Die für Deutschland beste Lösung hat der Bundeskanzler in Worte gefasst: Nach dem iranischen Drohnen- und Raketenangriff am Wochenende möge Israel seinen Erfolg „nicht verschenken“. Anders als der israelische Krieg im Gazastreifen wäre ein Vergeltungsschlag gegen den Iran nicht von der moralischen Entrüstung gedeckt, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober zu Recht ausgelöst hat.

Damit wäre zugleich die von Deutschland erwartete (und zu erwartende) Parteinahme zugunsten Israels problematischer zu rechtfertigen als im Gazakrieg. Zum einen fehlte dem iranischen Angriff die barbarische Qualität: Tötungswahn, Blutgier und schreiende Mordlust. Ein Mädchen wurde verletzt, traurig genug, aber keine 1200 Menschen gemeuchelt, geschändet oder entführt. Zum anderen existierte ein konkreter Auslöser: der mutmaßlich israelische Luftangriff auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus sechs Tage zuvor, am 1. April. Sieben Offiziere der iranischen Revolutionsgarde (IRGC) fanden dabei den Tod, darunter zwei Generäle.

Die Operation erinnerte an die Liquidierung des IRGC-Generals Quasim Soleimani Anfang Januar 2020 durch eine amerikanische Drohne in Bagdad. Fünf Tage später folgte ein iranischer Gegenschlag mit ballistischen Raketen gegen US-Militärbasen im Irak. Auch damals gab es allenfalls Verletzte.

Das Muster war also bekannt; Attentate gegen Führungspersonen werden mit kalkulierten Militärschlägen vergolten. Das israelische Kriegskabinett – weiter unten in der Hierarchie werden solche Entscheidungen nicht gefällt – wusste um die Folgen, als es den Angriff auf die iranische Botschaft befahl.

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Hinzu kommt, dass im Fall Soleimani sowohl das Attentat als auch der Vergeltungsschlag im Irak stattfanden, nicht auf iranischem Territorium. Dagegen rührte der Botschaftsangriff an den Sonderstatus diplomatischer Vertretungen – auch wenn Botschaften keine Exterritorialität genießen. Es war absehbar, dass Teheran die Attacke als Angriff gegen den iranischen Staat wahrnahm.

So weit, so eindeutig. Wo der Rechtssatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ historisch und kulturell verwurzelt ist, steht jede Entscheidung, jede Handlung und jede Tat im Kontext von Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur Iraner und Israelis, jeder in der Region weiß, dass die eine Tat zum Auslöser der nächsten wird, der dann eine weitere folgt und so fort.

Solcher Kontext kompliziert jedoch die moralischen Zuordnungen, die wir Deutsche so lieben, allen voran die Kriterien „gut“ und „böse“. Israel ist per definitionem gut, das ergibt sich aus unserer Staatsräson – anders würden wir ja die Existenz des Bösen verteidigen. Und wer Israel der – mittelbaren oder unmittelbaren, impliziten oder expliziten – Teilhabe an einer bösen Tat beschuldigt, ist zumindest ein … Sie wissen schon.

Das vertrackte deutsche Verhältnis zur israelischen Schuldfähigkeit erfuhr am Sonntag die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Aydan Özoğuz (SPD), am eigenen Leib. Bislang kannte die Politikerin vornehmlich den Sturm von rechts; im Bundestagswahlkampf 2017 hatte der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland angekündigt, man werde die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, „Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können“.

Iran und Israel nach Direktschlag am Rande des Abgrunds

14.04.2024

Nach Angriff auf Israel: Neue EU-Sanktionen für den Iran?

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Am Sonntag kam der Sturm auch aus der Mitte. Als die iranischen Drohnen noch unterwegs waren, hatte Özoğuz auf X, vormals Twitter, gepostet: „Warum musste diese Situation noch provoziert werden? Bombardierung der iranischen Botschaft hat Nahost weiter gefährdet.“ Eine berechtigte Frage. Wie oben dargelegt, muss allen Beteiligten klar gewesen sein, dass der israelische Angriff nicht folgenlos bleiben wird. Doch schon der Ansatz einer analytischen Kausalkette ist tabu, wenn ein Schatten davon auf Israel fällt.

