallo-fränkischen Karolingerreichs.

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Die 1957 gegründete EWG, Vorläuferin der Europäischen Union, war geografisch noch so gut wie karolingisch – nur Österreich fehlte. Heute reicht Europa von Finnland bis zum Schwarzen Meer. Im Osten gewinnt Polen an Stärke und Selbstbewusstsein; nie wieder wird es sich von den Nachbarmächten wie von Mühlsteinen zermalmen lassen. Auf den Kontinenten und Weltmeeren bröckelt die Autorität der USA; im Pazifik (und nicht nur dort) stecken Chinesen und Amerikaner schon jetzt ihre künftigen Schlachtfelder ab.

George Friedman sagte 2009 noch etwas anderes voraus: eine spürbare Machtverschiebung in Europa Richtung Osten. Er prophezeite auch, damals geradezu unvorstellbar, für die 2020er eine empfindliche militärische Niederlage oder wenigstens Schwächung Russlands.

Emmanuel Macron in Berlin: Hinter den Kulissen schwelt der Streit über die Ausrichtung der EU

26.05.2024

Deutschland oder Frankreich: Wer gibt künftig in Europa den Ton an?

04.05.2024

15 Jahre nach seiner Prognose wird die Zukunft in Umrissen deutlich. Noch ist die militärische Befreiung des besetzten ukrainischen Territoriums (oder ein Rückzug der Russen) nicht ausgeschlossen – auch wenn eine Verhandlungslösung mit Abtrennung der Ostukraine und der Krim derzeit wahrscheinlicher ist. In jedem Fall bleibt die Ukraine, oder die Rest-Ukraine, im westlichen Lager. Der wirtschaftliche Wiederaufbau fällt weithin den Europäern anheim, militärisch-strategisch bleiben die USA engagiert. Ihre primären Partner werden Polen und Balten sein. Die US-Macht wird künftig bilateral via Ostmitteleuropa projiziert; Brüssel, Paris und Berlin geraten zum Hinterland.

Selbst die europäischen Rechtskonservativen (noch nicht die AfD) haben begriffen, dass es zum atlantischen Europa keine machbare Alternative gibt. Die viel zitierte „Melonisierung“ der französischen und anderer Rechtsparteien belegt diesen Kurs: gesellschaftspolitisch konservativ, in Migrationsfragen latent autoritär, im Übrigen pro USA und gegen Russland. Die europäische Parteienlandschaft außerhalb Deutschlands entwickelt sich spiegelbildlich zu den USA, Trumpianer gegen Demokraten; die transatlantische Ausrichtung bleibt.

Und Deutschland? Und Frankreich? Der gallische Traum von europäischer Autonomie unter französischer Führung bleibt – ein Traum. Und der deutsche Traum vom geopolitischen Verschwinden unter dem Rockschoß der USA? Man kann nur hoffen, dass die Berliner Politiker nicht erst dann erwachen, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten im Auftrag der USA vor Taiwan Freiheit und Demokratie verteidigen. Es wäre schade um die Toten.

QOSHE - Deutschland und Frankreich: Schicksalsgemeinschaft im Zeichen schwindender Macht - Thomas Fasbender
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Deutschland und Frankreich: Schicksalsgemeinschaft im Zeichen schwindender Macht

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28.05.2024

Deutschland und Frankreich, das bleibt eine europäische Schicksalsgemeinschaft – künftig allerdings nicht mehr im Zeichen wachsenden, sondern schwindenden Einflusses. Schon 2009 schrieb der amerikanische Geostratege George Friedman in „Die nächsten 100 Jahre“ vom bevorstehenden Machtverlust beider Länder. Er prophezeite auch die Abwendung Großbritanniens vom Kontinent.

Beide Nationen, Deutschland und Frankreich, stehen vor massiven inneren Herausforderungen: Deindustrialisierung und Stagnation, die rapide Alterung der ansässigen Bevölkerung und die wachsende nichteuropäische Zuwanderung. In der Folge richtet sich das Augenmerk mehr und mehr nach innen; die Verluste an Wohlstand und gesellschaftlicher Homogenität zehren am politischen und wirtschaftlichen Kapital.

Die nagende Schwächung ist den politischen Eliten bewusst, und das beiderseits des Rheins. Treu der herrschenden Mentalität reagiert man in Paris und Berlin auf je eigene Weise – strategisch offensiv die historisch selbstbewussteren Franzosen, strategisch defensiv die historisch eingeschüchterten Deutschen. Emmanuel Macron, der immer noch jung-dynamische französische Präsident, fordert strategische Autonomie für Europa (ohne sie im Detail........

© Berliner Zeitung


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