Das Keulen-Argument war rasch zur Hand. „Ist Ihnen klar, welches alte antisemitische Narrativ Sie hier bedienen? ‚Die Juden sind selbst schuld.‘“, zitierte die Bild-Zeitung den Berliner Soziologie-Professor Stefan Liebig. Özoğuz ist also auch eine … Sie wissen schon.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer fand ihren Tweet ebenfalls „schäbig“: „Das fällt Frau Özoğuz ein, wenn der Iran einen unserer engsten Verbündeten Israel angreift.“ Dabei sind Israel und Deutschland gar keine Verbündeten. Laut Webseite des Auswärtigen Amts ist das „einzigartige Verhältnis“ der beiden Länder begründet durch „die Verantwortung Deutschlands für die Shoah, dem systematischen Völkermord an etwa sechs Millionen Juden Europas in der Zeit des Nationalsozialismus“.

Die Bedeutung des Kontexts zeigt sich an Özoğuz’ Tweet, wenn man ihn in voller Länge liest: „Zu viel Kriege, zu viele Menschenleben gefährdet, Geiseln nicht befreit, Menschen in Hungerkatastrophe. Mache mir um alle Menschen Sorge in #Ukraine #Israel #Gaza. Warum musste diese Situation noch provoziert werden? Bombardierung der iranischen Botschaft hat Nahost weiter gefährdet.“

Die Drohnen waren noch in der Luft, als sie den Post absandte. Den vielleicht entlarvendsten Kommentar kann man in der Welt lesen. Ihre einleitenden Worte – „Mache mir um alle Menschen Sorge in #Ukraine #Israel #Gaza“ – werden dort als „eher befindlichkeitsfixierte Einordnung“ abgetan. Was für eine atemberaubende Empathiefreiheit! Zehntausende sind bereits gestorben, Zehntausende werden noch sterben, und der schneidige Kommentator nennt Özoğuz’ Sorge „befindlichkeitsfixiert“. Was will er uns damit sagen? Wo gehobelt wird, da fallen Späne? Hunde, wollt ihr ewig leben?

Aydan Özoğuz hat ihren Tweet gelöscht. War der Hamburgerin nicht bewusst, mit welcher Kaltschnäuzigkeit hierzulande Solidarität eingefordert wird? Der Grüne Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, antwortete ihr: „Israel wird fast täglich von der Hisbollah angegriffen. Israel wurde heute Nacht vom Iran angegriffen. Und Sie meinten, Israel habe provoziert? Hatten Ihre Brüder Ihren Account gehackt?“

Das war nun unter der Gürtellinie (Özoğuz’ Brüdern wird Nähe zum Islamismus vorgeworfen). Aber wo tritt man nicht überall hin, wenn ein Tabu in Gefahr gerät? Das Tabu liegt offen zutage: Israel darf kein normaler Staat sein. Als solcher würde Israel provozieren und sich provozieren lassen, angreifen und sich verteidigen – wie jeder andere Staat in einer uralten Konfliktregion.

Die ganze Welt nimmt Israel so wahr: als ein Land unter vielen, eingebettet in tausend Kausalzusammenhänge, getrieben von ähnlichen Interessen, Ängsten, Hoffnungen und Zielen wie andere auch. Nur wir Deutsche dürfen das nicht – jedenfalls wenn es nach einer öffentlich einflussreichen Fraktion geht. Zu der gehört die Bild-Zeitung, die Özoğuz’ Tweet mit den Worten abkanzelte, sie äußere „sich zum iranischen Raketen-Angriff auf Israel, aber NICHT, indem sie diesen verurteilte. Sondern: Israel die Schuld zuschob“.

Ein Unterstützer Irans: Warum Wladimir Putin von den Spannungen im Nahen Osten profitiert

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Iran überzieht Israel mit Großangriff: Es ist Zeit für Verhandlungen im Nahen Osten

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So sieht es aus: Wir Deutsche müssen verurteilen, wo andere erklären. Vielleicht sollten wir uns einfach eingestehen unfähig zu sein, die Vorgänge im Nahen Osten nüchtern und mit kühlem Verstand zu begreifen. Kein anderes Land der Welt leistet sich eine Diskussion darüber, ob der iranische Raketen- und Drohnenangriff provoziert war oder nicht. Unsere Unfähigkeit gründet darin, dass Israel – deutsche Staatsräson, geboren aus deutscher Schuld – für uns keine Realität ist, sondern ein Ideal. Ein Heiligtum, dem wir aus Abscheu vor unseren Verbrechen Opfer darbringen. Und dieses Heiligtum muss rein sein, unbefleckt, nur dann bannt es diese unsere Abscheu vor unserem unbewältigten Selbst.

Seit der Shoah sind fast 80 Jahre vergangen. Die deutsche Auseinandersetzung um die mehr als 30.000 toten Palästinenser im Gazakrieg zeigt, wie das Konstrukt des reinen Israels allmählich brüchig wird. Täter und Opfer … nach drei Generationen verschwimmen die Konturen. Selbst das Keulenargument greift nicht mehr; offensichtlich ist nicht jeder, der Israel kritisiert, ein … Sie wissen schon.

Umso mehr klammert das Juste Milieu der deutschen Mitte an den ererbten Sprach- und Denkregeln. Doch die Solidaritätsbekenntnisse zum jüdischen Staat wirken wie aus der Zeit gefallen. Erst kürzlich hat der indische Autor Pankaj Mishra dieses Unverständnis im Gespräch mit der Berliner Zeitung deutlich gemacht. Das heilige Bild eines unbefleckten Israels ist nicht aufrechtzuerhalten. Was als idealistisches Siedlerprojekt begann, ist heute ein Knotenpunkt in den Netzwerken regionaler Allianzen und Rivalitäten. Mit allem, was dazugehört, mit guten und mit bösen Taten. Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen.

QOSHE - Deutsche Befindlichkeiten: Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen - Thomas Fasbender
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Deutsche Befindlichkeiten: Es wird Zeit, Israel als Realität wahrzunehmen

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16.04.2024

Die für Deutschland beste Lösung hat der Bundeskanzler in Worte gefasst: Nach dem iranischen Drohnen- und Raketenangriff am Wochenende möge Israel seinen Erfolg „nicht verschenken“. Anders als der israelische Krieg im Gazastreifen wäre ein Vergeltungsschlag gegen den Iran nicht von der moralischen Entrüstung gedeckt, die das Hamas-Massaker am 7. Oktober zu Recht ausgelöst hat.

Damit wäre zugleich die von Deutschland erwartete (und zu erwartende) Parteinahme zugunsten Israels problematischer zu rechtfertigen als im Gazakrieg. Zum einen fehlte dem iranischen Angriff die barbarische Qualität: Tötungswahn, Blutgier und schreiende Mordlust. Ein Mädchen wurde verletzt, traurig genug, aber keine 1200 Menschen gemeuchelt, geschändet oder entführt. Zum anderen existierte ein konkreter Auslöser: der mutmaßlich israelische Luftangriff auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus sechs Tage zuvor, am 1. April. Sieben Offiziere der iranischen Revolutionsgarde (IRGC) fanden dabei den Tod, darunter zwei Generäle.

Die Operation erinnerte an die Liquidierung des IRGC-Generals Quasim Soleimani Anfang Januar 2020 durch eine amerikanische Drohne in Bagdad. Fünf Tage später folgte ein iranischer Gegenschlag mit ballistischen Raketen gegen US-Militärbasen im Irak. Auch damals gab es allenfalls Verletzte.

Das Muster war also bekannt; Attentate gegen Führungspersonen werden mit kalkulierten Militärschlägen vergolten. Das israelische Kriegskabinett – weiter unten in der Hierarchie werden solche Entscheidungen nicht gefällt – wusste um die Folgen, als es den Angriff auf die iranische Botschaft befahl.

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Hinzu kommt, dass im Fall Soleimani sowohl das Attentat als auch der Vergeltungsschlag im Irak stattfanden, nicht auf iranischem Territorium. Dagegen rührte der Botschaftsangriff an den Sonderstatus diplomatischer Vertretungen – auch wenn Botschaften keine Exterritorialität genießen. Es war absehbar, dass Teheran die Attacke als Angriff gegen den iranischen Staat wahrnahm.

So weit, so eindeutig. Wo der Rechtssatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ historisch und kulturell verwurzelt ist, steht jede Entscheidung, jede Handlung und jede Tat im Kontext von Vergangenheit und........

© Berliner Zeitung


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